Der Medienhandwerker Valentin

Aber, daß ein Mensch, der bereits das Diesseits verlassen hat, nicht nur im Jenseits, sondern auch im Diesseits und nicht nur seelisch, sondern genau, wie er gelebt hat, weiterlebt, habe ich erst im Kino in einem älteren Film gesehen, in welchem ein vor Jahren verstorbener Filmschauspieler seine Rolle heute noch spielt. Es gibt also in unserer Gegenwart zwei Weiterleben nach dem Tode: eines im Jenseits, und eines im Kino.

(Valentin: Im Jenseits)

 

Vor Geiselgasteig steht der Valentin,

er steht vor den Toren – selten war er drin.

Er hätte so gute Filmideen –

doch wollen die Herren ihn nicht verstehn,

trotzdem er arisch ist – trotzdem er arisch ist.

Was Valentin nicht filmen will, sind:

Bayerische Filme – Schuhplattlergestampf,

Rauferei auf Kirchweih – Schmalznudelgedampf,

zum Kammerfensterln schleicht der Bu-a.

(Valentin: Karl Valentins Filmpech, Melodie: Lili Marleen)

Valentin hat alle technischen Möglichkeiten seiner Zeit genützt. Er hat Tonexperimente gemacht, Filme gedreht, ein Panoptikum betrieben und ein Orchestrion gebaut. Und ähnlich Panamarenko hat er fantastische Maschinenfetische konstruiert. Den Bühnen-Sketch »Fremdenrundfahrt« hat er mit einer Filmeinlage bereichert. In seinem Panoptikum gab es einen Filmsaal mit lebensechten Puppen als Zuschauern; die irregeleiteten Besucher, die auf eine Vorführung warteten, fanden sich plötzlich zwischen Zeroplastiken. Im Panoptikum befindet sich auch ein Lachkabinett, darin u.a. eine eingekerkerte Micky Maus.

Valentin hatte an der Regie seiner verfilmten Sketche selbstredend großen Anteil. Einer seiner radikalsten Einfälle ist die totale Finsternis der Leinwand, im THEATERBESUCH (1934), wenn das Licht ausgeknipst wird; oder zum Schluß der ERBSCHAFT (1936), wo das Ehepaar Valentin/Karlstadt nur noch eine Kerze besitzt: Sie legen sich auf den Boden, blasen die Kerze aus, Dunkelheit.[53] Valentins Umgang mit dem Bild sprengt immer wieder den Rahmen der Konvention. Im SONDERLING (1929) geht er einmal regelrecht mit dem Kopf durch die Wand. Siegfried Kracauer attestiert ihm »die schwarze Komik Wilhelm Buschs«. Dabei konnte Kracauer gar nicht wissen, daß Valentins erste Filme inspiriert waren von den Münchner Bilderbogen, die der Schule Buschs zuzurechnen sind. DER NEUE SCHREIBTISCH (ca. 1914) und DIE LUSTIGEN VAGABUNDEN (ca. 1912) haben solche Vorlagen.

Trotzdem: Filmdokumente mit Valentin, dies ist ein besonders trübes Kapitel deutscher Filmgeschichte. Die Filmaufzeichnungen sind in der Regel präzis gemacht, ein Gutteil ist aber auch filmisch unbedarft und entschärft. Viele Filme sind zerstückelt, gekürzt, in schlechtem Erhaltungszustand, teilweise ganz verschollen oder verloren. »Die Herren Produzenten sind Riesenrindviecher«, hat Valentin einmal gesagt. Nichtsdestoweniger: solange Valentin dominiert, ist auch die mäßigste Regie erträglich. Auch sind bei aller Abschwächung Valentin-Filme stets ehrlich, seine Person ist unverfälschbar. Im Dritten Reich, wo Elendstendenzen im Kino verboten waren, konnte z.B. der Film DIE ERBSCHAFT nicht aufgeführt werden.[54] Umgekehrt kann man die paar Elendsfilme, die es im Dritten Reich trotzdem gab, leicht auffinden, es sind Filme mit Valentin, z.B. STRASSENMUSIKANTEN (Deppe/1936), DIE KARIERTE WESTE und DONNER, BLITZ UND SONNENSCHEIN (beide 1936/Erich Engels). Warum Valentin ausgerechnet mit einem »Regietalent« wie Erich Engels gearbeitet hat, läßt sich allerdings nur noch als Beispiel seiner pataphysischen Logik verstehen: Filme mit Erich Engel und Engels gedreht zu haben.

Angesichts früher Valentin-Filme wie VALENTINS HOCHZEIT (1912), DIE LUSTIGEN VAGABUNDEN (1912), DER NEUE SCHREIBTISCH (1914) wird häufig der etwas schiefe Vergleich angestellt, Valentin hätte ein deutscher Chaplin werden können (bei entsprechender Filmindustrie …). Aber Valentin, der die Widersprüche, auf die er sich einläßt, an seinem eigenen Körper demonstriert, gleicht mit dieser Körpersprache viel eher Keaton: »Wie der Hut mit salopper Lockerheit an die düsteren Brauen herabgeht, wie Valentin sich am Tischende hinlümmelt, mit auseinandergespreizten Knien, das Hinterteil nur tangential am Stuhl mit einer infernalischen Eleganz der Allüre, mit einer gefährlich abwartenden Ruhe …«, so Wilhelm Hausenstein über »An Bord«. Oder im NEUEN SCHREIBTISCH, wo Valentin erst mit dem Zollstock genau nachmißt, daß das Möbel auch wirklich passend für seine Körpermaße ist, und wie dieses menschliche Spinngewebe dann gleich zeigt, was es heißt, sich in den Feind Arbeitsleistung zu verbeißen: wie er mit seinen langen Hax’n gleich Schlingpflanzen die Beine des Sekretärs umwickelt und zwischen die Laokoongruppe auch noch eine große dreiteilige Säge zwängt, dieses Angewachsensein an ein elendes Arbeitsmöbel, der stufenweise Abstieg von der schwindelnden Höhe, bis er endlich am Boden hockt neben dem radikal verkürzten Ding, und die Vorstellung eines Menschenlebens, das an einem solchen Anhängsel qua profession zu verbringen ist … – »Hamlet« ist daneben eine glatte Sache, mit ein paar Hieben ausgestanden!

Karl Valentin in ORCHESTERPROBE/1933. Valentin ist ein Komiker, der die Widersprüche, in die er sich festbeißt, am eigenen Körper demonstriert.

Allein, alle diese Vergleiche vergessen über dem Stummfilm das Gewicht des Sprachlichen bei Valentin; hier hört der Vergleich mit Chaplin oder Keaton endgültig auf (von Chaplin ist allenfalls abstrakte Lautmalerei zu erwähnen, »toto torlo …«). Am ehesten kann man hier Valentin noch mit W.C. Fields vergleichen (Valentin hört z.B. einen Hasenbraten riechen, Fields in THE OLD FASHIONED WAY /1934: »Soup sounds well«). Mit Fields verbindet ihn auch seine Abneigung gegen wehrlose, aber nichtsdestoweniger lästige Kleinkinder (Kinderhaß – in Grenzen – freilich auch bei Chaplin). So wird im »Unbekannten« ein Säugling auseinandergehackt, und im »Brillantfeuerwerk« wird ein kleiner Störenfried erst aufgespießt, und nach einigen weiteren Attacken wird der Kinderwagen samt Inhalt zersäbelt; als der Kleine schreit: »Der ist aber wehleidig.« Die üblichen Verfahren, mit einem Gegenüber fertig zu werden, erweisen sich angesichts der Animalität von Kleinkindern als wenig nützlich, was zur direkten Gewaltanwendung führt. Bei Fields ist das anders nuanciert: Die Kinder sind schon wie die Erwachsenen, kleine Teufel.

Valentineskes kann man mitunter auch bei anderen Wortkomikern finden. Totòs pinzellacchera etwa, eine sprachliche Kreuzung aus Kneifzange und Betschwester. Mit Moser hat Valentin einige Lieblingsredewendungen gemein wie »Des is mir peinlich …« (ganz unhöflich) oder »Is eine Gemeinheit …« (ganz boshaft). Oder auch die Talmudistik des Hoteliers Groucho in COCOANUTS (1929) mit der abschließenden Gleichung ice = eyes: »Hello. Yes? Ice Water in 318. Is that so? Where’d you get it? Oh, you want some? Oh, that’s different. Have you got any ice? No. I haven’t. This is Cocoanut Beach. No snow, no ice. Get some onions. That will make your eyes water. – What? – You too!«

So wichtig bei Valentin die Sprache ist, letztlich sind nur wenige Tonfilmtitel zu nennen, die alles enthalten, was Valentins Kunst ausmacht: DER THEATERBESUCH, IM SCHALLPLATTENLADEN, DER VERHEXTE SCHEINWERFER, SO EIN THEATER, DER FIRMLING (alle 1934) und die ORCHESTERPROBE (1933), DAS VERHÄNGNISVOLLE GEIGENSOLO (1936), DER ZITHERVIRTUOSE (1935), DIE ERBSCHAFT (1936), IM PHOTOATELIER (1932). Außer diesen Kurzfilmen ist noch ein Glücksfall zu nennen, der Spielfilm DIE VERKAUFTE BRAUT von Max Ophüls (1932), wo Valentin als Zirkusdirektor Brummer auftritt und weit über seine Rolle hinaus in glänzender Übereinstimmung mit Ophüls den Charakter des Films mitprägt. Es ist schon abzusehen, daß bei dieser Konstellation Smetanas ohnehin nicht ganz so abgeschmackte Operette die Krämerseele dieser Kunstgattung aushaucht. »Alles ist so gut wie richtig« und als Kontrastprogramm Karl Valentin! Valentin und Operettenseligkeit, das ist wie Erdbeeren mit Senf, so müssen auch die berühmten Münchner Fledermaus-Aufführungen gewesen sein, mit Valentin als Frosch, passend zu »Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist«.

Frieda Grafe schreibt über den Film: »Es gibt bei Ophüls keinen Hauptdarsteller, keinen Star, und auch kein Thema, kein Sujet bekommt das Recht, sich so aufzuführen. Die Hauptsachen sind die Nebensachen. Abschweifung ist alles, damit nur das Sujet sich auflöse und die Vorstellung von erschöpfender, runder Darstellung. Allem nachlaufen, vergnügungssüchtig. Wie der Valentin, der endlos auseinanderfaltet und in jede Ecke guckt. Ein Ende gibt es da nur, wenn man willkürlich eins setzt. Deshalb darf auch der Zuschauer zur Hauptperson wählen, wen er will. Man nehme Valentin und Kezal oder auch Zirkusdirektor Brummer und Otto Wernicke. Jeder von ihnen hält einen wichtigen Strang des Films in der Hand. Der eine ist damit beschäftigt, alles glattzubügeln, einzuebnen (Ja, was glücklich ist im Lande, bracht’ ich glücklich untern Hut), der andere weist beständig mit spitzen Fingern auf die Unterschiede hin, bis er, bezeichnenderweise und ohne daß er es wollte, im Tintenfaß damit sitzt. Er sollte nicht vergessen, seine Vergnügungssteuer zu zahlen, sagt der Dorfschulze, und das Fräulein verspricht, ihren Mann bestimmt ans Vergessen zu erinnern … Wenn Domgraf-Faßbaenders von Jahrhunderten Repräsentationskunst getragene Selbstsicherheit auf Valentins Akrobatien ohne Netz stößt, dann gibt es kein So-gut-wie-mehr.«