[Gutenberg 45163] • Persönlichkeit
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- Authors
- Tagore, Rabindranath
- Publisher
- Transcript
- Tags
- speeches , philosophy , religion , self (philosophy) , indic , personality , addresses , etc.
- Date
- 1985-12-01T00:00:00+00:00
- Size
- 0.13 MB
- Lang
- de
Persönlichkeit by Rabindranath Tagore
WIR stehen dieser großen Welt Auge in Auge gegenüber, und mannigfach sind unsre Beziehungen zu ihr. Eine derselben ist die Notwendigkeit zu leben: wir müssen den Boden beackern, uns Nahrung suchen, uns kleiden, und zu allem muß uns die Natur den Stoff liefern. Da wir unausgesetzt bemüht sein müssen, unsre Bedürfnisse zu befriedigen, sind wir in beständiger Berührung mit der Natur. So halten Hunger und Durst und all unsre physischen Bedürfnisse die stete Beziehung zu dieser großen Welt aufrecht.
Aber wir haben auch einen Geist, und dieser Geist sucht sich seine eigene Nahrung. Auch er hat seine Bedürfnisse. Er muß den Sinn der Dinge finden. Er steht einer Vielfältigkeit von Tatsachen gegenüber und ist verwirrt, wenn er kein einheitliches Prinzip finden kann, das die Verschiedenartigkeit der Dinge vereinfacht. Der Mensch ist so veranlagt, daß er sich nicht mit Tatsachen begnügen kann, sondern gewisse Gesetze finden muß, die ihm die Last der bloßen Zahl und Menge erleichtern.
Doch es ist noch ein drittes Ich in mir neben dem physischen und geistigen, das seelische Ich. Dies Ich hat seine Neigungen und Abneigungen und sucht etwas, das sein Bedürfnis nach Liebe erfüllt. Dies seelische Ich gehört der Sphäre an, wo wir frei sind von aller Notwendigkeit, wo die Bedürfnisse des Körpers und des Geistes keinen Einfluß haben, wo nach Nutzen oder Zweck nicht gefragt wird. Dies seelische Ich ist das Höchste im Menschen. Es hat seine eigenen persönlichen Beziehungen zu der großen Welt und sucht persönliche Befriedigung in ihr.
Die Welt der Naturwissenschaft ist nicht eine Welt der Wirklichkeit, sondern eine abstrakte Welt der Kräfte. Wir können sie uns mit Hilfe unsres Verstandes zunutze machen, aber wir können sie nicht mit unsrer Seele erfassen. Sie gleicht einer Schar von Handwerkern, die, wenn sie auch Dinge für uns als persönliche Wesen herstellen, doch bloße Schatten für uns sind.
Aber es gibt noch eine andre Welt, die Wirklichkeit für uns hat. Wir sehen sie, wir fühlen sie, wir nehmen mit all unsern Empfindungen an ihr teil. Doch wir können sie nicht erklären und messen, und daher bleibt sie uns ewig geheimnisvoll. Wir können nur in freudigem Erkennen sagen: „Da bist du ja.“
Dies ist die Welt, von der die Naturwissenschaft sich abwendet, und in der die Kunst ihren Sitz hat. Und wenn es uns gelingt, die Frage, was Kunst ist, zu beantworten, so werden wir auch wissen, was für eine Welt es ist, mit der die Kunst so nahe verwandt ist.
Es ist an sich keine wichtige Frage. Denn die Kunst wächst wie das Leben selbst aus eigenem Antrieb, und der Mensch freut sich an ihr, ohne daß er sich genau klar macht, was sie ist. Und wir könnten diese Frage ruhig im Untergrunde des Bewußtseins schlummern lassen, wo alles Lebendige im Dunkel gehegt und genährt wird.