Schloss aus Glas

Schloss aus Glas
Authors
Walls, Jeannette
Publisher
Diana Verlag
Tags
roman
ISBN
9783453351356
Date
2006-06-06T00:00:00+00:00
Size
0.60 MB
Lang
de
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Der innere Konflikt der Autorin, der sie jahrelang

schweigen ließ, wird bereits in der Einleitung deutlich. An einem stürmischen

Märzabend befindet sich die bekannte Kolumnistin Jeanette Walls auf dem Weg zu

einer Party. Ihre Vorfreude weicht schlagartig, als sie vom Taxi aus die

zerlumpte alte Frau mit dem verfilzten Haar erblickt, die gerade einen

Müllcontainer durchwühlt. Sie erkennt die vertrauten Bewegungen, die Art, wie

sie den Kopf schieflegt, um ihren Fund zu begutachten. Schockiert und beschämt

kehrt Jeanette Walls in ihr nobles Appartment auf der Park Avenue zurück. „The

Party is over!“ -- Die Vergangenheit war zurückgekehrt. Die Pennerin auf der

Straße war Jeanette Walls eigene Mutter. Eine Kindheit der etwas anderen Art

zieht noch einmal vorüber.

„Wir türmten ständig, meistens mitten in der Nacht!“ -- Ob solche Eltern für

Jeanette und ihre beiden Geschwister (ein viertes kam später hinzu), eher Segen

oder Fluch darstellten, mag der Leser entscheiden. Mit einer Art

Hippie-Philosophie und einem nonkonformistischen Besserwissertum, das zuweilen

nervt, ausgestattet, hatten Rex und Rose Mary Walls beschlossen, allem Konsum

den Kampf anzusagen. Ein naturhaftes Leben „on the road“ sollte den Kinder

„echte Werte“ vermitteln. Ein zwiespältiges Unterfangen bei einem Vater, der in

lichten Momenten seinen Kindern die Welt erklärte, Sterne vom Himmel holte und

ihnen ein „Schloß aus Glas“ versprach, dann wieder klaute wie ein Rabe, und sich

in den finstersten Phasen seiner Trunksucht gar in einen regelrechten Berserker

verwandeln konnte.

Auch die Mutter, eine vor jeder Arbeit zurückscheuende verhinderte

Künstlerin, bot kein rechtes Gegenmodell. Jeanette Walls indes beschloss

rückblickend, die positiven Aspekte ihrer „Erziehung“ herauszustellen. Die

ständige Flucht vor „den Handlangern, Blutsaugern, der Gestapo“, wie der Vater

seine Verfolger verwünschte, die Nahrungsaufnahme aus Müllcontainern, die

zerschlissene Kleidung -- das gewählte Außenseitertum gerät bei ihr nicht zum

Mangel sondern zum Lebensgewinn.

Wie das elterliche Fantasiegebäude erste Risse bekam und die allmähliche

Abspaltung erfolgte, wird mit leisem Humor, großer erzählerischer Kraft und

(nicht immer nachvollziehbarer) Liebe abgehandelt. Nach Nick Flynns literarisch

schrofferen Bullshit Nights das zweite große Buch dieses Frühlings zum

Thema Kindheitsbewältigung. --Ravi Unger