Krebsstation

Krebsstation
Authors
Solschenizyn, Alexander
Publisher
Rowohlt Verlag
Tags
roman
ISBN
9783499113956
Date
1971-11-15T00:00:00+00:00
Size
0.52 MB
Lang
de
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Die Suche nach einem neuen Realismus in der Bundesrepublik kommt nicht von ungefähr. Doch noch immer nicht hat unsere Literatur die Arbeitswelt entdeckt, von der Welt der Arbeiter ganz zu schweigen - auch wenn die Kriegsliteratur den Arbeiter entfremdet, als Soldat, dargestellt hat. Wie heikel es ist, sich mit der Welt des Arbeiters zu beschäftigen, hat die schnöde Diskussion um Max von der Grün gezeigt, der plötzlich zwischen die beiden Blöcke geriet, die sich an Darstellungen der Arbeitswelt interessiert zeigen: zwischen Gewerkschaft und Industrie. Als dritten Block könnte man jene bezeichnen, die ihre eigene Welt lieber verfremdet — man kann auch sagen überhöht - dargestellt wissen wollen: die, die in ihr leben. Jahrzehntelang hat man im Westen (ich schließe mich in dieses »man« ein) den sozialistischen Realismus mit sanftem Spott bedacht. Die Rache hat schon angefangen, sie wird weitergehen. Was inzwischen an Autoren, Regisseuren, Grafikern aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien und der Sowjetunion hierzulande, begehrt ist, scheint zu beweisen, daß der sozialistische Realismus - und wenn auch nur als verhaßter dogmatischer Gegenpol - die Autoren dort, wo er regiert, nicht entmündigt hat. Einzig verwerflich erscheint am sozialistischen Realismus heute nur noch der ihm aufgezwungene doktrinär-dogmatische Optimismus, der nicht nur in etwa, sondern fast buchstäblich jenem Schrei nach der heilen Welt entspricht, der bei uns noch lange nicht verklungen ist. Und doch ist der Schrei nach der heilen Welt, nach christlicher Kunst und Literatur nur der verwandelte Wunsch nach dem griechischen Deus ex machina, der alle Probleme spielend und automatisch löst. In der christlichen Literatur nach Maß nahm dann (etwa bei Claudel) die Gnade die Rolle des Deus ex machina ein und wirkte meistens nur peinlich, so peinlich wie der zur Pflicht erklärte Schlußoptimismus beim sozialistischen Realismus administrierter Prägung. Der Westen, der sich unbeirrt weiter als »christlich« deklariert, wird seine Pleite nicht nur noch erleben, auch (was wichtiger ist) bald erkennen und zugeben müssen. Erst seit einer halben Generation hat er die Zeit seiner braven christlichen Literatur hinter sich, und es könnte sehr bald die Zeit kommen, wo man etwa Grass als großen »Abendländer« einzufangen versuchen wird.

Wahrscheinlich wird sich die Entwicklung von Kunst und Literatur in der Welt umkehren: der Westen, seiner »formalistischen« Spielereien müde, sucht einen neuen Realismus. Pop, Op und Happening sind Zwischenstationen, wo die ganze westliche Ästhetik, deren Wunschtraum immer noch das griechische Ideal ist, auf den Kopf gestellt wird; und das ist gut so: Zersetzung ist erste Künstler- und Schriftstellerpflicht. Auch der Osten wird die »formalistischen« Spielereien hinter sich bringen müssen, nichts wird ihm erspart bleiben (ein Künstler oder Schriftsteller, dem etwas erspart bleibt oder der sich etwas erspart, ist keiner), und er wird doch zu seiner großen, seiner wunderbar breiten Erzählweise realistischer Tradition zurückkehren. Es wird - hier wie dort - noch viel Hin-und-Her-Geplänkel geben. Jeder, jeder Staatsmann verlangt im Grunde seines Herzens nach der »heilen«, seine Politik bestätigenden Literatur, mag sie nun christlichabendländisch-gnadegeladen sein oder sozialistisch-realistisch; ein Realismus, der getrost kritisch bleiben darf, wenn er sich nur zum Ende hin zum Guten aufschwingt.

Solschenizyns »Krebsstation« könnte zu einem Bindeglied zwischen dem alten und einem erneuerten sozialistischen Realismus, könnte zum Vorbild für die im großen ganzen etwas kläglichen Versuche des neuen Realismus hier werden. Das Ärgernis, das manche westliche Autoren (und bald gewiß auch östliche) am Weiterleben des Romans nehmen, besteht ja nur im Mißverständnis ihrer eigenen Lage und Möglichkeit: daß sie Gedichte in Prosa schreiben, eine großartigkurzatmige Poesie der Situation.

Bei der Lektüre der »Krebsstation« darf kein Augenblick lang vergessen werden, daß der Roman ins Jahr 1955 placiert ist; zwei Jahre nach Stalins Tod, als die Zeit der Rehabilitierung, die Zeit der großen Hoffnung begann. Die beiden Hauptpersonen, gegeneinander gestellt, sind Rusanow und Kostoglotow. Der erstere ein per Natur und per Charakter opportunistischer Funktionär, Fragebogen- und Verhörspezialist, Denunziant auch, Privilegierter, der sich plötzlich - aus Not, da die Zeit drängt und der Weg nach Moskau weit ist - in ein ganz gewöhnliches Proleten-Krebskrankenhaus versetzt sieht. Was er weinerlich vermißt? Etwa seine Privattoilette (»Wenn ich wenigstens eine Einzeltoilette benutzen könnte! Ich leide! Was für eine Toilette das hier ist! Keine Trennwände, alles ist offen!«). Und als Anmerkung an dieses Gejammere in Klammern die Notiz des Autors: »Die Benutzung eines öffentlichen Bades und einer öffentlichen Toilette untergräbt unweigerlich die Autorität eines Funktionärs. An seinem Arbeitsplatz stand Rusanow eine Toilette zur Verfügung, die der Allgemeinheit nicht zugänglich war.« Schlimmer noch jammert er, der an einer Krebsgeschwulst leidet und gleichzeitig eine gesellschaftliche Krebsgeschwulst ist: »In jener herrlichen, anständigen Zeit, den Jahren 1937 bis 1938, war die gesellschaftliche Atmosphäre endlich einmal von allem Schmutz gereinigt, damals konnte man frei atmen. Alle Lügner, Verleumder, Anhänger der eilfertigen Selbstkritik oder superklugen Intellektuellen waren verschwunden, zum Schweigen gebracht, und prinzipientreue, zuverlässige Staatsbürger wie Rusanow gingen würdevoll mit erhobenem Kopf einher.« Es ist gewiß kein Zufall, daß am Schluß des Romans Rusanows Tochter Alla, eine angehende Schriftstellerin, von der man ahnt, daß sie reüssieren wird, sagt: »Depressionen steigern die schädliche Wirkung eines Buches. Aufrichtigkeit ist schädlich. Subjektive Aufrichtigkeit kann unter Umständen im Gegensatz zur wahrheitsgetreuen Schilderung des Lebens stehen - können Sie eine solche Dialektik verstehen?« So fragt sie Djomka, den Bettnachbarn ihres zum Proletpatienten erniedrigten Vaters. Und es ist denn auch diese frische, energische, siegessichere junge Alla, der Solschenizyn ironischerweise das Schlußwort des Romans gibt. Ihrem von Krebsgeschwulst und krebsartigen Angstträumen geplagten Vater, den die mögliche Heimkehr der von ihm Denunzierten aus den Lagern beunruhigt, sagt sie (das ist der allerletzte Satz des Buches): »…mach dir gar keine Sorgen, alles, alles wird ausgezeichnet.«

Kostoglotow, der auf ewig nach Usch-Terek, einem entlegenen Kaff, Verbannte, erinnert sich merkwürdigerweise voll Freundlichkeit seiner Verbannung, an das befreundete Ärzteehepaar Kadmin, deren Hunde und Katzen; er meditiert (worüber zu meditieren sich wahrhaft lohnt): über die Relativität von Luxus und Konsum. Auf seine, Kostoglotows, Heimkehr wartet wahrscheinlich irgendein anderer »Rusanow«, der ihn seinerzeit denunzierte, um die Welt »heil« zu halten.

Das Personal des Romans ist zahlreich: Ärzte, Ärztinnen, Krankenschwestern, Putzfrauen, Besucher; erstaunlich ist, was der Roman an Mitteilung über die Sorgfalt der ärztlichen Behandlung in der Sowjetunion - und das im Jahre 19 5 5 — enthält. Es ist ein Buch voller Bitterkeit, auch Heiterkeit, und was ich nicht zu begreifen vermag: daß es in der Sowjetunion nicht erscheinen soll oder darf, daß es die Krebskrankheit auf dieser Erde wirklich gibt. Auch den heftigsten Befürwortern einer »besseren Zukunft« sollte es nicht schwerfallen zu erkennen, daß nicht die Schriftsteller, sondern die »Rusanows« die Krebsgeschwülste der Gesellschaft sind. Eine solche Erkenntnis könnte den sozialistischen Realismus nur befreien und seine Literatur so »konkurrenzfähig« machen wie es Solschenizyns Roman ist.

Wird Krebs nicht auch durch Zersetzung bekämpft?