Sonnenfinsternis

- Authors
- Koestler, Arthur
- Publisher
- Elsinor Verlag
- Tags
- roman
- ISBN
- 9783942788007
- Date
- 2016-03-15T00:00:00+00:00
- Size
- 0.40 MB
- Lang
- de
Rubaschow, Mitglied der «alten Garde» eines revolutionären Staates, wird eines Nachts im eigenen Land und im Auftrag der eigenen Partei verhaftet. Der einstige Volkskommissar bleibt zwar auch in der Gefängniszelle seinen politischen Grundsätzen treu, allmählich wird ihm aber bewußt, welche Schuld er im Dienste der Weltrevolution auf sich geladen haben könnte und daß der Zweck womöglich nicht jedes Mittel heiligt. Um moralische Kategorien geht es seinen innerparteilichen Gegnern allerdings nicht: Angeklagt wegen oppositioneller Gesinnung und Verschwörung, widersetzt Rubaschow sich zunächst den haltlosen Vorwürfen, bis sein Widerstand in unbarmherzigen Verhören gebrochen wird. – «Sonnenfinsternis», Koestlers Abrechnung mit dem Stalinismus und jeder Form von politischem Totalitarismus, wurde in über dreißig Sprachen übersetzt und gilt als einer der bedeutendsten politischen Romane des 20. Jahrhunderts.
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### Neue Zürcher Zeitung
Ungeliebter Verräter
Schatten über Arthur Koestlers «Sonnenfinsternis»
Unlängst – und beinahe unbemerkt – ist im Europa-Verlag eine Neuauflage von Arthur Koestlers «Sonnenfinsternis» erschienen. Der Roman, 1940 zunächst in London unter dem eingängigen Titel «Darkness at Noon» gedruckt, hat eine eigenartige, aber keineswegs unauffällige Biographie. Dazu gehört auch, dass dieses Paradebeispiel eines politischen Gleichnisses – das einer damals noch weitgehend ahnungslosen Öffentlichkeit die erste stalinistische Säuberungswelle von 1936 bis 1938 in einer Eindringlichkeit vor Augen führte, die Anklänge an Kafkas «Prozess» eröffnete – in England zunächst nur schwer ein Publikum fand. Die erste Auflage, ganze tausend Exemplare, ging harzig; der Autor sitzt, durchaus eine kafkaeske Situation, in Frankreich als «Politischer» im Gefängnis.
Der Erfolg des Buches kommt erst nach Kriegsende, und zwar in der französischen Übersetzung. «Le Zéro et l'Infini», so Koestler an einer Stelle des viel später verfassten Nachwortes, habe innerhalb kurzer Zeit eine Auflagenhöhe erreicht, die schliesslich über 400 000 ging. Dass damit alle Verkaufsrekorde des französischen Vorkriegsbuchhandels übertroffen worden waren, erklärt Koestler freilich mit politischen, nicht mit literarischen Gründen. Das mag für 1946 zugetroffen haben: In den Wochen zwischen dem Zerfall der deutschen Besatzermacht und der Errichtung einer gesetzesmässigen Regierung wird fast jeder Landstrich Frankreichs zum Schauplatz summarischer Hinrichtungen; Willkür steht auf der Tagesordnung. Die Kommunisten, so der Ex-Kommunist Koestler, hätten diese chaotischen Wochen zur systematischen Abrechnung mit ihren Gegnern benutzt, unliebsame Konkurrenten als «Kollaborateure» liquidiert, den Gewerkschaften, den Medien und den Gerichten weitgehend ihren Willen aufgezwungen. In dieser drückenden Atmosphäre, das ist leicht nachvollziehbar, erhält ein Roman über die stalinistischen Säuberungen, auch wenn es sich um zurückliegende Ereignisse handelt, Symbolwert.
Moral und Verrat
Das Buch wird zur moralischen Anklage gegen die Politik der Kommunisten im Nachkriegsfrankreich auch deshalb, weil es in der authentischen Parteisprache gehalten ist und folglich nicht als «bourgeoises» Produkt abgetan werden kann. Was passiert? Die Kommunisten versuchen, den Verleger einzuschüchtern. Ohne Erfolg. Daraufhin kaufen sie – mit Erfolg, aber ohne politisches Geschick – ganze Lagerbestände vorstädtischer und provinzieller Buchläden auf und vernichten sie. Das nun macht den Roman erst recht zum Erfolg, Restexemplare des Buches werden zu Liebhaberpreisen gehandelt. Die nächste Auflage, sie steht inzwischen bei einer Viertelmillion, versucht man propagandistisch zu vernichten, Buch und Verfasser werden auf Versammlungen und in der Presse angegriffen, was dem Verleger durchaus nicht schadet. Allerdings lässt der französische Übersetzer, eingeschüchtert, seinen Namen – eh schon ein Pseudonym – vom Titelblatt streichen. – Auch in Deutschland übrigens hatte niemand Geringerer als Ernst Bloch Koestler schon 1942 ins Visier genommen. «Darkness at Noon», so Bloch, habe die neue «Literaturgattung des Verrats» eröffnet. Die Diskussion über das Renegatentum ist lanciert. Ein schlechtes Omen für eine freie Debatte über politische Schuld und Verantwortung, über die seelische Chemie von Geständnis und Schauprozess.
Und heute? Welche Erschütterungen gehen noch aus von Koestlers Roman? Offensichtlich wenige, vielleicht gar keine. Der Verlag hat die Neuedition kommentarlos, ohne jeden Zusatz, ohne die geringste aktualisierende Zeile auf den Markt geworfen. Das ist immerhin erstaunlich. Nicht nur dürften heutige Leser nicht unglücklich sein über eine sachliche Rekonstruktion der der «Sonnenfinsternis» zugrunde liegenden menschlichen und politischen Dramen. Noch mehr: Vor knappen drei Jahren hat eine englische Biographie vermeintlich Neues – und wenig Schmeichelhaftes – über den 1983 freiwillig aus dem Leben geschiedenen Autor zutage gebracht.
Koestler, der gewiss kein Chorknabe war und dessen private Vita – wie so viele andere; wer darf da den ersten Stein werfen? – keineswegs frei von Widersprüchen und Bizarrerien war, wird in David Cesaranis dickleibigem Wälzer durchaus nicht nach der Maxime De mortuis nil nisi bene behandelt. Vielmehr schon ist es ein dampfender esprit de concierge, der da vorherrscht. Koestler erscheint als fanatischer, ja krimineller womanizer, ein Vergewaltigungsfall wird aufs Detaillierteste untersucht, Verdächtigungen hier, Zitate aus Briefen dort, viel Licht wird gelenkt auf eine obsessive Mutter-Sohn-Beziehung, Mutmassungen über homosexuelle Neigungen, Gesichertes über Alkoholexzesse, schliesslich der Doppelselbstmord, zu dem der Achtundsiebzigjährige seine fünfundzwanzigjährige Frau Cynthia gezwungen habe.
Spiralen des Absurden
Allerdings, da ist viel Zwiespältiges, im Leben vielleicht mehr als im Werk. Aber mit spitzen Fingern und «moralischen» Vorbehalten muss man sich Koestlers Romanen durchaus nicht nähern. «Sonnenfinsternis» bleibt, auch in der verschämten Neuauflage, ein eindringlicher Markstein der politischen Ästhetik, von ferne an Joseph Roths «Radetzkymarsch» erinnernd. Es ist das groteske Schicksal des Mannes N. S. Rubaschow, der im Glauben an das Gute Freunde verraten hat und über Leichen gegangen ist und der dann selbst, in einer absurden Spirale, verhaftet wird, vom Peiniger zum Gepeinigten wird und schliesslich ein falsches «Geständnis» ablegt, um so der «Partei», will heissen: einer menschenverachtenden und aufs Letzte abzielenden Geschichtsphilosophie, noch ein letztes Opfer zu bringen. Doch sind das zusammenfassende Sätze, die den literarischen Sog dieses Romans schlecht wiedergeben. Denn Koestler hat alles andere als eine blutleere Parabel vom verratenen Verräter geschrieben.
Er sitzt mit Rubaschow in der Zelle und berichtet gleichsam aus der Perspektive eines dritten Ohrs, eines parallel geschalteten Nervengeflechts. Er hört mit ihm das Tropfen des Kondenswassers, zählt die Schritte auf dem Korridor, übersetzt die Klopfbotschaften von geheimnisvollen Mithäftlingen, mutmasst über die Folterungen von Nr. 407. Die inneren Dialoge, die Verhöre zumal, dann der Offizier; man übt sich in Dialektik, tauscht Erinnerungen. War er früher nicht ein Freund? Demzufolge jetzt der Feind? Oder ein als Feind getarnter Freund? Als Freund getarnter Feind? Sollte er antworten, dass alles Gerede gewesen war? Ein impotentes Spiel mit dem Feuer? Es berührt ihn die sonderbare Empfindung, in den «glatten Ablauf einer feierlichen Zeremonie» geraten zu sein. Werte erodieren, Grundsätze zerfallen, die Welt ist ein Hort des Absurden. Wenn alles zerbröselt, ist da nicht das «Geständnis» ein letzter Akt der Disziplin? Diese paranoide Aura, diese Seelenzerwürfnisse darzustellen, ist Koestler auf bleibend beängstigende Weise gelungen. Sich selbst hat er damit schwierigen Ruhm eingehandelt. Man liebe den Verrat, aber nicht die Verräter, soll er dazu notiert haben.
Ursula Pia Jauch
### Buch der 1000 Bücher
Copyright: Aus Das Buch der 1000 Bücher (Harenberg Verlag)
Sonnenfinsternis
OT Darkness at Noon OA 1940 DE 1946 Form Roman Epoche Moderne
Arthur Koestler, der 1938 mit der Kommunistischen Partei gebrochen hatte, sucht in seinem berühmtesten Roman Sonnenfinsternis eine Antwort auf die Frage, warum in den Moskauer Schauprozessen (1936–38) die Angeklagten entwürdigende Geständnisse über nicht begangene Verbrechen ablegten.
Inhalt: Der Bolschewik Nicolai Salmonowitsch Rubaschow wird von seinen Genossen verhaftet und konterrevolutionärer Umtriebe bezichtigt. Durch Verhöre wird er so weit zermürbt, bis er an die Verbrechen, deren er bezichtigt wird, zu glauben beginnt. Zugleich beginnt er das System von »Nummer Eins« (der Name Josef Stalin bleibt unerwähnt) zu durchschauen und seinen politischen Glauben zu verlieren. Die meisten seiner früheren Mitstreiter sind bereits liquidiert. Schließlich unterschreibt er ein falsches Geständnis, überzeugt, der Partei damit einen letzten Dienst zu erweisen.
Rubaschow wird zwischen den Verhören mit anderen, nicht kommunistischen Gefangenen konfrontiert, vor allem aber mit seiner eigenen Vergangenheit. Ein Prozess des Zweifelns und der Irritation beginnt, er erkennt die eigene Schuldverstrickung. So hat er früher die Geliebte verraten, als sie in die Fänge der GPU geraten war. Sein früherer Mitkämpfer Iwanow, der anfangs die Verhöre leitet, wird selbst verhaftet und abgelöst von dem jungen Genossen Gledkin, der den Typus des skrupellosen neuen Revolutionärs verkörpert.
Rubaschow gesteht sich ein, dass er den Begriff der Menschheit über den des Menschen gestellt hat. Am Ende verliert er auch den Glauben daran, er sei in der Rolle von Moses, dem man nicht mehr erlaube, das Land der Verheißung zu betreten: »Er sah nichts als die Wüste und die Finsternis der Nacht.« Der Roman endet mit Rubaschows Exekution.
Aufbau: Zwar würden die Gestalten des Romans auf Erfindung beruhen, erklärt Koestler, doch »die Umstände, die ihre Handlung bedingen«, würden auf Geschichte basieren. Das macht schon die Figur des Rubaschow deutlich, die mit ihrem Autor verwandt ist, aber auch Züge von Karl Radek (1885–1939?), Nikolai Bucharin (1888–1938) und Leo Trotzki (1879 bis 1940) trägt. Mit der morgendlichen Verhaftung zu Beginn wie mit der demütigenden Exekution zu Ende verweist Die Sonnenfinsternis auf den Roman Der Prozess (entst. 1914/15, ersch. 1925) von Franz R Kafka. Ein doppelter, scheinbar widersprüchlicher Prozess wird geschildert: zum einen die wachsenden Zweifel des Angeklagten und zum anderen dessen Instrumentalisierung als Opfer des Systems. Anschaulich gemacht wird diese Spannung von Faszination und Abscheu in den Verhören, die den Charakter geschichtsphilosophischer Debatten gewinnen. Durch die Parallelisierung mit der Französischen Revolution wird dem stalinistischen System ein philosophischer Glanz verliehen – gleichzeitig beschwört der Titel die Vergänglichkeit des Systems: Die Sonne der Vernunft soll wieder erstrahlen.
Wirkung: Neben den Romanen von George R Orwell und dem späteren Werk von Alexander R Solschenizyn ist Die Sonnenfinsternis zu einem der berühmtesten Romane über den Stalinismus geworden und zu einer »ideologischen Waffe« im Kalten Krieg. Vermutlich haben nur wenige andere Werke des 20. Jahrhunderts eine größere politische Wirkung entfaltet. Das Buch wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
Zu dieser Wirkung trug das fortgesetzte publizistische Engagement des Autors bei, aber auch die heftigen Reaktionen im kommunistischen Lager – so versuchte die französische KP vergeblich das Erscheinen des Buchs zu verhindern. Mit Humanismus und Terror (1947 )unternahm der französische Philosoph und Kommunist Maurice Merleau-Ponty (1908–61) den Versuch einer geschichtsphilosophischen Widerlegung von Koestlers Roman. M. Ro.