Das Great Stone Face

Die theoretische Betrachtung des Komischen veranlaßt einen leicht zu der Frage, weshalb die sonst so eifrigen Zensoren solche Schaustellungen Kindern nicht vorenthalten, sondern sie im Gegenteil für nützlich befinden. Man denke nur an den weißen Clown, diesen Tyrannen, der bis zum Sadismus auf der Pflicht beharrt, und den Hanswurst, der sich anschließend aufs grausamste rächt und sich dabei begeistert auf die Schenkel schlägt. Was für gewaltsame Mechanismen es sind, die das Lachen provozieren, was für eine Disparatheit der Verhältnisse, kann man am drastischsten dort sehen, wo das Übermaß der Ohnmacht, das jähe Leid, in Lachen umschlägt. So das Lachen von Anna Magnani zum Schluß von LA VOCE HUMANA. Oder jene Überlebenden der Pest, von denen Chronisten berichten, daß sie von Lachkrämpfen geschüttelt zwischen den Leichen ihrer Angehörigen, Freunde und Nachbarn umherirrten. Oder das Lachen Melmoths.

Auf eine besondere Weise gilt dies für Keaton, was schon sein Great Stone Face, sein stets gleichbleibendes, melancholisches Gesicht zeigt.[18] Es gibt zwei Umstände, zu denen ein solches versteinertes Gesicht gehört: Nachdenklichkeit und eine Situation, in der man sich keine Gefühle leisten kann (insofern ist die Variante pokerface besser, weil sie beides vereinigt). Für Keaton aber gibt es zeitlebens nur diesen Zustand: Gefühle gelten nicht, dieser Mensch ist ganz davon absorbiert, die Probleme zu bewältigen, mit denen er stets von neuem konfrontiert ist: »… ich würde es als selbstverständlich ansehen, daß ich verstehen müßte, was ich tue, und sogleich beginnen müßte, zu verstehen und zu handeln. Und natürlich würde ich Verwirrung stiften – das würde mir passieren, weil ich nichts davon verstehe, was ich tue, aber immer einen Versuch machen würde« (Keaton). Nur einen einzigen Film gibt es, in dem Keaton einmal lacht und dafür später weint (CONEY ISLAND/1917): Um einen Festzug besser zu sehen, ist er auf eine Säule geklettert, und in einem plötzlichen glücklichen Lachen vergißt er seine Lage und klatscht in die Hände und wird sofort durch einen unsanften Sturz in die rauhe Wirklichkeit zurückgerufen. Denn was Buster Keaton, dieser weiße Clown par excellence, macht, ist bei genauerer Betrachtung ganz und gar nichts Lustiges. Er geht mit der Strenge des weißen Clowns gegen sich selbst an. Henri Bergsons Anmerkung über das maskenhafte Komikergesicht klingt fast wie ein Kommentar zu Keaton: »So endgültig, als sei das ganze Seelenleben eines Menschen darin zu Stein erstarrt.«

Die Ungleichheit des Kampfes und die letztendliche Bewältigung der Probleme sind die Quelle der Keatonschen Komik. Fast immer sind es Dinge, mit denen Keaton zu kämpfen hat, und in fast allen Filmen kommen auch Maschinen vor, die ihm zunächst fremd und feindlich gegenüberstehen. Die List der Vernunft, mit der er ihrer auf seine eigene verquere Weise Herr wird, ist das einzige Glück, das Keaton kennt: Allein, dieses Glück reicht nicht aus, um die Trauer aus seinem Gesicht zu bannen. Er vergißt nie, daß ihm das Kämpfen aufgezwungen ist. Und die Regeln, an die er sich mühselig angepaßt hat (seien es die des Wilden Westens, der Ingenieurtechnik, des Sports, der Brautwerbung oder des Kampfes, des Krieges selbst), überwinden die unendliche Ferne zwischen seinem vereinzelten Ich und seinem Nächsten nur scheinbar; an dem Motto »Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand« ändert sich nichts. Er kämpft nicht, weil er ein Kämpfer ist oder weil ihm die Regeln etwas gelten. In der Unterworfenheit ist er das Opfer; die Unterwerfung ist sein Reflex darauf. (Womit auch klar ist, warum die liberale Auffassung, die seine individuelle Handhabung der Regel, seinen Individualismus, gegen die Unterwerfung ausspielt, nicht Keatons Melancholie erklären kann bzw. falsch erklärt.) Einmal, in GO WEST (1925) erlaubt er sich mit seinem Gesicht einen bösen Witz. Er beschuldigt einen Pokerspieler des Falschspiels, worauf dieser antwortet: »When you say that, smile

Die verhaltene Lebendigkeit dieses versteinerten Gesichts ist in Szenen scheinbaren Glücks am sinnfälligsten: Keaton hält als Lohn seiner Mühe ein Mädchen im Arm und blickt mit wenig beglückten, eher großen erschrockenen Augen in die Kamera (was besonders wirkungsvoll ist in der viragierten Fassung von SAPHEAD/1920). Diese sprachlose Trauer über das, was er sich selbst antun muß, um zu überleben, konnte übrigens gar nicht anders als in einem Film ohne Sprache, im Stummfilm, realisiert werden. »Er war in seinem ganzen Stil und Typus der stummste aller Stummfilm-Komiker …« (James Agee).

Und wenn Buster die Wahl hat, sich zu entscheiden, für ein geliebtes Mädchen oder ein geliebtes Ding, so fällt seine Wahl auf seine Lokomotive, an der er liebevoll mit dem Schraubenschlüssel herumbastelt, oder seine Kuh, der er, weil ohne Hörner, liebevoll ein Hirschgeweih montiert (THE GENERAL/1926 und GO WEST). Manchmal wird auch Busters Mädchen selbst zu einem leblosen Ding, wie die eingeschlafene Braut in SPITE MARRIAGE (1929) oder die ohnmächtige Geliebte in THE NAVIGATOR (1924). Einmal in THE GENERAL versucht er sogar seine Geliebte zu erwürgen, entschließt sich aber dann in letzter Sekunde, sie zu küssen. Es ist sicher kein Zufall, daß die geradezu surrealistische Verselbständigung von Mensch und Ding in Zeit und Raum bei Keaton mit der gleichnamigen Kunstrichtung in dieselbe Dekade fällt. In STEAMBOAT BILL JR. (1928) rollt sogar ein Hospitalbett in einem Zyklon mitten in einen Pferdestall. Durch Elemente dieser Art wird der Zyklon in diesem Film noch schrecklicher als der bei Harry Langdon in TRAMP TRAMP TRAMP (1926). Der Film OUR HOSPITALITY (1923) ist voll von Surrealismen, die ihrerseits z.T. schon wieder auf ältere Muster zurückgreifen. So ist die Eisenbahn, die sich vom Gleiskörper entfernt, ein Reflex auf Méliès’ LE VOYAGE AU TRAVERS L’IMPOSSIBLE (1904). »Das filmische Äquivalent zum Surrealismus ist nur in diesen Streifen zu finden. Viel surrealistischer als die von Man Ray«, meinte Buñuel 1929. G. Deleuze und F. Guattari bezeichnen Keaton als einen »der größten Künstler von Wunschmaschinen«. Allemal sind die Grenzen von Realität und Traum verwischt. Die Keystone Kops sind nicht mehr eine Truppe durchgedrehter, grotesker Ordnungshüter, hier herrscht nicht mehr der fröhliche Nonsens eines Edward Lear; in THE GOAT (1921) und COPS (1922) bricht über Buster eine stampede von Polizisten herein, eine ganze Armee von Polizisten, verbissen und hartnäckig wie Buster selbst, setzt ihm nach.

Die Realität ist ein Alp (STEAMBOAT BILL JR., SEVEN CHANCES / 1926, THE NAVIGATOR), und die Träume sind überklar und realistisch (DAY DREAMS / 1922, SHERLOCK JUNIOR / 1924, THE THREE AGES / 1923, THE PLAYHOUSE / 1921, THE HAUNTED HOUSE / 1921). Kurz, für Buster gibt es keine Flucht in den Traum, Traum und Realität sind einander reversibel. Es ist wie bei Kafka, der sagt, seine Geschichten seien eine Art, die Augen zu schließen. Deshalb auch seine sardonischen Kommentare auf die Traumfabrik. So seine Happy-End-Karikaturen: In COPS / 1922 erscheint »The End« als sein eigener Grabstein; in THE PALEFACE / 1921 hält Buster im Schlußbild die Tochter des Indianerhäuptlings fest umschlungen, Zwischentitel: »zwei Jahre danach«, und dann wieder das festumschlungene Paar: in THE BLACKSMITH / 1922 begeben sich Buster und Virginia Fox auf Hochzeitsreise, der Zug fährt über ein Viadukt, entgleist und stürzt ab, dann sieht man, daß es eine Spielzeugeisenbahn ist, die Buster, längst im trauten Heim, zum Vergnügen von Weib und Kind betreibt. Oder THE PLAYHOUSE, in dem Keaton die Publicitysucht, insbesondere eines gewissen Ince, aufs Korn nimmt. In THE THREE AGES schließlich karikiert er BEN HUR und INTOLERANCE: überhaupt Parodien der Ära Griffith am laufenden Band, BIRTH OF A NATION, TOL’ABLE DAVID, WAY DOWN EAST … Für THE GENERAL hat Keaton die Bürgerkriegsfotos von Matthew Brady mindestens genauso gründlich studiert wie Griffith für BIRTH OF A NATION (1914), nur daß sie in Keatons Kontext einen sardonischen Kommentar erhalten. Busters geliebte Kuh aus GO WEST heißt »Brown Eyes«, genauso wie eine Heroine aus INTOLERANCE. Was ihn am Film interessiert, das ist auch hier seine materiale, nüchtern technische Seite, das Know-how; da er letztendlich sein eigener Regisseur war, unterscheiden sich seine Filme in ihrer filmischen Qualität fundamental vom übrigen Slapstick. Buster »lived in the camera«, sagte Fatty Arbuckle, dessen Partner Keaton von 1917 bis 1919 war.[19]

Er gibt seinen Filmen Raum und Entfernung, die durchmessen werden, Massenregie, eine Beziehung zu den Dingen, die in den Apparat kommen sollen, und vor allem nicht das Gefühl, zwischen Kulissen herumzustolpern (also ein brillanter Griffith-Kommentator und -Schüler zugleich). Überhaupt gibt es bei Keaton kein Stolpern, sondern pfeilartige Bewegungen, »immer übers Ziel hinaus« (Hans Siemsen). Dies geht so weit, daß ein in THE HIGH SIGN / 1921 angelegter Bananengag darin besteht, daß er nicht ausrutscht. Mit zu Keatons freiem filmischen Raum gehört sein rätselhafter Blick in die Ferne, über das Meer oder die Prärie, der, zusammen mit Keatons Charakter, James Agee veranlaßt, seine Verwandtschaft zum »pioneer« zu formulieren: »Keatons Gesicht steht fast auf einer Stufe mit dem Lincolns, als ein früher amerikanischer Archetyp.« Doch, wird Keaton von der Hoffnung, die in jenem Blick in die Ferne liegt, allemal und nicht nur im Kino düpiert, und der altgewordene Keaton bei Richard Lester (A FUNNY THING HAPPENED ON THE WAY TO THE FORUM / 1966) oder Billy Wilder (SUNSET BOULEVARD / 1950) ist die endgültige Versteinerung. In Becketts FILM / 1965 zerreißt Keaton sieben Bilder seiner Lebensabschnitte bis zum 30. Lebensjahr (dem Höhepunkt seiner kurzen Karriere), wobei es vom letzten Bild heißt: »Sieht aus wie 40.« Keaton verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in einem MGM-Asyl für verdiente Mitarbeiter: Von seinen Filmen blieb ihm, geschäftlich ungeschickt wie er war, nichts.