[Ronco 190] • Der Renegat

[Ronco 190] • Der Renegat
Authors
Grey, John
Publisher
Pabel/Möwig Verlag
Tags
heft-ronco
Date
0101-01-01T00:00:00+00:00
Size
0.18 MB
Lang
de
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28. Juni 1879

Wir kampieren seit einer Stunde in einer Bodenfalte im Schatten einiger Juniperen. Die Sonne steht tief im Westen über Colorados Bergen. Die Schatten sind schon lang.

Ich habe meinen Weg nach Del Norte unterbrechen müssen. Wildcat ist mir gestohlen worden, und solange ich ihn nicht zurück habe, werde ich meinen Weg nicht fortsetzen. Wer weiß, was ein gutes Pferd für einen Mann, zudem für einen Mann wie mich, bedeutet, wird mich verstehen. Es hat Momente gegeben, in denen ich ohne Wildcat verloren gewesen wäre. Die Menschen in den Städten und aus dem Osten begreifen das nicht. Für einen Mann im Westen aber ist ein zuverlässiges Pferd der beste Partner, den er haben kann.

Ich weiß, ich werde Wildcat wiederfinden, und wenn ich bis ans Ende der Welt laufen müßte.

Die kurze Rast will ich nutzen, trotz meiner Sorgen um ihn, um mein Tagebuch weiterzuschreiben. Das wird mich etwas ablenken und innerlich ruhiger werden lassen. Einfach war mein Leben nie, aber verglichen mit meiner heutigen Lage erscheint mir meine harte und freudlose Jugend beinahe wie ein Märchen.

Als ich im Spätsommer des Jahres 1859 St. Joseph, Missouri, erreichte, war ich sicher, daß mir eine ruhige Zeit bevorstünde. Ich, der Junge ohne Heimat, hatte wieder eine Zukunft. Ich wollte bei der »Russell, Majors und Waddell Postkutschengesellschaft« arbeiten, wollte Geld verdienen und nichts mehr von Kampf, Tod und Blut wissen. Ich wollte ein normales Leben führen, wollte vergessen, daß ich aus der Wildnis gekommen war. Es war ein verdammt frommer Wunsch, und ich hielt ihn damals für realistisch. Ich war eben noch sehr naiv. Damals wußte ich noch nicht, daß keiner aus seiner Haut heraus kann, daß man seine Vergangenheit nie los wird. Man kann sie nicht abstreifen wie ein schmutziges Hemd.

Die große Stadt am Missouri, das hektische Getriebe in den Straßen, das pulsierende Leben überall gaben mir Hoffnung und ließen mich vieles vergessen, was hinter mir lag. Aber was bedeutete das schon? Für mich war es damals viel, dabei sind erste, flüchtige Eindrücke so wenig, sie bedeuten gar nichts.

Ich hatte noch viel zu lernen.