[Ronco 355] • Der Geächtete
- Authors
- Elliot, Jim
- Publisher
- Pabel/Möwig Verlag
- Tags
- heft-ronco
- Date
- 0101-01-01T00:00:00+00:00
- Size
- 0.17 MB
- Lang
- de
5. März 1882
Ich schildere etwas aus meinem Leben, das jeder von uns schon einmal erlebt haben wird. Etwas, das keinem von uns erspart bleibt, weil es notwendig zu der menschlichen Existenz gehört.
Ich spreche von einer Krise.
Vielleicht kennen manche, die diese Zeilen einmal lesen werden, so etwas nicht. Vielleicht steht sie ihnen erst noch bevor. Aber jeder, der ein verantwortliches Dasein in dieser Welt zu erfüllen hat, wird um eine Krise nicht herumkommen.
Ich habe inzwischen viele Krisen in meinem Leben durchstehen müssen. Doch ich kann sie nicht mit dieser einen vergleichen, die auch heute noch meine Erinnerung und meine Träume beschäftigt, als wäre sie gestern erst geschehen. Das sind Pannen gewesen, Fehlschläge, aber nicht die Krise schlechthin. Davon ist die Rede.
Von einer Krise, die so groß und ungeheuerlich ist, das alle anderen Erlebnisse daneben in der Erinnerung verblassen; weil sie auch anders hätten ablaufen können oder gar nicht. Weil sich unser Dasein dadurch nicht veränderte oder nur eine unbedeutende Wendung nahm. Pannen sind vermeidbar oder reparabel. Aber die echte Lebenskrise kann uns vernichten, uns aus der Bahn werfen oder dem Dasein eine radikale Wendung zum Guten oder Schlechten geben. Auf jeden Fall ist der Mensch, den sie trifft, nie mehr das, was er vor ihr gewesen ist.
In meinem Leben war der 11. Juni 1866 das Datum, mit dem sich mein Dasein radikal änderte. Das war der Tag, an dem ich zwar eine schlimme Katastrophe überlebte, aber der Mensch, der ich bislang gewesen war, ausgelöscht wurde.
Was sich an konkret nachweisbaren Dingen damals in Halcon Canyon und in Fort Calhoun in Texas abgespielt hat, ist in den Annaleu der Armee und in den Archiven der Presse und der Ministerien in den verschiedensten Versionen schriftlich festgehalten. Sie enthalten das, was man so gemeinhin als Wahrheit zu bezeichnen pflegt. Nüchterne Zahlen von Menschenopfern, von Verlusten an Material und Soldaten, die ihr Leben im Dienst für die Nation verloren. Beschreibungen der geographischen Begebenheiten und historische Voraussetzungen eines Indianeraufstandes, der zu diesen Verlusten führte. Untersuchungsberichte von Militärgerichten, die sich mit Schuldfragen beschäftigen mußten. Und unzählige Zeugenaussagen von Personen, die in die Katastrophe verwickelt waren. Allerdings haben sie mit der Wahrheit dieses Tages wenig oder gar nichts zu tun.
Ich habe das alles in meiner letzten Tagebuchaufzeichnung beschrieben, was zu diesem tragischen Ereignis im Halcon Canyon führte. Ich habe die Katastrophe selbst beschrieben, die ich als einziger Beteiligter überlebte, und auch die Gefühle geschildert, die mich während des Überfalls ergriffen. Das unbeschreibliche Entsetzen eines jungen Menschen angesichts einer grauenhaften Tat. Aber alles das hat nur mittelbar mit meiner Krise zu tun. Sie hängt nicht von der Größe oder Wucht eines äußeren Ereignisses ab, sondern allein von der augenblicklichen Beschaffenheit des Menschen, den sie trifft.
Man kann sagen, daß das Schicksal einen Menschen erst auf das vorbereiten muß, was für ihn zu einer Krise werden soll. Manchen kann der Anblick einer Schlacht mit Tausenden von Opfern relativ unberührt lassen, weil dieses Ereignis nichts mit seinem persönlichen Schicksal oder seiner Bestimmung zu tun hat. Es mag ihn aufrütteln oder tief beeindrucken, aber es bedeutet für sein Leben nicht die Wendemarke, den Umsturz, die Entscheidung.
Für mich war der 11. Juni 1866 das wichtigste Datum seit meiner Geburt. Und vielleicht wird es auch das wichtigste Datum bis zu meinem Tod bleiben.
So wichtig ist die entscheidende Krise in dem Leben eines Menschen. Und nicht das äußere Ereignis, das eine Krise auslöst, ist wichtig – des kann eine ganz banale, belanglose Sache sein –, sondern wie der Mensch, dem das Schicksal sie als Prüfung auferlegt, damit fertig wird. Denn eine Krise trifft ihn meistens unvorbereitet.