Angstblüte

Angstblüte
Authors
Walser, Martin
Publisher
Rowohlt Verlag
Tags
roman
ISBN
9783644002418
Date
2009-10-04T22:00:00+00:00
Size
0.40 MB
Lang
de
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Angstblüte nennt sich, was die Natur bedrohten Gewächsen mitgegeben hat. Naht

der Tod, steigen noch einmal die Lebenssäfte, der schönste Schein wird

produziert. Metaphorisch durchaus auch auf das Personal in Walsers jüngstem Werk

anwendbar. Angst vor Vergänglichkeit, Bedeutungslosigkeit, Alter und Untergang

beflügelt Machtmenschen wie den Kunsthändler Diego Trautmann, der in seinem

„Bonsai-Neuschwanstein“ an der Seite der ätherisch schönen Talkshow-Gastgeberin

Gundi seine berühmten Empfänge zelebriert. Tiefsitzende Angst beherrscht auch

den erfolgreichen Anlageberater Karl von Kahn, „siebzig-plus“ und Walsers

Hauptakteur. Verbrauch ist trivial, Geldvermehrung hingegen bedeutet

Vergeistigung. Zahlenwerk als höchste Kunstform. Karls Credo und Religion.

Weg vom Bodensee, mitten im prallsten Münchner Großbürgertum entfaltet Martin Walser sein

Mysterienspiel vom Evangelium des Geldes. Walser-Leser kennen das Faible des

Autors fürs Pekuniäre; es geht also hinauf in die dünne Luft des Aktienhandels,

der Portfolios und virtuellen Geldströme. Exkurse, die -- wortbrilliant zwar --

allzu quälend ausufernd geraten. Atemberaubend dagegen, der tosende

Lebensstrudel, der Karl von Kahn erfasst. Sein Weltbild gerät ins Wanken, als

Diego, der Freund, mit einem raffinierten Finanzdeal Karl böse übervorteilt.

Dann setzt Karls erfolgloser Künstlerbruder Erewein, der mit „Frau Lotte“

resigniert in einer Wohnhöhle verharrt, seinem Leben ein Ende. Was bleibt, ist

ein geradezu lebensspendender Abschiedsbrief. Schließlich tritt Joni Jetter auf

den Plan. Die Angstblüte setzt ein!

Mit Joni, Darstellerin in einem Film, der durch eine Finanzspritze Karls

zustande kommt, findet Walser zur Hauptsache. Das hoffnungslos verliebte

Finanzgenie sieht sich mit Alter, Sexualität, Liebe, Betrug und all den Lügen

und Verdrängungen, die damit einhergehen, konfrontiert. Bereits in Der Augenblick der Liebe hat

Walser die „Sexualität-im-Alter-Thematik“ als persönliches Reizthema

aufgegriffen. Erneut staunt man: Der früher in sexuellen Dingen eher

zurückhaltend bis prüde Walser wird in seinem Spätwerk sprachlich drastisch

deutlich. Pure Walser-Ironie, alle klugen Theorien von Karls Ehefrau Helen,

einer hingebungsvollen Paartherapeutin, werden vom tobenden Leben selbst

zunichte gemacht. Am Ende hält Karl von Kahn eine immense Verlustrechnung in

Händen. Sein Erkenntnisgewinn: Sehnsucht darf bleiben. Aufhörenkönnen muss

gelernt werden.

Apropos Aufhörenkönnen. Vermittels einer eingeschobenen Episode über Jonis

Vater, einen Ex-Polizeireporter, der aufgrund mangelnder politischer

Opportunität von seinem Alt 68er-Chef förmlich in den Untergang getrieben wird,

leckt Walser offenbar noch immer die Wunden der letzten Jahre. --Ravi

Unger