[Wogen der Zeit 01] • Awaite

Die Kindheit ist ein wundervoller Ort, an dem Santa Claus mit einem Sack voller Geschenke durch den Kamin rutscht, ein putziger Hase zu Ostern überall bunt bemalte Eier verteilt und eine Freundin eine Freundin ist, ohne die zwischenmenschlichen Klippen und das hormonelle Chaos des Erwachsenseins.

Aber leider trifft das Schicksal jeden.

Selbst der hartnäckigste Peter Pan landet irgendwann mit dem Hintern auf der kalten Eisscholle der Realität und plötzlich war aus meiner besten Freundin eine Fantasiegestalt geworden, die direkt neben den netten Männern mit der weißen hab-mich-lieb-Jacke wohnte. Es hatte mich Jahre und meine Eltern unzählige Therapiestunden gekostet, bis ich wirklich begriff, dass Nt´schani nicht existierte. Ich hatte mir das Mädchen mit den Rehaugen und dem magischen braunen Haar nur eingebildet, denn niemand außer mir war ihr jemals begegnet.

Zumindest bis ich kurz nach dem Anatomieexamen an der Tierärztlichen Hochschule Hannover einen völlig unmöglichen Brief von Nt ´schani erhalte. Imaginäre Freundinnen sollten eigentlich keine Briefe schreiben, das hat etwas mit dem Wort imaginär zu tun, aber wenn sie es doch tun, verwandelt sich das Leben gerne mal in eine Achterbahnfahrt in der eine seelensaugende Sibylle und die Arie eines opernbegeisterten Zentauren meine geringsten Sorgen darstellen. Und zu allem Übel muss ich mich auch noch entscheiden – zwischen Nt´schanis Leben und dem Schwarm meines Studiums.