Wenn Flügel fallen

- Authors
- Buchhage, Nathalie
- Tags
- roman-fantasy
- Date
- 2023-06-23T07:00:00+00:00
- Size
- 0.31 MB
- Lang
- de
»Manchmal wünschte ich, ich wäre kein Engel. Ich will endlich auch leben!«
Iliana ist ein Engel – mit allen Pflichten und Freiheitsbeschränkungen, die dieser Status mit sich bringt. Ihr Aussehen, ihre Freunde, ihre Gefühle, alles wird ihr vorgegeben, Regelverstöße werden hart bestraft. Trotzdem wagt Iliana nächtliche Ausflüge in die Menschenwelt, um wenigstens einen Hauch von Freiheit zu erleben. Aber ihre Engelpräsenz in dieser Welt bleibt nicht unbemerkt. Der Incubus Kieran spürt sie auf und ist fasziniert von ihrer Fähigkeit, seiner Anziehungskraft zu widerstehen. Für Iliana aber ist es mehr. Auf einmal scheint sich ihr die Möglichkeit auf ein ganz anderes selbstbestimmtes Leben aufzutun und sie ist fest entschlossen, diese Chance zu nutzen – auch wenn es für sie das größte Risiko bedeutet.
Vorsichtig näherte sie sich dem Spinnentier.
»Eine Wolfsspinne.« Obwohl Iliana wusste, dass Kieran sich für so etwas nicht interessierte, fuhr sie fort. »Die zählen zu den Jagdspinnen. Vermutlich hat sie mich einfach als Teil der Natur gesehen und sich erschrocken, weil ich mich bewegt habe.«
Sie erinnert mich an mich selbst. Habe ich nicht ebenfalls in den Tag hineingelebt und bin meiner Bestimmung gefolgt, bevor ich ohne nachzudenken in eine potenziell tödliche Gefahr gerannt bin? Hat man mich nicht auch zu Boden geschleudert und als widerlich bezeichnet, während ich in Panik versucht habe, zu fliehen?
»Iliana?«
Es war, als würde ihr Name sie wieder in die Realität ziehen. Verwundert stellte sie fest, dass sie ihre Hand nach dem Tier ausgestreckt hatte. »Sie ist wie ich.«
»Hä?«
»Diese Spinne. Sie ist wie ich. Gefangen, zu Boden gestoßen und abgeschoben, weil sie ist, wie sie ist. Dabei ist sie auch etwas Besonderes.« Iliana berührte den gedrungenen Körper. »Sie frisst Schädlinge, hält Blattläuse fern und ist nützlich für die gesamte Agrarwirtschaft. Wer solche Tiere auf dem Feld hat, muss weniger Chemie versprühen.«
Sie zuckte zusammen, als die kleinen Härchen leicht in ihre Haut piksten. Iliana sah auf ihre Hand. »Sie versucht auch nur ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Sie folgt ihrem Instinkt und ich verurteile sie dafür.«
Vorsichtig hielt sie dem Tier ihre Hand hin. Als die vielen Beinchen ihren Arm berührten und dort die kleinen Haare bewegten, bildete sich auf ihrem ganzen Körper eine Gänsehaut.
»Hast du nicht gesagt, du hast Angst vor ihnen?« Er schien verwirrt.
Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. »Habe ich, aber soll ich sie deswegen verstoßen? Soll ich sie auf Abstand halten, weil sie anders aussieht?«
Als sie zu ihm schaute, meinte sie, Verständnis in seinen Augen zu erkennen, das sofort von Unglauben ersetzt wurde. »Du kannst von einer Spinne nicht auf die Allg-«
»Kann ich. Es beginnt bei kleinen Tierchen, die man verurteilt, weil sie anders ausschauen. Sie sollen ihrer Arbeit nachgehen, aber wir wollen sie dabei bloß nicht bemerken. Fallen sie auf, verstoßen wir sie; sprühen Gift, um sie zu verscheuchen oder zu töten. Das zieht sich dann durch bis zu Kleintieren und schließlich zu größerem Vieh. Je größer, desto eher wird der wahre Nutzen erkannt, aber abweichen darf keiner.«
Sie hielt inne und betrachtete die Spinne, die ihren Arm hinaufkletterte.