Ein Etwas, das sich unbewußter bewegt als selbst die Tiere, er bewegt sich wie eine Bohnenpflanze, die Blätter treibt.
(Dali)
Viele Komiker zeigen ausgeprägt regressive und infantile Züge, aber Harry Langdon ist das Babyface unter den Komikern. Wenn Fatty Arbuckle ein fetter Junge ist, Chaplin sich der Sozialisation widersetzt und die Marx Brothers undomestizierter Triebhaftigkeit frönen, ist Harry Langdon im Vergleich geradezu ein Ungeborener. James Agee stellt heraus, daß er von allen Komikern der Stummfilmzeit am wenigsten körperliche Komödie machte, da er, ganz auf das Kleinkind zugeschnitten, seinen Körper noch nicht richtig zu beherrschen scheint. »Sein Gang war der eines Kindes, das gerade erst sicher auf den Beinen steht, und sein Körper und seine Hände waren auf dieses Alter zugeschnitten.« Peter Handke konstatierte »die Gewohnheit Harry Langdons, sich immerfort einzurollen und anzuklammern«. Dafür besitzt er aber ein sehr ausdrucksvolles Gesicht. Sein milchweißes Mondgesicht zeigt im Normalausdruck vollständige Ahnungslosigkeit. Gegenüber seiner Umwelt besitzt er die »Immunität eines Embryos« (Durgnat); dies in dreifacher Weise: Sein Gesicht kann sich mitleiderweckend verzerren wie bei einem Kind, das gleich beginnt, loszuplärren, es kann im nächsten Moment in interessierte Neugier umschlagen und dann wieder mit einer traumhaft sicheren Indifferenz alle Gefahren ignorieren. Dies ist sein embryonales Grundvokabular, aus dem er alles entwickelt.
Harry Langdon ist ein Komiker, der keinen Erfahrungsschatz mitbringt, sondern mit allem erst seine Erfahrungen sammelt. Der Komiker Langdon vergißt alles, was er über die Welt weiß, und tritt als Vorbewußter auf. Im Gegensatz etwa zu Chaplin leistet er keine Verweigerung, dies kann nur eine Komikerfigur, an der bereits Erziehung praktiziert wurde. Er ist vielmehr der stumme Clown, der sprachlos dem Geschehen der Welt gegenübersteht und die Dinge in Frage stellt, indem er vorgibt, er hätte nie mit ihnen zu tun gehabt. Während Harold Lloyd ein Komikertyp ist, der glaubt, alles über das Vorankommen in der Gesellschaft zu wissen, tritt Harry Langdon auf wie ein Neugeborener, der nichts von der Welt weiß. Und manchmal läuft er regelrecht mit dem Grinsen eines idiotischen Kindes herum.
Seine Clownsnummern beim Zirkus und Vaudeville waren akrobatisch und pantomimisch; der Äquilibrist, der mit äußerster Körperbeherrschung zuwege bringt, was ein kleines Kind auch tut: vorsichtig Schritt vor Schritt setzen – freilich in schwindelnder Gefahr; der Pantomime, der zaghaft und unentschlossen immer etwas in Zeitlupe agieren muß, um die Existenz eines unbekannten Sachverhalts hervorzurufen, ganz ähnlich einem Kleinkind, das seine Umwelt erforscht. Auch die reduzierten Formen von Körpersprache bei Langdon sind pantomimisch: In THE STRONG MAN (1926) z.B. zieht sich ein Showgirl um, ohne daß man es sieht, und Harry, mit dem Rücken zur Kamera, drückt pantomimisch sowohl die Szene als auch seine Reaktion aus, fast nur durch die »Mimik« seines Nackens. Die Äquilibristik hat er in seine Filme gerettet in Anklängen an Lloyds thrill-comedy: Wenn er in TRAMP TRAMP TRAMP (1926) an einem Zaun über einer Klippe hängt oder in einen Zyklon gerät, hat das etwas Seiltänzerisches an sich, durchgeführt von einem punching-man oder Stehaufmännchen.
Seine Kindlichkeit drückt er auch dadurch aus, daß er die Wirklichkeit auf das Format von Spielzeug verkleinert. In BOOBS IN THE WOODS (1925) ist Harry unter Holzfällern; man sieht ihn geschäftig mit Axt und Säge hantieren, dann warnt er die Umgebung vor dem bevorstehenden Sturz eines Baumriesen, und schließlich sieht man ein winziges Bäumchen fallen, das man genausogut hätte abknicken können. In TRAMP TRAMP TRAMP gerät Harry unter Kettensträflinge und soll Steine klopfen; statt eines großen Vorschlaghammers nimmt er ein kleines Hämmerchen, und nachdem er verzagt die Felsbrocken inspiziert hat, entschließt er sich, einen Kieselstein zu spalten.
Aus der Kollision seines vorbewußten embryonalen Verhaltens mit der Umwelt entwickeln sich regelmäßig Szenen, die ein negatives Bewußtsein des Erwachsenwerdens formulieren. Wenn der kindlich verletzliche Harry Ärger mit Erwachsenen hat, kann sein weinerlicher Gesichtsausdruck in einem raschen Lernprozeß verschiedene Variationen annehmen, bedrohlich (»Gleich werde ich losheulen, wenn …«) oder mitleidheischend als kleiner verlorener Junge, der an Muttergefühle appelliert, oder pathetisch in resignative Traurigkeit und selbstgefällige Einsamkeit übergehen oder gar in ein instrumentelles und ziemlich unglückliches Lachen umschlagen. Hierher gehört auch der Zweck seiner Kleidung. Der Konfirmationsanzug, der weithin zum Ausdruck bringt, daß Harry ein armer Tropf ist, den man, ohne zu fragen, in Anzüge steckt und in die Welt wirft, mit einem Hütchen, das die hoffnungslos Erwachsenen provoziert und das Harry in der Stunde der Gefahr versucht, als schützenden Hut über seinen Körper zu ziehen, wenngleich das lächerliche Ding zu klein ist, um Schutz vor der physischen Sorte von Grausamkeiten zu bieten. Immer, wenn er woanders sein will, als er gerade ist, umklammert er diesen Hut, was ihm zusätzlich einen komischen Gang verleiht. Der Hut steht für alle Objekte, die er sich gewählt hat, die man ihm einmal gegeben hat, die er für zu sich gehörig erachtet und nicht wieder loszulassen gedenkt.
Hat sich Harry erst einmal ein Objekt seines Interesses gewählt, d.h., hat ein Objekt sein Interesse erweckt, so ist er davon nicht mehr abzubringen, auch wenn sein Vorgehen selbst zaghaft und unentschlossen ist. Seine interessierte Neugier wählt sich dabei freilich stets das falsche Objekt und zudem ein falsches Vorgehen. In REMEMBER WHEN (1925) trifft er auf eine bärtige Frau. Er weiß nicht, ob er vor ihr den Hut ziehen soll oder ihr die Hand geben soll, ihren Bart vergleicht er mit seinem Raum, und schließlich bringt ihn der richtige Gebrauch einer Zigarre vollends in Verwirrung. In THE CHASER (1928) hält er eine Henne direkt über eine Bratpfanne, um ein Frühstücksei zu erhalten; während alle Versuche, der Henne ein Ei zu entlocken, fehlschlagen, legt eine andere Henne ein Ei in seine Schürze, so daß er zu dem fatalen Schluß kommt, das Ei in seinem Eifer endlich selbst gelegt zu haben. Harry hat auch keine Vorstellung über die Wirkung der Dinge, auf die er sich einläßt. In TRAMP TRAMP TRAMP schluckt er eine Überdosis Pillen, in THE STRONG MAN verstänkert er einen Reisewagen mit Limburger Käse, und in LUCKY STARS (1925) ist er der gläubige Begleiter eines Kurpfuschers.[24] In einer oniristischen Szene in SOLDIER MAN (1926) ist Harry König; auf die Frage, ob er einen Wunsch hätte, meint er, wie ein Kind das Puppen den Kopf abreißt, man könnte vielleicht jemand enthaupten.
Speziell zu Medikamenten hat Harry ein sehr inniges Verhältnis; daß er gern kränkelt, gehört mit zur Typologie des anfälligen Kindes. In THE STRONG MAN wird er von einer fiebrigen Erkältung geschüttelt, und eine bittere Medizin, die er mit einem Löffel einnehmen will, prustet er einem pikierten Herrn über die Weste. Was jetzt passiert, ist symptomatisch für Harry Langdons Konfliktologie: Harry ist ebenso vorbewußt wie vormoralisch, und ein Herr, der auf sein Mißgeschick mit Drohung und Schlägen reagiert, ist eindeutig den »Bösen« zugeordnet, ohne daß dies bei Langdon – dies ein häufiges Mißverständnis – irgendeine moralische Kategorie wäre; es ist eine Kategorisierung der Umwelt nach ihrer Wirkung. Harry Langdon ist der Parzival unter den Filmkomikern. Ist erst mal jemand als bösartig qualifiziert, ist Harry von einem Rigorismus sondergleichen. Harry ist sich keiner Schuld bewußt, wenn er jemand seine Weste versaut, als Vormoralischer muß er erst seine Unschuld verlieren; vorsichtig, aber bestimmt versucht Harry, an dem Herrn einen Kinnhaken zu placieren. Seine Handlungsweise wird dadurch oft in einer dem frühen Chaplin ähnlichen Weise maliziös. Aber in ähnlicher Weise wie beim späteren Chaplin gibt es auch bei Langdon einen Übergang zur Moral; wenn er in THE STRONG MAN im Kampf gegen einen ihm feindlich gesinnten Mob die Mauern von Jericho zum Einsturz bringt, vollbringt er eine moralische Handlung aus persönlicher Bedrängnis; dies wird im folgenden zum Anlaß seiner Verwandlung in eine moralische Figur als Dorfpolizist und Erretter der blinden Mary Brown (die das blinde Blumenmädchen aus CITY LIGHTS vorwegnimmt). Harry Langdons Filme zeigen, was es heißt, ein Erwachsener zu werden, ein Bewußtsein und eine Moral verpaßt zu bekommen; nur so darf man ein gesellschaftliches Individuum sein.
Harry Langdon in THREE’S A CROWD/1927. Die Hosen des Ordnungshüters sind zerfetzt, weniger durch Harrys Schuld, als durch seine Unschuld.
Der Beginn von TRAMP TRAMP TRAMP klingt ganz wie eine Parodie auf die Exposition eines Bildungsromans des 19. Jahrhunderts: I’ll get it in three months if it takes a year. Wie die Helden dieser Romane ist auch Harry Langdon ein ausgemachter Träumer. In THREE’S A CROWD (1927) spielt er eine minutenlange Aufwach-Szene – nur zu Recht, gelingt ihm doch im Traum alles. Im Traum ist die Regression des Ungeborenen vollkommen, dem Ungeborenen gelingt das Unmögliche, von seiner Hand fällt bekanntlich sogar Macbeth. Im traumhaften Milieu ist seine Unschuld aufgehoben: »Langdon might be saved by the brick falling on the cop, but it was verboten that he in any way motivate the brick’s fall« (Capra). So das Gewehr des Wärters, das er in TRAMP TRAMP TRAMP als Kettensträfling unbeabsichtigt plötzlich in der Hand hält, oder jene klassische Ziegelstein-Szene in THREE’S A CROWD: Ein Wahrsager hat Harrys ganzes Unglück verursacht, und er will sich an ihm rächen und einen Ziegelstein in seinen Laden werfen; aber verzweifelt, wie er ist, wirft er den Ziegelstein schließlich achtlos weg, trifft ein Brett, das ein riesiges Faß hält, das sich loslöst und jetzt gleich den ganzen Laden zerstört.