Diamond Age · Die Grenzwelt

- Authors
- Stephenson, Neal
- Publisher
- Goldmann Wilhelm Verlag
- Tags
- roman
- ISBN
- 9783442248025
- Date
- 1999-12-31T23:00:00+00:00
- Size
- 1.13 MB
- Lang
- de
Bruder Grimm im Videoland. Neal Stephenson ist cool,
intelligent, gebildet, und seine Romane vermitteln das Gefühl erstaunlicher
Geschwindigkeit. Das alles hat er in Diamond Age in einen Topf geworfen
und herausgekommen ist weitaus mehr als ein neues Buch des "Quentin Tarantino
des Cyberpunk", als den ihn die New Yorker Village Voice bezeichnet hat.
Nimmt man Diamond Age zum ersten Mal zur Hand, wird man unweigerlich
irregeleitet: Weder der bunte Einband der Goldmann-Ausgabe noch der Klappentext
lassen einen an ein filigranes Roman-Gespinst denken, das den Leser auf die
gleiche Reise mitnehmen wird wie die Hauptfigur Nell. Stephenson verwebt so
viele wissenschaftliche Möglichkeiten, Handlungen und Gedankenstränge
miteinander, daß man als Leser anfangs gewillt ist, Diamond Age auf die
Cyberpunk-Komponente zu reduzieren. Viel High-Tech, viele Cyber-Neologismen,
unwirtliche Staedte und Sozialisationen -- die Welt im 22. Jahrhundert.
Im Grunde handelt es sich auf der erzählerischen Ebene um eine einfache
Geschichte: kleines Mädchen aus einfachen Verhältnissen bekommt ein Buch in die
Hände, durch das es Bildung, Selbstsicherheit und Überlegenheit gegenueber
anderen bekommt. Sie hat Erfolg aufgrund ihrer Kenntnis beider Welten: der der
armen Ungebildeten, und der der reichen Gebildeten. Das in Frage stehende Buch
ist gestohlen, was eine kriminalistische Komponente in die Geschichte bringt.
Das kleine Mädchen muß viele Rätsel im Buch lösen, um zum Ziel zu kommen. Und
alle beteiligten Personen entwickeln sich: manche sterben einfach, andere gehen
weiter. Ein Videospiel.
Wie man Stephenson kennt, ist Diamond Age angereichert mit einem
soliden Wissen und einiger Fiktionskraft über neue Technologien -- in diesem
Fall der Nanotechnologie -- und deren Bedeutung in kommenden Jahrhunderten. Und
aus der Position von Einwohnern der Westküste der USA heraus ist eine gehörige
Portion asiatischen Denkens und Ambientes in diesem Roman zu finden.
Was daraus entsteht ist eine grandiose Reise durch das Werden eines Menschen
ohne jeglichen Technikwahn. Daß sich das Umfeld verändert haben wird im
übernächsten Jahrhundert, ist klar. Daß dies nicht ohne Einfluß auf die äußeren
Umstaende von Lernen, Kommunizieren oder Kriegsführung bleibt, auch. Aber daß
ein Mensch ein Mensch ist, das hat sich nicht verändert. Hier träumen nicht
Androide von elektrischen Schafen, wie in Philip K. Dicks Vorlage zu Blade
Runner, sondern Humanoide von Mitmenschen. Es ist eine Einführung in die
Technikgeschichte, mit herrlichen Anklängen an Computerpioniere von Ada Lovelace
über Alan Turing bis hin zu Joseph Weizenbaum. Der märchenhafte Handlungsstrang
dieses Romans läßt unweigerlich an Alice im Wunderland denken, Lewis Carrolls
rätselhaft verspieltes Denk-Mal. Und es ist ein Ausblick in eine Welt, die so
oder auch ganz anders aussehen wird -- und dennoch die Welt ist, in der auch wir
schon leben.
Stephenson schafft es, dem Wort "Globalisierung" nicht nur
hinterherzuschreiben, sondern Gesellschaften zu zeichnen, die aus europäischen,
asiatischen und amerikanischen Elementen bestehen, sie verarbeiten und dennoch
eine feste Burg in ihren ureigenen Herren finden.
Die be(un)ruhigendste Entdeckung in Diamond Age ist allerdings, daß
die Grimmschen Märchen, auf die Stephenson ausgiebig und offen Bezug nimmt,
nichts von ihrer brutalen Wahrheit über unser Sein eingebüßt haben. Und die
beste Erfahrung, daß Neal Stephenson ein suggestiver Märchenonkel von hohem Rang
ist. --Marcus Polke