[Wissenschaftlich phantastische Erzählungen 03] • Das Zeitfahrrad

[Wissenschaftlich phantastische Erzählungen 03] • Das Zeitfahrrad

Mit der zweiten technischen Revolution und der Entwicklung der Wissenschaft zur Produktivkraft ist ein Anwachsen der wissenschaftlich-phantastischen Literatur einhergegangen – sind doch Wissenschaft und Technik ihr eigentlicher Nährboden. Und sie gewinnt mit Recht immer mehr an Bedeutung, vermittelt sie doch – in welch dichterisch-phantastischer Einkleidung auch immer – Einblicke in Zukunftsmöglichkeiten der Menschheit und stellt sie zur Diskussion. Zwar sind Reisen in die Zeit, wie sie Carl Grunert in „Das Zeitfahrrad“ zu Anfang dieses Jahrhunderts geschildert hat, auch heute nicht in dieser oder irgendeiner anderen Form (wie etwa der des „In-die-Zeit-Sehens“ mit Hilfe von Isaac Asimovs „Chronoskop“) der Verwirklichung näher gerückt, doch stehen wir in der Frage erreichbarer Geschwindigkeiten, also in Fragen der Weltraumfahrt, schon an der Schwelle zu Erscheinungen, die eine bisher nur mathematisch errechenbare Zeitdilatation denkbar machen – möglicherweise mit solchen Konflikten und Konsequenzen, wie sie Alexander Schalimow in „Wenn die Bildschirme schweigen“ schildert.

Überhaupt wird die Rückwirkung unserer sich immer schneller entwickelnden Zivilisation auf die Menschheit und das Einzelindividuum von Tag zu Tag erkennbarer. Dabei geht es nicht nur um Automation und Perfektion in vielen Lebensbereichen. Was Wissenschaft und Technik in ihrer Umsetzung auf kultureller Ebene bewirken könnten, davon gibt Sergej Snegow in „Albert Simagins Erfindung“ ein groteskes Beispiel. Von Clifford Simak wird die noch junge Wissenschaft Kybernetik, die schon heute Eingang in unzählige Arbeitsprozesse gefunden hat, in einer phantastisch vollendeten Robotergesellschaft dargestellt, die den Menschen in überraschender Weise zu dienen vermag. Günther Krupkat macht in seiner Erzählung „Das Duell“ gar den kühnen Sprung zur Biokybernetik, zur Schaffung „Halborganischer“ … Nicht mehr hinwegzudenken sind Raumfahrtthemen, und das nicht nur, weil der erdnahe Raum bis hin zum Mond vom Menschen schon erobert ist und im interplanetaren Raum von automatischen Sonden durchforscht wird – in der Weltraumfahrt werden Wünsche und Sehnsüchte der Menschen nach Weite, nach Unentdecktem, abenteuerlich Andersartigem, aber auch gleichzeitig nach Geborgenheit sichtbar, wie es Arthur C. Clarke in „Die Lieder der fernen Erde“ schildert. Und wenn heute schon riesige Drahtantennen – Radioteleskope – ihr Ohr ins Weltall recken, wenn an aufgefangenen Signalen der Radioastronomie versucht wird, eventuelle Sendungen ferner Zivilisationen zu identifizieren und zu entschlüsseln, dann bewegt Leser und Autor von Zukunftsliteratur gleichermaßen der Gedanke, wie solche auf fernen Planeten lebenden vernunftbegabten Wesen beschaffen sein könnten: menschenähnlich oder gar so, daß wir sie nicht einmal erkennen würden, wie A. Leman und H. Taubert in „Blinder Passagier“ es darlegen? Ob ähnlich oder fremdartig – eines können wir trotz einer in der Science Fiction weitverbreiteten Version getrost ausschließen: eine feindliche Invasion solcher Wesen oder gar kriegerische Auseinandersetzungen mit ihnen in der Tiefe des Alls.

Das Bild, das die wissenschaftliche Phantastik von der Zukunft malt, wäre nicht vollständig, wenn nicht auch die zähe Kleinarbeit gewürdigt würde, die eine so phantastische Zukunft erst ermöglicht: neue Technologien bei der Gewinnung von Bodenschätzen in Walentina Shurawljowas „Ein Diamant von 20.000 Karat“, aber auch skurriler Erfindergeist, von Maurice Renard am „Verhängnisvollen Schicksal Bouvancourts“ demonstriert.

Mit der Betonung mehr auf dem Phantastischen stellt sich Atanas Nakowski auf amüsante und nachdenklich stimmende Weise mit seiner Dimensionenspielerei vor („Ohne Schatten“) – und mit Lügengeschichten, die „Im Wirtshaus zum müden Gaul“ erzählt werden, versucht Gerhard Branstner zum Nachdenken über den realen Kern phantastischer Geschichten anzuregen.

Dies sind genauso Möglichkeiten literarischer Bewältigung unserer Thematik, wie Herbert George Wells’ Erinnerung an mögliche kosmische Katastrophen zeigt, daß die Menschheit immer und in aller Zukunft bereit sein muß, für ihren gesellschaftlichen Fortschritt zu kämpfen, um das, was nicht nur und vielleicht am allerwenigsten von außen auf uns zukommen kann, zu meistern – und daß wir immer auch das im Griff behalten, was wir an Gigantischem schon geschaffen haben und noch schaffen werden. Die Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlich-phantastischer Literatur und Wissenschaft und Technik mag bestritten oder überschätzt werden. Ich bin sicher, daß phantastische Ausblicke in die Zukunft – selbstverständlich nach dem Maß der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit – jedem Anregungen geben können. Darüber wollen wir jedoch nicht vergessen, daß unterhaltsam zu sein der Sinn aller Literatur ist.

 

Berlin, im Februar 1974

Edwin Orthmann