[Gutenberg 47106] • Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte
- Authors
- Dornblüth, Otto
- Publisher
- LEIPZIG VERLAG VON VEIT & COMP
- Tags
- psychiatry -- early works to 1900
- Date
- 2014-10-15T00:00:00+00:00
- Size
- 1.66 MB
- Lang
- de
Die Psychiatrie beginnt, die ihr zukommende Stellung in der Ausbildung des Arztes einzunehmen. Der Besuch der psychiatrischen Klinik ist nunmehr für die Studierenden verbindlich geworden, und der § 45 der Prüfungsordnung vom 28. Mai 1901 bestimmt: »Die Prüfung in der Irrenheilkunde wird von einem Examinator in der Irrenabteilung eines größeren Krankenhauses oder in einer Universitätsklinik abgehalten und ist an einem Tage zu erledigen. In Gegenwart des Examinators hat der Kandidat einen Geisteskranken zu untersuchen, die Anamnese, Diagnose und Prognose des Falles sowie den Heilplan festzustellen, den Befund sofort in ein vom Examinator gegenzuzeichnendes Protokoll aufzunehmen und hierauf in einer mündlichen Prüfung auch an anderen Kranken nachzuweisen, daß er die für den praktischen Arzt erforderlichen Kenntnisse in der Irrenheilkunde besitzt.«
Nachdem so von den angehenden Ärzten das Studium der Psychiatrie verlangt wird, werden sich auch die Praktiker dieser Aufgabe nicht mehr entziehen können, wenn sie nicht zurückbleiben wollen. Es ist leider nicht zu bestreiten, daß zahlreiche Geisteskranke die Aussicht auf Heilung verlieren, ihre Familie schädigen oder durch Selbstmord enden, weil der befragte Arzt den Zustand unrichtig beurteilte und nicht die richtigen Mittel vorschlug. Es ist ferner nicht zu verkennen, daß das ärztliche Ansehen manchen Stoß bekommen hat, weil Ärzte vor Gericht oder in der Praxis verkehrte Urteile über krankhafte oder gesunde Geisteszustände abgegeben haben. Dazu kommt noch, daß ein richtiges Urteil über die zahllosen Grenzzustände und über die so verbreiteten Neurosen mit ihren psychischen Eigentümlichkeiten nur durch psychiatrische Vorbildung gewonnen werden kann.
Um die Art Geisteskranker und den ärztlichen Verkehr mit ihnen kennen zu lernen, ist der Besuch der psychiatrischen Klinik unentbehrlich; ein gesichertes Urteil für den einzelnen Fall läßt sich aber nur durch das Studium eines systematischen Lehrbuches gewinnen. Daß dazu ein kurzes Buch mit knappen und klaren Schilderungen oft besser ist als ein umfangreiches Lehrbuch, das die feinsten spezialistischen Beobachtungen wiedergibt, dürfte unbestreitbar sein. In der ausführlichen Behandlung der für die Praxis so wichtigen Grenzzustände sowohl, wie in einer auf die ärztliche Praxis berechneten Darstellung der Therapie sucht unser Buch den Ansprüchen des Arztes besonders gerecht zu werden.