Fenster zur Unendlichkeit · 16 Begegnungen mit der Zeit

Fenster zur Unendlichkeit · 16 Begegnungen mit der Zeit

Zum Geleit

Seit sich der Mensch der engen Grenzen seiner zeitlichen Existenz bewußt wurde, und das heißt, seit er sich überhaupt als Mensch, abgesetzt gegenüber dem Tier, empfindet, hat ihn der Gedanke nicht losgelassen, diesem naturgesetzlichen Zwang vielleicht doch einmal ein Schnippchen zu schlagen. Die Aussicht, wenn schon nicht das „ewige“ Leben, so doch die Fähigkeit zu erwerben, frei in der Zeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu pendeln, scheint allzu verlockend. Wohl jeder von uns hat sich diesem Spiel der Phantasie insgeheim schon einmal hingegeben, denn in uns allen lebt der ständige Protest gegen das Eingespanntsein in eine winzige Phase Zeit, die mit jeder Sekunde unabänderlich und unwiederbringlich verrinnt. Was ist das überhaupt: Zeit? Was hat es auf sich mit diesem faszinierenden und unheimlichen Phänomen? Die Naturwissenschaft vermag uns nur wenig Auskunft zu geben. Gesicherte Erkenntnis ist im Grunde nur, daß sie eine Existenzform der sich bewegenden Materie darstellt. Engels hat es so formuliert: „Die sich bewegende Materie kann sich nicht anders bewegen als in Raum und Zeit.“ Zeit also als etwas primär Gegebenes, das notwendig da ist. Dabei verläuft die Bewegung der Materie in der Zeit – im Unterschied zur dreidimensionalen Bewegung im Raum – immer eindimensional, das heißt auf der Linie Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft. Zeit ist weder umkehrbar noch wiederholbar noch vorwegnehmbar. Ein arger Schlag für unsere phantasieträchtigen Träume, die es so gern anders hätten! Aber unbekümmert um rationale Erkenntnis träumt der Mensch weiter, und er hat sich dafür sogar ein spezielles Forum geschaffen: die phantastische Literatur. Auch gegen die wissenschaftliche Logik baut sie ihre bunten und unterhaltsamen Geschichten; um unser legitimes Phantasiebedürfnis zu befriedigen, entfaltet sie bildhaft vor uns, was geschähe oder geschehen könnte, wenn Unmögliches möglich würde.

Freilich, in den meisten Fällen will diese Literatur zugleich mehr, als nur einen unverbindlichen Traum entwerfen. Sie handelt von moralischen und psychologischen Problemen, die real in der Welt von heute existieren oder sich doch irgendwann einmal stellen könnten, wirft wesentliche gesellschaftliche oder politische Fragen auf. In phantastischer Gewandung strebt sie nach einer realistischen Aussage, im vergnüglichen Spiel soll dem Leser Bedenkenswertes vermittelt werden. Das bestimmt ihren Reiz und ihren Wert. Es erschien uns interessant, einmal ein paar Geschichten dieser Art, das heißt phantastische und zu einem geringeren Teil wissenschaftlich-phantastische Erzählungen mit dem Generalthema „Zeit“, in einem Band zusammenzustellen. Sie wurden ausnahmslos aus der Sowjetliteratur der letzten Jahre ausgewählt, die für unsere Zwecke ein besonders reichhaltiges Angebot bereithielt, sowohl was die Vielseitigkeit der Aspekte betrifft, unter denen das Thema behandelt wird, wie auch nach Verschiedenheit der Autorenhandschriften.

Unsere Auswahl vereint Schriftsteller mit bekannten Namen, die in der DDR bereits verlegt wurden, wie etwa Mejerow, Warschawski, Grigorjew, Larionowa und die Brüder Strugazki, mit jungen, nachgewachsenen Autoren, die hier erstmals vorgestellt werden. Sollte der Leser den einen oder anderen Namen vermissen, möge er uns deswegen nicht grollen. Vollständigkeit war nicht beabsichtigt. Uns ging es um eine möglichst bunte Mischung, die Ernstes und Heiteres, Problemreiches und Unterhaltsames, Strenges und Übermütiges verbindet.

Herbert Krempien

Berlin, Januar 1974