Johann Wolfgang Goethe: "Faust. Eine Tragödie"
- Authors
- Keller, Werner
- Tags
- lyrik & gedichte & prosa
- Date
- 0101-01-01T00:00:00+00:00
- Size
- 0.21 MB
- Lang
- de
Captain Hutton, einer der vielen reisenden Engländer, die Weimar besuchten, gestand in einem Gespräch mit Goethe (vom 10. Januar 1825), dass er – nach Egmont und Tasso – nun den Faust lese: »Ich finde aber, daß er ein wenig schwer ist.« Lachend erwiderte Goethe, dass er ihm zu dieser Lektüre nicht geraten hätte: »Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus.« Faust sei, fuhr Goethe fort, ein »seltsames Individuum« und – wie Mephisto – schwer zu verstehen: »Doch sehen Sie zu, was für Lichter sich Ihnen dabei auftun.« Der Gelehrtenfleiß mehrerer Generationen hat uns in der Zwischenzeit viele Lichter aufgesteckt – jeder Vers ist dutzendfach kommentiert, jede Szene hundertfach interpretiert. Der Kenntniszuwachs im Detail wird ergänzt durch den Erkenntnisgewinn, den veränderte geschichtliche Erfahrungen vermitteln: Auch die Auffassung eines Kunstwerks wandelt sich mit den Wandlungen der Folgezeit, und jede Gegenwart findet neue Probleme vor, die dem historischen Text neue Aspekte abverlangen. Die rezeptionsbedingte Metamorphose, die Faust aufgrund seiner Breitenwirkung durchmachte, stellt die Aufgabe, einen unmittelbaren Zugang zu diesem durch Bühne und Schule verstellten Drama zu suchen und seinen geschichtlichen Ort zu bestimmen. Jede Generation ist daher aufgerufen, den überkommenen Urteilen eine Neuwertung abzugewinnen. Das gegenwartsorientierte Verstehen der Vergangenheit will das © 1992, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.