[Frank Lehmann 01] • Herr Lehmann

[Frank Lehmann 01] • Herr Lehmann
Authors
Regener, Sven
Publisher
Goldmann Wilhelm Verlag
Tags
roman
ISBN
9783821807058
Date
2003-08-02T00:00:00+00:00
Size
0.26 MB
Lang
de
Downloaded: 9 times

Kreuzberger sind schon komische Vögel. Sie sitzen Abend

für Abend am Tresen, trinken Kristallweizen ohne Zitrone und gehen erst ins

Bett, wenn Mutti in Bremen schon wieder aufsteht. Und wenn draußen die Mauer

fällt, bestellen sie erst mal in Ruhe noch ein Bier. Denn was ist schon das Ende

der Geschichte (denkt sich der Leser am Ende dieser Geschichte) gegen die Frage,

ob die Zeit schneller oder langsamer vergeht, wenn man betrunken ist?

Herr Lehmann ist Kreuzberger. Kreuzberger sind Menschen, die irgendwann

einmal aus Schwaben, Achim oder Herford nach Berlin gekommen und dort "hängen

geblieben" sind. Herr Lehmann kommt ursprünglich aus Bremen und möchte

eigentlich Frank genannt werden, aber das ignorieren seine Freunde: denn bald

ist Herrn Lehmanns dreißigster Geburtstag. Und 30 Jahre alt zu werden, weiß Herr

Lehmann, ist Scheiße, weil man da langsam "beginnt, eine Vergangenheit zu haben,

eine gute alte Zeit und den ganzen Scheiß." Und weil auf einmal alle anfangen zu

fragen, was man denn bitte schön anfangen wolle mit dem eigenen Leben. Denn dass

jemand zufrieden damit ist, Kellner zu sein, ist in dieser Stadt, in der alle

"eigentlich Künstler" sind, nicht vorgesehen -- "aber was ist das für ein

trauriger Umgang mit dem, was man tut, wenn man es immer nur als Zwischenlösung

ansieht, als nichts Richtiges?"

Sven Regener kennt, wovon er schreibt. Als Sänger und Texter der Berliner

Band Element of Crime ist er seit genau jenen Spätachtzigern, in denen die

Romanhandlung spielt, immer auch genauer Chronist eines Kreuzberger

Lebensgefühls jenseits von "Kreuzberger Nächte sind lang" gewesen. Mit Herr

Lehmann ist ihm das erstaunliche Kunststück gelungen, jene zärtlich-rotzige

Nonchalance, die seine Lieder auszeichnet, umstandslos in die lange Form zu

überführen -- und das gleich in seinem literarischen Erstlingswerk!

Mit seinem Roman setzt Regener jenem merkwürdig zeitlosen Kreuzberg der

Vorwendezeit, das einem heute so weit weg erscheinen will, so etwas wie ein

Denkmal -- für die Zeit Damals hinterm Mond. Doch trotz so schöner

Einsichten wie "Der Elekrolytmangel ist der größte Feind des Trinkers. Von der

Dehydrierung einmal abgesehen", geht es hier keineswegs nur ums Bohème-Leben im

Allgemeinen und ums Trinken im Besonderen. Das Ganze ist nämlich auch eine Art

Entwicklungsroman -- freilich zu Kreuzberger Bedingungen: Muss doch der Held --

für den es anfangs noch eine Qual ist, wenn er auf dem Weg von Kreuzberg nach

Kreuzberg durch Neukölln muss -- gegen Ende des Romans immerhin zur Kenntnis

nehmen, dass es auch hinter der Oberbaumbrücke noch Menschen gibt. Das Ende der

Geschichte? Erst mal losgehen, denkt sich Herr Lehmann. "Der Rest wird sich

schon irgendwie ergeben." Pflichtlektüre für die Jahrgänge 1959-1969, für

Kreuzberger sowieso. --Axel Henrici