Besuchsreise

Besuchsreise
Authors
Gebert, Anke
Publisher
Virulent
Tags
familie , roman , wende , deutschland , konflikt , ddr , gegenwartsliteratur
Date
2011-12-02T00:00:00+00:00
Size
0.68 MB
Lang
de
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Caro, 37 Jahre alt, besucht zu Weihnachten ihre Eltern nach vielen Jahren Funkstille in der ehemaligen DDR. Sie selbst war als Jugendliche in den Westen geflohen. Sie wollte die Welt sehen und nutzte eine einzige Japan-Reise spontan zur Flucht. Für ihre zurückgelassenen Eltern bedeutete dies eine Katastrophe: Einschränkungen und Ausgrenzungen standen an der Tagesordnung. Dies hat der Vater seiner Tochter nie verziehen.

Die Wende liegt schon vierzehn Jahre zurück und nichts ist mehr, wie es einmal war:

Die Eltern scheinen der erfolgreichen Fotografin fremd. Es sollte doch ein Fest voller Harmonie werden, doch alte Konflikte und Misstrauen werden lebendig.

Als ein unerwarteter Besucher auftaucht, kommen die Geheimnisse der Vergangenheit endgültig zur Sprache.

»Authentisch und lesenswert.« Subway, Braunschweig

AUSZUG AUS DEM INHALT

Caros Flucht war nicht spektakulär gewesen. Sie war nicht verfolgt worden und hatte keine Wälder oder Flüsse durchqueren müssen. Sie hatte nicht so viel, wie es Tausende andere getan hatten, auf sich genommen.

Sie war nicht einmal geflohen, sie war einfach nur weggeblieben. Nicht in die Deutsche Demokratische Republik zurückgekehrt. Sie hatte nicht zwei Jahre lang auf die Genehmigung eines Ausreiseantrages gewartet. Sie hatte nicht erlebt, wie es war, wenn sich Verwandte, Freunde und Kollegen während der Warterei auf Ausreise ab wandten. Wie es war, wenn einem die Anstellung gekündigt und man in Arbeitslosigkeit entlassen wurde (obwohl es Arbeitslosigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik offiziell nicht gab). Jahrelanges Warten auf gepackten Kisten und Koffern, weil es jede Stunde so weit sein konnte, dass es hieß: »Innerhalb von vierundzwanzig Stunden müssen Sie das Land verlassen haben«, hätte Caro niemals auf sich genommen. Die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung der Ausreise wäre viel höher gewesen als die der Genehmigung. Der Fall der Ablehnung bedeutete: Aufgeben oder Neuantrag stellen – und erneut Wartezeit. Gleichgültig, ob ausreisewillige Menschen resignierten und in der DDR blieben oder irgendwann »rauskamen«, sie waren, davon war Caro überzeugt, nach dieser Erfahrung nicht mehr dieselben wie zu dem Zeitpunkt, als sie erstmalig den Mut aufgebracht hatten, Ausreiseanträge zu stellen. Dieses »Genehmigt« oder »Abgelehnt« stempelte man nicht nur auf die Papiere, sondern auch auf die Gemüter der jeweiligen Menschen. Stempel, die viele nie wieder los wurden. Caro hatte diese Leute immer für ihren Mut bewundert. Gleichzeitig hatte sie es als verantwortungslos empfunden, sich und seine Angehörigen jahrelang in der DDR Schikanen auszusetzen und naiv daran zu glauben, dass man diese unbeschadet überstehen könnte. Durfte man sein und das Leben anderer aufs Spiel setzen, um für immer ein Land zu verlassen? Caro hatte nie ernsthaft erwogen, in Körbe von Heißluftballons oder in Kofferräume zu steigen oder auf Luftmatratzen oder Surfbrettern über die Ostsee in den Westen zu fliehen.

Der Druck, aus der DDR rauszukommen, war für Caro nie so stark gewesen wie für andere Menschen. Ihr war es in diesem Land immer gut gegangen. Jeder musste für sich selbst entscheiden. Doch war es nicht anmaßend, für seine Kinder mit zu entscheiden und diese ebenfalls der Lebensgefahr auszusetzen? Tausende gescheiterte Fluchtversuche, deren Opfer jahrelanger politischer Haft ausgesetzt waren. Kinder kamen in Heime, manche wurden zwangsadoptiert. Andere Flüchtlinge wurden zwischen 1961 und 1989 an der Grenze erschossen.