Ich war ein Glückskind · Mein Weg aus dem Nazideutschland mit dem Kindertransport
- Authors
- Charles, Marion
- Publisher
- cbj Verlag
- Tags
- [kinder]
- ISBN
- 9783641120443
- Date
- 2012-12-31T23:00:00+00:00
- Size
- 1.27 MB
- Lang
- de
Bis zum Alter von neun Jahren ging ich wie selbstverständlich davon aus, meine Mutter sei Engländerin.
Als Kind wusste ich nur, dass sie in Cambridge aufgewachsen war, an der London School of Economics studiert hatte, William Shakespeare, Charles Dickens und Rupert Brooke liebte und immer aufstand, wenn im Radio »God Save the Queen« gespielt wurde.
Ehrlich gesagt hat sie mich auch immer an die Königin von England erinnert, die Queen, nur dass ich sie noch schöner fand.
Und sie war nicht nur schön, sie war auch freundlich und klug. Sie schrieb Kurzgeschichten für mich, kleine Theaterstücke und auch Gedichte.
Den Anfang eines ihrer Gedichte kenne ich noch heute auswendig:
Mamas sind zum Küssen und Knuddeln da,
sind sie weit weg, vermisst man sie unsagbar.
Was diese Worte bedeuteten, begriff ich erst, als ich mit neun Jahren zum ersten Mal die autobiografischen Aufzeichnungen meiner Mutter las.
Sind Mamas weit weg, vermisst man sie unsagbar. Aber natürlich! Meine Mutter hatte ihre eigene Mutter so viele Jahre entbehren müssen. Und auch ihren Vater. Und nun bereitete sie mich in gewisser Weise darauf vor, dass auch ich sie eines Tages vermissen würde.
Erst als ich ihre Aufzeichnungen las, wurde mir schlagartig klar, dass meine Mutter gar keine Engländerin war. Sie war eine deutsche Jüdin.
Über die Vergangenheit meiner Mutter hatte ich davor nichts gewusst, wohl aber, dass meine Großmutter Deutsche war. Alles an ihr war deutsch, sehr deutsch. Nicht nur ihr Akzent; sie war deutsch in allem, was sie sagte und tat.
Zum Geburtstag schenkte sie mir Katzenzungen, zum Sonntagskaffee buk sie Honigkuchen. Sie schimpfte »Zum Donnerwetter!«, wenn ich ungezogen war, und wenn sie »unser Kaiser« sagte, hätte man meinen können, sie rede vom lieben Gott persönlich.
Oh ja, meine Großmutter war Deutsche, daran bestand kein Zweifel.
Doch erst aus den Aufzeichnungen meiner Mutter erfuhr ich, dass sie und auch meine Großmutter Jüdinnen waren.
Ich wusste nichts über Juden oder über den jüdischen Glauben.
Meine Mutter hatte es so gewollt.
»Ich wollte dir ersparen, was ich durchgemacht habe«, sagte sie, lange nachdem ich ihre Aufzeichnungen gelesen hatte.
Mutters Aufzeichnungen zu lesen hat meine Welt auf den Kopf gestellt und mir auch Angst gemacht.
So erfuhr ich die Wahrheit über die Herkunft meiner Mutter, das Schicksal ihres Vaters, ihrer Großeltern, ihrer gesamten Familie und über ihre eigene nervenaufreibende Reise in die Freiheit – und die Bilder und Worte, die ihre Geschichte in mir wachrief, erschütterten mich zutiefst.
Kristallnacht, Gestapo, SS, Kindertransport, Auschwitz, Theresienstadt, Adolf Eichmann, Gaskammern, Leichen, Tod und Vernichtung.
Diese Worte und Bilder waren so mächtig, so real für mich, dass ich nach der Lektüre damals als Neunjährige zwei Jahre lang glaubte, dass meiner Mutter nach meinem zehnten Geburtstag etwas sehr Schlimmes zustoßen würde, wir getrennt werden und uns niemals wiedersehen würden.
Zum Glück verlief mein zehnter Geburtstag sehr friedlich und niemand nahm mir meine Mutter weg oder mich ihr.
Aber sicher und beschützt habe ich mich danach nicht mehr gefühlt. Eigentlich nie mehr nach jenem verhängnisvollen Tag, als ich die Aufzeichnungen meiner Mutter zum ersten Mal gelesen hatte.
Seit damals waren selbst kleine, unbedeutende Dinge mit Traurigkeit behaftet, wie zum Beispiel das Lied Hänschen klein:
»Hänschen klein, ging allein,
in die weite Welt hinein.
[…]
Aber Mama weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr …«
Oder wie Dorothy im Zauberer von Oz, die von einem Land träumt, von dem sie einst in einem Kinderlied gehört hat.
Oder wie ET, der sich danach sehnt, nach Hause zurückzukehren.
Dann war da noch die schmerzliche Last ihrer Vergangenheit. Der Schmerz, der mich beim Anblick des goldenen Medaillons meiner Mutter überfiel, in dem sich zwei verblasste kleine Fotos ihrer Eltern befanden, denen meine Mutter als Kind jeden Abend einen Gutenachtkuss gegeben hatte.
Der Türkisring, in den die Worte »Gott mit Dir« eingraviert waren und den ihre Eltern ihr schenkten, bevor sie sie aus Deutschland wegschicken mussten.
Und ein vergilbter gehäkelter rosafarbener Schal.
Es gab auch die vielen Unterlagen, die Mutters Geschichte belegten: ihre Tagebücher, die herzzerreißenden Briefe, die ihre Eltern ihr geschickt hatten, die vielen betont fröhlichen Briefe, die sie zurückschrieb (ihre Mutter hat sie gesammelt und dann mit nach England gebracht – nur so blieben sie erhalten), die Kurznachrichten, die sie einander über das Rote Kreuz zukommen ließen, jeweils mit den erlaubten 25 Wörtern, so voller Liebe und Sehnsucht.
Der vorliegende Roman basiert auf diesen Unterlagen, sowie auf der Autobiografie, die meine Mutter in den Sechzigerjahren geschrieben hat.
Diese Autobiografie konnte allerdings nie veröffentlicht werden, da ein Mitglied von Mutters Familie strikt dagegen war, in Mutters Buch erwähnt zu werden.
Das hat dazu geführt, dass das vorliegende Buch zwar zum größten Teil sachlich richtig ist, doch da dieses eine Familienmitglied wegfallen musste und auch einige Namen aus rechtlichen Gründen geändert wurden, kann dieser Roman nicht zu hundert Prozent als Tatsachenroman gelten.
Interessiert und unerschrocken und großmütig wie meine Mutter ist, kehrte sie im Jahr 1974 nach Deutschland zurück, in das Land, das ihr das Herz brach, um dort als Lehrerin zu arbeiten.
Ausgerechnet die Enkelin von Adolf Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen für die Durchführung von Hitlers »Endlösung«, war eine der ersten Schülerinnen an der Sprachschule meiner Mutter in Konstanz.
Meine Mutter war nicht nur sehr freundlich zu Eichmanns Enkelin, sie verhalf ihr sogar zu ihrer ersten Anstellung. »Ihr Großvater ist tot«, sagte sie sich, »ich dagegen lebe noch.«
Meine Mutter erhielt vom deutschen Staat eine Wiedergutmachung für das Unrecht, das sie und ihre Familie während des Holocausts erlitten hatten, und diese Geldsumme spendete sie für die Kinder des Pestalozzi-Kinderdorfes in England.
Diese Kinder waren keine Juden, sondern Kinder von Sklavenarbeitern aus Osteuropa, die unter dem Naziregime gelitten hatten, und meine Mutter widmete diesen Kindern ihre Zeit und die Reparationszahlungen, um ihnen eine glückliche Jugend zu schenken – eine weitaus glücklichere, als sie selbst gehabt hatte, obwohl sie niemals auf die Idee käme, ihre eigene Jugend als unglücklich zu bezeichnen.
Als ich meine Mutter vor einigen Jahren versehentlich als »Überlebende des Holocausts« bezeichnete, widersprach sie vehement.
»Nein, Wendy, das trifft auf mich nicht zu«, sagte sie. »Ich war kein Opfer des Holocausts. Ich konnte entkommen. Ich hatte Glück. Ich habe überlebt.«
Meine Mutter hat diese düsteren Jahre tatsächlich überlebt.
Doch der Preis war hoch und die Wunden waren tief.
Man sah und sieht meiner Mutter diese Wunden nicht an. Eine Zeit lang litt ich wegen der Vergangenheit meiner Mutter unter Albträumen, sie nicht!
Sie war und ist ein fröhlicher, positiver und optimistischer Mensch, und noch heute, mit Mitte achtzig, sagt sie im Brustton der Überzeugung: »Ich habe Glück gehabt, ich war ein Glückskind …«
Dieser Meinung kann ich mich nicht unbedingt anschließen. Eines aber weiß ich ganz sicher: Ich bin ein Glückskind, weil Marion Charles meine Mutter ist und weil ich bei dieser außergewöhnlichen Frau aufwachsen durfte, deren Lebensgeschichte halb Märchen und halb Albtraum ist. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das zu einer Augenzeugin der Geschichte wurde, eines Teenagers in einer Welt, die komplett aus den Fugen geraten war, und einer Frau, deren unbezähmbarer Wille für mich eine Quelle der Inspiration und ein Segen ist.