Der König der Lügen

Im Gefängnis wird Jackson Workman Pickens, genannt

„Work“, doch noch von seinen Gefühlen überwältigt. Obwohl er es nicht mehr für

möglich gehalten hätte, empfindet der Strafverteidiger von North Carolina

tatsächlich so etwas wie Mitleid mit dem Strafgefangenen, der seinen Bruder aus

Streit um eine Fernbedienung erschossen hat, und dem nun langsam klar wird, dass

er nie mehr in Freiheit verbringen wird. „Seine Schulter begann unter meiner

Hand zu zucken, und ich fühlte eine Leere, die so groß war, dass man sie beinahe

greifen konnte“, heißt es im Roman Der König der Lügen des US-Amerikaners

John Hart. „Das war der Moment, als sie kamen, um mir zu sagen, dass der

Leichnam meines Vaters endlich gefunden worden war. Die Ironie des Schicksals

entging mir nicht.“

Die (vorgeschobene) emotionale Kälte Works, die sich auf jeder Seite im Stil

des Buches widerspiegelt, hat einen guten Grund. Der Mord an seinem Vater

nämlich ist nur das letzte Glied in einer Kette deprimierender

Lebenserfahrungen. Das Leben hat dem Strafverteidiger übel mitgespielt. Seine

Mutter kam bei einem seltsamen Treppensturz, nach dem sein autoritärer Vater

verschwand, ums Leben. Seine suizidgefährdete Schwester ist ihm wenig zugetan.

Und bei seinen Ermittlungen mit der Polizistin Will fällt er fast einem Anschlag

zum Opfer. Hinzu kommt, dass der Strafverteidiger nun seinerseits unter

Mordverdacht gerät. Trotzdem gibt Work nicht auf -- und kommt bei seinen

Recherchen einem düstren Familiengeheimnis auf die Spur...

Bisweilen hat John Hart in Der König der Lügen vielleicht etwas zu

dick aufgetragen, um alle nur erdenklichen Thriller- und Spannungselemente in

seinem Buch zu vereinen. Aber die atmosphärische Dichte dieses faszinierenden

Romans, die die überaus gelungene deutsche Übersetzung kongenial transportiert,

hilft da über manch -- ohnehin nur kleine -- Schwäche hinweg. Der König der

Lügen ist ein tolles Buch in bester amerikanischer hard-boiled-Manier. Hart

mit Raymond Chandler zu vergleichen ist da wirklich nicht zu hoch gegriffen.

-- Stefan Kellerer, Literaturanzeiger.de