Arztschreiber in Buchenwald

Das Buch wurde von mir in den April- und Maitagen des Jahres 1945 unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches anhand von kargen und aus Vorsichtsgründen getarnten Notizen geschrieben, die ich in den ersten Monaten nach meiner Entlassung aus dem Konzentrationslager im Jahre 1940 angelegt hatte. Es bestand dabei nicht die Absicht, das Buch alsbald der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Denn ich wußte, daß die Aufzeichnungen auch ein Handbuch des Bösen werden würden, und befürchtete, daß sie in den bevorstehenden schweren Jahren neue irrationale Bezirke nähren und objektive Maßstäbe vernebeln könnten. Mein Gefühl sagte mir, daß der dem Bericht zugedachte Sinn erst in einer Zeit erfüllt werden könnte, die fähig und aus innerer Notwendigkeit heraus bereit sein würde, diesen dunkelsten Abschnitt deutscher Geschichte fruchtbar zu überwinden.

Seit der ersten Auflage sind vierzehn Jahre vergangen.

Heute ist es unumgängliche Verpflichtung geworden, die unheilvolle Vergangenheit zu bewältigen. Die Öffentlichkeit kann und will ihr nicht mehr ausweichen. Der Leser wird unschwer erkennen, daß dieses Buch geschrieben wurde, um Türen aufzustoßen, die vielen Menschen verschlossen gewesen sind und vielleicht auch heute noch verriegelt sein mögen. Es sind jene Türen, durch die jeder gehen muß, wenn er ein würdiges Menschentum leben und eine bessere Menschenordnung mitbauen will.

Beim Schreiben des Buches standen hinter mir die Schatten von 238 379 Häftlingen, die durch das Lager Buchenwald gingen, und von 56 545 Menschen, die dort ermordet worden sind. Möge das Buch ein Baustein für eine bessere Zukunft sein! Dortmund, den 24. April 1960 Der Verfasser