Ein seriöser Clown

Wie im Thriller ist bei Lloyd die Fantasie ständig der Kritik der Realität unterworfen. Das wild-groteske Erbgut des Slapstick – auch hierin ist Lloyd ein Sonderfall – wird nicht geduldet, und Alpträume gibt es nur als wirkliche Begebenheiten von knallhartem, ja geradezu fanatischem Realismus. Dies gilt bis in die handwerkliche Machart der Filme. So finden sich in der Literatur häufig Spekulationen über die Tricks bei seinen Fassadenklettereien (z.B. in SAFETY LAST, FEET FIRST, NEVER WEAKEN, HIGH AND DIZZY). Aber von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen, war dies ohne stunts und Tricks gemacht: »Es gab damals natürlich keine Rückprojektion, und wenn man mich klettern sieht, klettere ich wirklich. Wir hatten unterhalb der Wolkenkratzerfenster Plattformen errichtet – sie waren 4 bis 5 Meter unterhalb – abgedeckt mit Matratzen. Nach den Aufnahmen warfen wir eine Puppe auf eine der Plattformen, und sie schlug durch auf die Straße. Ich muß verrückt gewesen sein, das zu machen.«

Harold Lloyd hat das Bedürfnis, auch als Clown arriviert zu sein. Dieser Versuch, ein »besserer« Clown zu sein, der sich über gewisse niedrige Klischees des klassischen Repertoires erhebt, war nicht immer von Erfolg gekrönt. Einmal, in THE FRESHMAN, trägt er einen Abendanzug, der nicht richtig genäht ist und langsam auseinanderfällt, während er tanzt. Lloyd entschied sich, nur das Jackett, aber nicht die Hose zu verlieren. Seine gagmen[23] warnten ihn, und eine Preview bewies ihm, wie recht sie hatten, so daß Lloyd die ganze aufwendige Szene mit einer kaputten Hose neu drehen mußte. Eine andere Seite seines Bestrebens, ein seriöser Clown zu sein, ist seine Art »lyrischer Slapstick«: seine parallelgebauten Liebesgeschichten, die voller poetischer und symbolischer Einfälle sind. So etwa, wenn er in SAFETY LAST ein Collier kauft und in der Überblendung Mildred Davis sieht, oder wenn er in THE FRESHMAN einen beschlagenen Spiegel abwischt und auf der Spiegelfläche sich das Gesicht von Jobyna Ralston enthüllt, die die ganze Zeit schon hinter ihm steht. Das ist der Übergang zum Gentleman-Komiker, zu einem Part, den später Schauspieler wie Cary Grant oder James Stewart spielen sollten, die ihrerseits Stars von Screwball-Komödien wie von Hitchcock-Thrillern waren. Bezeichnenderweise hat Harold Lloyd mit THE MILKY WAY (1936) selbst noch einen beachtlichen Beitrag zur screwball-comedy geliefert.

Harold Lloyd konnte sich zu Beginn der Tonfilmzeit als vielfacher Millionär zur Ruhe setzen. Zwar machte er zwischendurch noch einige Filme, darunter seinen vorletzten und schlechtesten, der an Bob Hopes Klamaukkomik erinnert (PROFESSOR BEWARE/1938), aber ansonsten hatte er sich von der Leinwand zurückgezogen. Für Harold Lloyd persönlich war die Rechnung aufgegangen: Seine vollständige Identifikation mit dem Zeitgeist in seinen Filmen hatte ihm den größten Kassenerfolg aller Stummfilmkomiker eingebracht. Aber schon die von Harold Lloyd selbst als gerade noch wahrscheinlich charakterisierte Wende der Katastrophen in seinen Filmen läßt berechtigte Zweifel aufkommen über die Verallgemeinerung, die seine Filme darstellen. »Natürlich habe ich oft furchtbar übertrieben, und vieles war unwahrscheinlich, aber immerhin war es noch möglich. Wenn man z.B. an einer Häuserwand hängt, kann man nicht – damit haben andere solche Szenen ruiniert – einfach auf die Straße runterfallen, denn dann ist man tot. Aber sie wollten komisch sein, standen wieder auf und liefen weg. Das habe ich nie getan. Wenn ich runterfiel, dann konnte ich mindestens schon den Boden sehen oder ein Seil greifen oder auf einem Gerüst landen. Irgend etwas mußte mich retten, so daß sich der Zuschauer sagen konnte: Wahrhaftig, so wurde er errettet. Wahrscheinlich war die Chance nur eins zu tausend, aber immerhin war es möglich, daß er gerettet wurde.«

Harold Lloyd ist ein moderner Märchenprinz. Das Märchen besteht weniger in den alptraumhaften Prüfungen, die er um der Karriere willen bestehen muß, oder den grotesken Grausamkeiten wider sich selbst und andere, sondern in der wunderlichen Geradlinigkeit, mit der er zum tatsächlichen Erfolg gelangt. Um so bemerkenswerter ist deshalb ein Film, den Harold Lloyd 1947, lange nach dem Ende seiner eigentlichen Filmlaufbahn, auf Anregung und unter der Regie von Preston Sturges gedreht hat, MAD WEDNESDAY. Der Film beginnt 1925, mit dem Ende von THE FRESHMAN. Milchgesicht Harold ist der erfolgreiche Collegeboy und bekommt von einem begeisterten Geschäftsmann einen tollen Job angeboten. Am nächsten Tag zeigt sich, daß der tolle Job nur ein kleiner Büroposten ist. Harold pinnt sich seine hausbackenen Slogans und Kleinstadttugenden an die Wand und macht sich wieder einmal daran, sich hochzuarbeiten. Aber 20 Jahre später ist er immer noch der kleine Sekretär, der sich erfolglos in Mädchen verliebt, die andere heiraten. Sein Boß erklärt ihm mit ausgesuchter Höflichkeit, wie aufopferungsvoll er sich für die Firma aufgearbeitet hat und daß er deshalb etwas vorzeitige Ruhe verdient habe. Als ihm unwiderruflich klar wird, daß er es mit seiner ganzen Erfolgsmoral zu nichts gebracht hat, dreht er durch. Er tut alles, was die Normen der Kleinstadt verdammen, trinkt, wettet, spielt, läßt sich auf krumme Geschäfte ein, bedroht Bankiers mit einem Löwen – und hat endlich Erfolg. Seine ganze verinnerlichte Erfolgsmoral wird durch diese zynische Demonstration lächerlich gemacht. Etwas schaumgebremst durch die süßsaure Sozialkritik à la Preston Sturges ist dies der realistischste Nachtrag zu dem rat race der vielen kleinen Hornbrillenträger, die trotz der richtigen Einstellung zum Erfolg keinen Erfolg haben. Denn die richtige Einstellung garantiert nicht den Erfolg, sondern nur, daß das System der Karrieristen überhaupt funktioniert, oder wie John Stuart Mill, der Nationalökonom, so treffend formuliert: Einer, der einen Glauben hat, ist mehr wert als neunundneunzig, die nur ihr Interesse haben.