[Ronco 235] • Im Staub der Hölle

[Ronco 235] • Im Staub der Hölle
Authors
McMillan, Steve
Publisher
Pabel/Möwig Verlag
Tags
heft-ronco
Date
0101-01-01T00:00:00+00:00
Size
0.18 MB
Lang
de
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6. Juni 1880

Ich habe lange gezögert, meine Aufzeichnungen weiterzuführen. Ich bin frei. Meine Unschuld ist erwiesen und ich werde nicht mehr gejagt. Als ich mit der Niederschrift meiner Geschichte begann, war das anders. Da steckte ich bis zum Hals im Dreck und sah keine Zukunft. Ich wollte alles, was ich erlebt habe, aufschreiben, um der Welt wenigstens ein Dokument zu hinterlassen und um jene zu entlarven, die mich ins Unglück gestoßen hatten. Ich mußte jeden Tag damit rechnen, von einer Kugel getroffen zu werden. Das ist heute nicht mehr so.

Ich bin rehabilitiert. Meine Feinde, die wahren Schuldigen, sitzen hinter Gittern oder haben das Land verlassen. Dennoch schreibe ich weiter.

Ich sitze in einem Haus, das mir gehört, das ich selbst gebaut habe. Es ist klein und einfach, aber es ist mein Haus. Das Haus, von dem ich jahrelang geträumt habe, ein Platz, wo ich hingehöre. Es steht auf einem Stück Land, das auf meinen Namen im Grundbuch eingetragen ist. Bald wird es hier Felder geben und auf den Weiden Rinder. Und alles wird mir gehören.

Der Tisch, an dem ich sitze, gehört mir. Ich habe ihn selbst gezimmert wie fast alle Möbel in meinem Haus.

Linda wirtschaftet in der Küche. Sie hat lange auf diesen Augenblick gewartet, alle Strapazen auf sich genommen, zu mir gestanden und sich das neue Heim redlich verdient. Sowie sich ein Padre in unsere Gegend verirrt, werden wir offiziell heiraten.

Im Nebenraum schläft unser Sohn Jellico. Ihm wird einmal alles hier gehören. Ich will ihm eine gute und lohnende Zukunft aufbauen. Er ist auch der Grund, warum ich mich entschlossen habe, weiterzuschreiben.

Eines Tages wird er erwachsen sein und wissen, was für ein Leben ich geführt habe. Er braucht sich meiner nicht zu schämen.

Wenn man jahrelang gejagt worden ist, wenn es jahrelang Steckbriefe von mir gegeben hat, bleibt immer etwas hängen. Jellico soll nicht eines Tages vor einem Berg von Gerüchten stehen und daran verzweifeln müssen.

Das ist der Grund. Ich glaube, es ist ein guter Grund. Deshalb habe ich mir Zeit genommen, die alten, abgegriffenen Schulhefte wieder hervorzuholen und weiterzuschreiben, obwohl ich jetzt kaum Zeit habe. Ich arbeite wie ein Pferd. Es bereitet mir Spaß, und es lohnt sich. Ich habe ja ein Ziel, und nichts kann mich davon abbringen. An meinen Händen bilden sich langsam Schwielen. Es ist ein gutes Gefühl. Meinen Revolver schnalle ich kaum noch um. Er hängt an einem Haken neben der Tür. Anfänglich fehlte mir das vertraute Gefühl an der rechten Hüfte. Aber schon nach einer Woche hatte ich ihn so gut wie vergessen. Ich hoffe, ihn bald völlig wegpacken zu können.

Draußen geht die Sonne unter. Ich habe den ganzen Tag geschuftet, um die Felder abzustecken und Bewässerungsgräben auszuheben. Es fällt mir nicht so leicht, meine vielen Pläne und Vorhaben im Moment zu verdrängen und mich an meine Jugend zu erinnern. Ich bin so voll von Gedanken an das, was ich alles in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten tun werde, daß die Vergangenheit mir unglaublich weit entfernt erscheint.

Aber während ich schreibe, kehren sie wieder, die Schatten der Vergangenheit. Die Erinnerungen an die Jahre, in denen ich versuchte, meinen Weg im Leben zu finden. Damals konnte ich nicht ahnen, daß fast zwanzig Jahre vergehen würden bis es wirklich so weit sein sollte, daß ich mit dem Aufbau einer Existenz beginnen konnte. Damals war ich sechzehn. An Jahren ein Kind, an Erfahrungen längst ein vollwertiger Mann. Ich war aus Montana zurückgekehrt, wo der Goldrausch mir nichts als Unglück gebracht hatte, und ich ahnte nicht, in was für eine Situation ich geraten sollte, als ich im Februar 1864 Missouri erreichte. Vom Bürgerkrieg hatte ich nur vom Hörensagen etwas mitgekriegt. Weit draußen im Westen gab es andere Probleme.

Das Land war groß, die Nachrichtenverbindungen waren schwach. Hätte ich gewußt, wie der Krieg wirklich war, ich wäre im Westen geblieben. Aber ich wußte nichts. Das änderte sich schnell. Ich konnte nicht mehr zurück …