Die Zeit ist aus den Fugen.
(Shakespeare)
Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den von der Ordnung der Zeit freigewordenen Menschen wieder neu erschaffen.
(Proust: Au Recherche du temps perdu)
Die Normaluhr einer abstrakten Epoche ist explodiert.
(Hugo Ball: Flucht aus der Zeit)
Der Knochen, der am meisten wehtut, meine Liebe, ist die Uhr.
(Rafael Alberti: Cita triste de Charlot)
… er steckte, nachdem er eine Weile im Kopf gerechnet hatte, lachend die Uhr in die Tasche und stellte fest, daß er Unsinn getrieben habe. – Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich … eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut … Vielleicht ist es gerade der Spießbürger, der den Beginn eines ungeheuren neuen, kollektiven, ameisenhaften Heldentums vorausahnt? Man wird es rationalisiertes Heldentum nennen und sehr schön finden … Die Zeit bewegte sich … Man wußte bloß nicht, wohin.
(Musil: Der Mann ohne Eigenschaften)
Umgreift die Zeiten, schleudert sie ins Heute.
(Ingeborg Bachmann: Anrufung des Großen Bären)
Ist das Reich der Ideen erst revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht mehr stand.
(Hegel)
Wenn man beobachtet, wie die verschiedenen Komiker, die hier porträtiert wurden, mit ein und demselben Gegenstand umgehen, ja sogar ein und dieselbe Szene spielen, stellt man schnell fest, daß die Behandlung des Gegenstands und der Szene je ganz verschieden und spezifisch ist. Man könnte dies aufzeigen an Szenen mit Spiegeln oder mit Klavieren oder mit Rollschuhen/Schlittschuhen … Es wäre 14mal die Demonstration: wenn zwei das gleiche tun, ist es nicht dasselbe. Ein besonders reizvolles Kapitel ist der Umgang der Komiker mit Uhren, da im visuellen Medium, wie Gustav René Hocke bemerkt, die »Uhr als Auge der Zeit« fungiert und damit die im Kino enthaltene Kategorie der Zeit aus ihrer Latenz heraustritt. Zusammenfassend und abschließend läßt sich dabei die Charakteristik der verschiedenen Komiker schlaglichtartig beleuchten. (Unvermeidlicherweise wurde schon in verschiedenen Kapiteln das Thema der Uhr gestreift. Ich will die drei Beispiele bei Tati, Moser und Lloyd kurz repetieren und für den Zweck dieses Kapitels vervollständigen.)
Jacques Tati, der unter dem »Chronométrisme« leidet, der vollständigen Beherrschung der Menschen durch die mechanische Teilung der Zeit, hat seltsame Urlaubserlebnisse: Als M. Hulot macht er Ferien und demonstriert uns, wie die Zwanghaftigkeit der Diktatur der Zeit selbst in der »Freizeit« noch gilt. Einmal dreht ein Kellner mechanisch den Arm, um auf die Uhr zu sehen; er merkt gar nicht, daß er ein volles Glas in der Hand hat.
Hans Moser versucht seine Reisetasche zu packen. Mitten unter all den Dingen, die in dem geschäftigen Durcheinander fälschlich mal in, mal außer der Reisetasche landen, ein Wecker. Beharrlich zeigt dieser die fortschreitende Zeit an, die der chaotische Reisende in spe vertrödelt. Moser, selbst ein Trödler von Format, rechnet denen, die ihm untergeben sind oder die er dafür hält, beständig ihre Säumigkeit vor. Er ist die Selbstgerechtigkeit des overlookers. Mit Zeitnehmermentalität schielt er schräg nach unten auf seine Taschenuhr. Eine sekundenschnelle, aber ganz typische Geste von Hans Moser. In seinem DIENSTMANN klagt er als Subalterner den Lohn der Arbeitszeit ein, die er an einen Koffer verschwendet hat, den er nicht transportiert hat.
Ausführlich war schon vom Motiv der Uhr bei Harold Lloyd die Rede. Die Uhr aus SAFETY LAST nimmt in seinem Werk eine zentrale Stellung ein. Bei der Ersteigung des Wolkenkratzers hat er als letzte und schrecklichste Hürde eine große Uhr zu überwinden. Es ist ein richtiger Kampf mit der Uhr, beim ersten Versuch drehen die Zeiger durch, beim zweiten Versuch löst sich das ganze Zifferblatt. Ist schon sein ganzer Aufstieg ein einziges Bild des sozialen Aufsteigers, so muß er zum Schluß sogar noch die Zeit besiegen, denn Leistung mißt sich in Arbeit pro Zeit. Die Zeiger der Uhr sind wie Wegweiser, nach oben absoluter Erfolg, nach unten totale Niederlage. Die Zeit stellt sich gebieterisch zwischen ihn und sein Mädchen, den 1000-Dollar-Preis, die Karriere. Harold ist ein moderner Siegfried, der die Uhr tötet, die den 1000-Dollar-Preis bewacht. In dem selbstmörderischen Kampf des Karrieristen gegen die Zeit gibt uns Harold Lloyd eine Parabel über die Rolle der Zeit im Kapitalismus: time is money.
Chaplin in THE PAWNSHOP kommt zu spät zur Arbeit. Der Chef steht schon da und blickt wie Moser auf die Taschenuhr. Chaplins Verhältnis zum Chronometer ist also ohnehin schon gespannt. Als ein Kunde kommt und einen Wecker verpfänden will, rächt er sich fürchterlich an dem Objekt. Der Wecker wird in der Chaplinschen Manier, mit dem zweckmäßigen Gebrauch die verhaßten Dinge selbst zu ignorieren, systematisch demoliert. Er öffnet den Wecker mit dem Büchsenöffner, zieht die Federn wie Spaghetti heraus und überzeugt sich schließlich mit Stethoskop und Hämmerchen vom klinischen Tod der Zeit. Ohne Gebrauchswert kein Tauschwert. Mit beleidigter Miene überreicht er dem konsternierten Kunden die Trümmer. Dieser, fassungslos, mit den Scherben der Zeit in der Hand, stolpert auf die Straße hinaus, wo ihn ein Passant nach der Uhrzeit fragt. In ONE A.M. kommt Chaplin besoffen nach Hause. Er muß die Treppe hinauf zum Schlafzimmer. Im Delirium ist sein Todfeind surreal vergrößert: Am Ende der Treppe lauert eine riesige Pendeluhr, deren Pendel wie bei Poe hin- und herrast.
Buster Keaton in SEVEN CHANCES muß bis zum Abend seines 27. Geburtstags verheiratet sein, weil sonst sein Millionenerbe verloren ist. Keaton, ganz zwanghaft, macht sich ans Werk. Seine skurrilen Formen der Brautwerbung lassen jedoch seine Chancen dahinschwinden, rechtzeitig verheiratet zu sein. Die Formen der Brautwerbung werden immer rasender, schneller, kürzer, verzweifelter. Und Buster flieht: Er gerät in Dutzende von Todesgefahren bei seiner Brautsuche. Die Zeit flieht. Aber Buster läßt nie locker. Der Kampf gegen die Zeit wird zum Alptraum, überall Uhren. Uhrenvergleich. Buster rennt in den Laden eines Uhrenhändlers, um sich nach der Zeit zu erkundigen. Hunderte von Uhren, aber jede zeigt eine andere Zeit an. Die Zeit ist entzwei. Buster flieht jetzt vor den Uhren. Sein Verhältnis zur Uhrzeit ist pathologisch. Der Zwang der Zeit wird zum Zwang gegen sich selbst. Als zum Schluß Buster in letzter Sekunde, noch den Angstschweiß auf der Stirn, heiratet, kann der beruhigte Blick auf die Uhr nicht verdecken, daß hier einer seinen eigenen Alptraum geheiratet hat.
Auch Laurel und Hardy stehen mit Uhren auf dem Kriegsfuß. Bei ihnen gehört die Uhr mit zum gutbürgerlichen Mobiliar wie Piano und Couchgarnitur. Und wie diese Inbegriffe trügerischer Freizeitkultur stehen die behäbigen Standuhren und hämisch krähenden Kuckucksuhren in vorderster Front ihrer Zerstörungsorgien. Die Zeit als Komfort der Freizeit wird kaputtgemacht – so, wie ihre Freizeit sich als kaputte Zeit erweist. Daneben gibt es terroristische Wecker, die an die Teilung der Zeit in Freizeit und Arbeitszeit gemahnen.
Die Kuckucksuhr als höhnisch kommentierendes Requisit kennt auch Karl Valentin. Im THEATERBESUCH geht es darum, rechtzeitig ins Theater zu kommen. Das Freizeitvergnügen des Theaterbesuchs erweist sich als Zwangsveranstaltung. Das Krähen der Kuckucksuhr gehört in der Filmgroteske allemal zum ungemütlichen Zubehör des Haussegens. In der ERBSCHAFT gibt Karl Valentin hinterfotzig Auskunft über den eigentlichen Zweck der Zeitmessung. Der Gerichtsvollzieher will seine Uhr pfänden, die Valentin großsprecherisch als seine »Sonntagsuhr« deklariert. Aber es stellt sich heraus, daß die Uhr kein Uhrwerk hat. Ohne Gebrauchswert auch kein Tauschwert. Die Enttäuschung des Gerichtsvollziehers kommentiert Valentin: »Drum ist’s ja auch meine Sonntagsuhr.« Der bissige Kommentar enthält aber auch die Utopie: Freiheit von der Arbeit wäre Freiheit von der bemessenen Zeit, also nicht Freizeit, sondern Zeit, der nicht mehr der Zollstock angelegt wird. In der Arbeitszeit ist Valentin ein Fanatiker der Zeitmessung: keine Sekunde länger als vorgeschrieben. In so EIN THEATER schwebt ihm als Orchestermusiker, der um jede Achtelnote streitet, schon gleich zu Beginn die Vision einer »Pause« vor Augen. Als der Dirigent den verpatzten Einsatz mit »Zu spät!« moniert, zieht er gleich die Uhr aus der Tasche.
Buster Keaton in SEVEN CHANCES/1925. Die Uhr wird zum Alptraum.
Ein Subproletarier wie Totò hat mit dem geregelten Arbeitstag nichts zu tun. Er braucht keine Uhr. Dafür hat er sie gleich zu Dutzenden, aus allen Taschen zieht er sie hervor als Diebesgut, als Hehlerware, als Wertobjekte (GUARDIE E LADRI). Wo die Werktätigen mit dem Gebrauchsding Uhr zu tun haben, hat er mit dem Tauschwert der Uhr zu tun.
Die Uhr als Wertobjekt auch bei W.C. Fields. Baby Le Roy, das nervtötende Kleinkind, quält Fields nicht nur physisch und psychisch, sondern schädigt ihn auch materiell: Es versenkt seine Taschenuhr im Sirup (THE OLD FASHIONED WAY). Fields muß es dulden, um bei einer betuchten alten Schachtel als Kinderfreund zu gelten. Fields investiert in seine fragwürdigen Geschäfte stets einen ruinösen Einsatz. Ansonsten ist Fields dem perfidesten zeitlichen Terror überhaupt ausgesetzt. Als Kleinkrämer oder in ähnlicher Profession hat er Arbeitsplatz, Wohnung und Familie unter einem Dach vereint. Begriffe wie Mittagspause oder Ladenschlußzeit sind rein fiktiv. Von morgens bis abends wird er aufgerieben zwischen seinen enervierenden Kunden und seiner quengelnden Familie. Wenn er endlich meint, nachts friedlich im Bett zu liegen, lauern zwischen seinem Bett und dem seiner Frau ein Wecker und ein Telefon. Und garantiert um 4.30 Uhr morgens läutet das Telefon, oder es wird in seinem Haus eingebrochen, oder im Laden bricht eine Feuersbrunst aus … Irgendein Anschlag auf seine Nachtruhe und sein Eigentum findet sich immer. Aber nicht genug damit, daß der Wecker mit Präzision die Uhrzeit verkündet, zu allem Hohn wird ihm auch noch die fortgeschrittene Tageszeit von seiner Ehehälfte und wütenden Nachbarn vorgehalten.
Nicht direkt als Wertobjekt, aber als Schmuckstück und Werbeträger fungiert die Uhr bei Mae West. Protzige Uhren à la Louis künden von Zeit und Eros. Vergoldete Schwanenhälse und Cupidos sind ein erotisches Memento Mori: Nutze die Zeit, nach dem Exitus gibt es keinen Koitus mehr. Diese Uhren plädieren lustvoll für den Triumph des Augenblicks über Zeit und Ewigkeit. Und natürlich künden diese Uhren auch davon, daß die Liebe nicht wertfrei ist. Dali hat Mae West sogar eine solche Uhr mitten ins Gesicht gemalt.
Die Marx Brothers funktionieren die Uhr natürlich für ihre Zwecke um, ihr Umgang mit der Zeit ist instrumentell. Uhren dienen dazu, die absurdesten und interessiertesten Behauptungen streng wissenschaftlich zu untermauern: »Entweder ist dieser Mann tot, oder meine Uhr ist stehengeblieben«, sagt Groucho in A DAY AT THE RACES über Harpo.
Harry Langdon hat als Vorbewußter kein reales Verhältnis zur Zeit. Wenn morgens der Wecker läutet, müssen andere Leute hastig in die Kleider fahren. Dies gilt nicht für Harry: Minutenlang wälzt er sich aufwachend im Bett (THREE’S A CROWD). Seine Übergänge zwischen Schlaf und Wachsein sind fließend, embryonal. Ebenso seltsam wie sein Verhältnis zur Zeit und zum Arbeitstag ist sein Verhältnis zum Resultat des Arbeitstags, zum Wert und zum Geldsystem. Seine Ahnungslosigkeit in diesen Dingen bringt ihn in die schlimmsten Gefahren. Seinem Vater, der vor dem Bankrott steht, teilt er beruhigend mit: »Ich werde das Geld in drei Monaten besorgen – und wenn es ein Jahr dauert.«
Max Linder, der Flaneur der Belle Epoque, bewegt sich im Reich der Saumseligen. Plötzliche Hetze kennt er nur als lächerliche Kompensation eines luxuriösen Umgangs mit der Zeit. Der parasitierende Lebenskünstler, der nicht arbeitet, kann die Taschenuhr als Spielzeug an der Kette kreisen lassen. Der Privatier, der nicht zu arbeiten braucht, kann die Uhrkette als Bauchschmuck tragen und die Uhr als Anhänger. Walter Benjamin berichtet, es habe zeitweise zur eleganten Mode des Flaneurs gehört, eine Schildkröte mit sich zu führen: »Das gibt einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen.«
Was die Uhr der Komiker heute geschlagen hat, erfahren wir am besten in Jerry Lewis’ HOOK, LINE AND SINKER. Am Anfang ist er im Büro. An der Wand hängt eine Uhr, auf deren Zifferblatt hektisch der Sekundenzeiger kreist. Plötzlich bleibt die Uhr stehen. Die Zeit will nicht vergehen: Dieser Arbeitstag endet nie. Wenn Jerry Lewis dann zu Hause ist, wird die Uhrzeit im Fernsehen gesendet. Das Leben zerrinnt in der eingeteilten Lebenszeit. Jerry, ein gewissenhafter Bürger, geht zur vorsorglichen Untersuchung zum Arzt. Der verkündet ihm, daß er nicht mehr lange zu leben hat; im Hintergrund tönt dumpf das Schlagwerk einer Standuhr. Der Gag der Zeit bei Jerry Lewis ist hier nicht mehr, daß die Ordnung der Zeit gestört wird (weil ihm der Arzt eine falsche Auskunft gibt), im Gegenteil, sie rollt unerbittlich ab: Der Tod des Clowns unter der Guillotine der Zeit steht von vornherein fest. Einmal, in einem Interview, sagt Jerry Lewis tatsächlich: »Die Zeit ist der Killer.«
Dieser Wandel im komischen Gebrauch der Zeit ist auch ein Symptom für das Ende der Slapstick-Tradition. Der allgegenwärtige »Chronométrisme« hat den vitalen Widerstand gegen die totgeborene Uhrzeit und verplante Lebenszeit besiegt.[66] Die Uhr der Komiker ist abgelaufen. Für den modernen Typus des weißen Clowns ist die eherne Gültigkeit der Zeit nie in Frage gestellt.