Dinah Krenzler-Behm, Universität Tampere

Authentische Aufträge in
der Übersetzerausbildung – ein Leitfaden

Abstract: In meinem Beitrag präsentiere ich die Ergebnisse einer von mir durchgeführten empirischen Fallstudie, die auf der Bearbeitung eines konkreten authentischen Auftrags im Übersetzungsunterricht basiert. Im Fokus hierbei steht die Entwicklung eines robusten, aber dennoch flexiblen didaktischen Modells, das von der Arbeitssprachenkonstellation unabhängig ist.

1. Hintergrund

In translatologischen Kreisen herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit über die Vorzüge echter Aufträge, da diese den Studierenden einen konkreten Einblick in die translatorische Praxis gewähren und sozusagen als Nebeneffekt zur studentischen Motivationssteigerung beitragen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang jedoch die Frage, wie authentische Aufträge im Übersetzungsunterricht Anwendung finden sollten. An dieser Stelle setze ich an und entwickele im Rückgriff auf die übersetzungsdidaktische Grundlagenforschung und Ergebnisse früherer Unterrichtsversuche sowie des eigenen prototypischen Unterrichtsversuchs, der in die Schritte Vorbereitung, Durchführung und Auswertung gegliedert ist, ein robustes, aber dennoch flexibles didaktisches Modell, das von der Arbeitssprachenkonstellation unabhängig und auf andere Unterrichtskontexte übertragbar ist. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass im Übersetzungsunterricht eingesetzte Aufträge nicht mit den Arbeitsbedingungen professioneller Translatoren gleichzusetzen sind, da sich diese zum einen in der Praxis relativ stark unterscheiden können (vgl. Freelancer vs. Inhouse-Übersetzer) und die Studierenden zum anderen unter einer Art Schutzglocke agieren, denn im Normalfall fungiert der Lehrende als Kontrollinstanz und zeichnet letztendlich für die Qualität des Translats verantwortlich (vgl. Krenzler-Behm 2013).←313 | 314→

2. Forschungsarbeit

Meine Forschungsarbeit, die auf den Erkenntnissen einer im Frühjahr 20041 durchgeführten Fallstudie basiert, lässt sich in einen theoretischen und einen empirisch-analytischen Teil gliedern, die jedoch fortlaufend einen Dialog miteinander führen, da theoretische Reflexionen die methodische Kontrolle der empirischen Analyse bestimmen und die analytischen Anforderungen auf die theoretische Reflexion rückwirken. Im theoretischen Teil wird insbesondere das professionelle Übersetzen als oberstes Ausbildungsziel behandelt. In diesem Kontext wird zunächst der Professionalitätsbegriff betrachtet, der nach wie vor kontrovers diskutiert wird, wobei jedoch unbestritten ist, dass professionelles Agieren beinahe ausnahmslos positiv bewertet und als Antonym zu unprofessionellem, dilettantischem bzw. laienhaftem Handeln wahrgenommen wird (vgl. Pfadenhauer 2005, 11). Als Nächstes werden wissenschaftliche und berufliche Forderungen an den professionellen Übersetzer sowie Forderungen von relevanten Gruppen (z. B. EMT-Projekt, CIUTI) an den universitären Übersetzungsunterricht untersucht. Da es sich bei meiner Arbeit um einen Leitfaden für die Translationsdidaktik handelt, werden Professionalitätsmerkmale in der Übersetzerausbildung sowie Anforderungen an die am Unterricht beteiligten Akteure, d. h. Lehrende und Studierende, gründlich beleuchtet. Zu den Professionalitätsmerkmalen zählen neben z. B. Übersetzungskritik/Qualitätssicherung, Recherchierkompetenz und Kundenakquise insbesondere authentische Aufträge, die die folgenden Kriterien aufweisen sollten:

Der Auftraggeber ist real existent und kontaktierbar.

Der Auftrag wird in Realzeit im Rahmen des Kurses bewältigt.

Der Umfang des AT ist überschaubar.

Die Geschäftsbedingungen werden im Voraus ausgehandelt.

Der Verwendungszweck, der Öffentlichkeitsgrad und der Rezipientenkreis können klar definiert werden.

Die Studierenden erhalten für die von ihnen erbrachte Leistung eine Vergütung.

Sind die zentralen Grundbegriffe geklärt, ergründe ich im zweiten, primär empirisch ausgerichteten Teil meiner Arbeit mithilfe eines Unterrichtsversuchs, der auf dem drei-Phasen-Schema basiert, auf welche prototypische Weise authentische←314 | 315→ Aufträge in der Übersetzerausbildung eingesetzt werden können. Die Vorbereitungsphase umfasst u. a. die Beschaffung eines authentischen AT, die Unterrichtsplanung, die Aushandlung der Geschäftsbedingungen mit dem Auftraggeber und die Auftraggeberbefragung. Mithilfe des vorliegenden Materials werden die einzelnen Punkte erörtert, analysiert und verallgemeinerbare Aussagen getroffen, die beim Einsatz von zukünftigen authentischen Aufträgen als Orientierungshilfe dienen können. Zum nächsten Schritt, der Durchführung, zählen z. B. eine kombinierte AT/ZT-Analyse, die Erstellung von ausgangstextspezifischen Terminologiearbeiten, Recherchetätigkeiten, die Kontaktaufnahme mit dem Auftraggeber, das Sicherstellen einer einheitlichen Zielsprachenterminologie sowie der von den Prinzipien Loyalität und Funktionsgerechtigkeit gesteuerte Übersetzungsprozess. Die Auswertungsphase setzt sich aus der Fehleranalyse unter besonderer Berücksichtigung des Skopos, den Ergebnissen der Rezipientenbefragung, der Erstellung einer endgültigen Version durch den Lehrenden sowie der ZT-Prüfung durch den Auftraggeber zusammen.

3. Auftraggeberthematik

Der Auftraggeber spielt bei der Bearbeitung von authentischen Aufträgen in der Übersetzerausbildung, wie auch aus den oben kurz umrissenen Phasen des Unterrichtsversuchs ersichtlich ist, eine bedeutende Rolle. Der hohe Stellenwert der sog. Auftraggeberthematik geht auch aus dem von der EMT-Expertengruppe erarbeiteten „Kompetenzprofil von Translatoren, Experten für die mehrsprachige und multimediale Kommunikation“ (EMT-Expertengruppe 2009, 4) hervor, das die Dienstleistungskompetenz ins Zentrum weiterer Kompetenzen, wie Sprachenkompetenz, interkulturelle Kompetenz, Fachkompetenz, Technikkompetenz und Recherchenkompetenz rückt. Echte Aufträge bieten den Studierenden unbestritten die Möglichkeit, sich diese essentielle Kompetenz zumindest graduell anzueignen. Besteht Übersetzungsbedarf, erfolgt die erste Kontaktaufnahme im Normalfall, indem sich der potenzielle Auftraggeber an den Lehrenden, der möglicherweise bereits in der Vergangenheit mit einem Auftrag betraut oder aber von Dritten empfohlen wurde, wendet. Diese Vorgehensweise ist typisch, es wäre aber wünschenswert, wenn der Auftrag von den Studierenden beschafft werden könnte, nicht zuletzt, um diese von Anfang an stärker in den gesamten Prozess einzubinden und es ihnen zu ermöglichen, Kontakte zu knüpfen, von denen sie im Idealfall in der Zukunft profitieren könnten. Erklärt sich die Studentengruppe damit einverstanden, den entsprechenden Auftrag anzunehmen, steht das Aushandeln der Geschäftsbedingungen mit dem Auftraggeber (insbesondere Liefertermin und -form sowie Vergütung)←315 | 316→ auf dem Programm. In der Regel übernimmt der Lehrende nicht zuletzt aus praktischen Gründen, nachdem er mit den Studierenden über die betreffenden Punkte zu einem Konsens gelangt ist, als Sprecher der Gruppe diese Aufgabe. Damit beraubt er jedoch die Studierenden der Chance, sich mit einem realen Auftraggeber auseinanderzusetzen, einer Disziplin, die neben Fachwissen auch soziales Geschick inklusive Fingerspitzengefühl erfordert und für selbstständige Übersetzer unverzichtbar ist.

„Um ein den Bedürfnissen des Initiators entsprechendes Translat herzustellen“ (Nord 1991, 9) bietet es sich an, einen für den Auftraggeber konzipierten Fragebogen zu erstellen, der sozusagen als Diskussionsgrundlage dient und geringfügig modifiziert, auch beim Einsatz weiterer Aufträge zur Anwendung kommen könnte. Die folgenden Punkte sollten in dem Formular unbedingt erfasst werden: die Zielgruppe, das Skopos des ZT, die Textsorte, eine mögliche Kontaktaufnahme mit dem Auftraggeber/AT-Verfasser, die Prüfung des ZT durch Dritte, vom Auftraggeber zur Verfügung gestelltes Material, die Lieferfrist sowie der Preis (Summe, Zahltag). Auf einen derartigen Fragebogen sollte vor allen dann zurückgegriffen werden, wenn sich der Auftraggeber beispielsweise aufgrund mangelnder Erfahrung mit Übersetzern/Übersetzungen außerstande sieht, die Zieltextvorgaben bzw. den Übersetzungsauftrag selbst zu formulieren (vgl. Nord 1991, 9). In diesem Zusammenhang erweist es sich als zweckmäßig, wenn der Fragebogen nicht in Eigenregie vom Lehrenden entworfen wird, sondern das Endprodukt einer erfolgreichen Kooperation zwischen den Studierenden und dem Kursleiter darstellt.

Im Anschluss erfolgt die Befragung des Auftraggebers, die per E-Mail oder, falls dies aus zeitlichen bzw. praktischen Gründen möglich ist, im Rahmen eines Gesprächs stattfinden sollte. Auch diese Aufgabe sollte aus oben genannten Gründen möglichst von einem Kursteilnehmer/von einer Kleingruppe übernommen werden und nicht, wie es beispielsweise in der von mir durchgeführten Fallstudie geschehen ist, von der Lehrkraft. Die Ergebnisse der Auftraggeberbefragung werden im Unterricht analysiert und die Studierenden erhalten eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte bzw. das gesamte Formular. Um ihren Einblick in die Thematik zu vertiefen, ist anzuraten, dass die oben erwähnte Zusammenfassung von den Kursteilnehmern und nicht vom Lehrenden vorgenommen wird. Die Resultate der Auftraggeberbefragung dienen den semi-professionellen Übersetzern während des Übersetzungsprozesses als Orientierungshilfe und tragen dazu bei, die (berechtigten) Wünsche des Auftraggebers zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die angestrebte Dienstleistungskompetenz und die Annäherung an ein←316 | 317→ möglichst professionelles Agieren ist generell dafür zu plädieren, die Studierenden aktiver einzubinden und ihnen eine größere Verantwortung zu übertragen, auch wenn dies beim Auftraggeber unter Umständen zunächst auf wenig Gegenliebe stoßen sollte. In diesem Fall ist der Lehrende in der Pflicht, Überzeugungsarbeit zu leisten. Werden im Übersetzungsunterricht authentische Aufträge bearbeitet, wird auch das folgende von der EMT-Expertengruppe in Bezug auf die Dienstleistungskompetenz aufgestellte Kriterium erfüllt: „In der Lage sein, eine Übersetzung anzufertigen und anzubieten, die dem Bedarf des Kunden, d. h. dem Zweck (Skopos) und der Situation der Übersetzung gerecht wird“ (EMT-Expertengruppe 2009, 5).

Auch wenn der überwiegende Teil der (Verständnis-)Probleme aufgrund von Recherchearbeiten sowie Diskussionen innerhalb der Gruppe geklärt werden können, ist es mitunter unabdingbar, den Auftraggeber zu kontaktieren, um die Lieferung eines funktionsgerechten Translats zu gewähren. E-Mails erweisen sich bei der Kontaktaufnahme als probates Mittel: Die Fragen/Kommentare sind schriftlich fixiert und können im Gegensatz zu verbaler Kommunikation, z. B. per Mobiltelefon, zu einem vom Auftraggeber selbst gewählten Zeitpunkt abgerufen und bearbeitet werden, d. h. für den Initiator2 entfällt die Verpflichtung unter Zeitdruck oder zu einem für ihn unpassenden Moment Auskunft geben zu müssen. Insbesondere wenn in den Übersetzungsprozess mehrere Akteure involviert sind, ist es sinnvoll, sich mit (Verständnis-)Problemen auseinanderzusetzen und gemeinsam eine Liste anzufertigen, die dem Auftraggeber zu einem geeigneten Zeitpunkt vorgelegt wird. Von einer wiederholten und gegebenenfalls gar unnötigen Kontaktaufnahme mit dem Auftraggeber ist abzusehen, da dies zu einer Überfrachtung desselben führt und seine Kooperationsbereitschaft schmälern könnte.

Als letzter Schritt sollte die ZT-Prüfung durch den Auftraggeber erfolgen, und zwar zu einem Zeitpunkt, der es dem Translator ermöglicht, etwaige Korrekturen vorzunehmen, ohne dass dem Initiator zusätzliche Kosten entstehen, z. B. der bereits gedruckte ZT eingestampft werden muss. Eine (objektive) fach- und / oder sachspezifische Überprüfung bzw. Korrekturlesen (Lektorieren und Redigieren) durch einen unparteiischen, am Übersetzungsprozess nicht direkt beteiligten Dritten, ist unbedingt anzuraten, da sich in Bezug auf den eigenen Text nicht selten die sog. Betriebsblindheit (vgl. Hansen 2008, 263) einschleicht.←317 | 318→

4. Fazit

Aufgrund ihres Praxisbezugs sind authentische Aufträge geradezu dazu prädestiniert, fester Bestandteil einer „praxisorientierten Translationsdidaktik“ (Reuter 2008, 77) zu werden, die „die überkommene philologische oder linguistische Übersetzungsdidaktik“ (Reuter 2008, 77) zu ersetzen vermag. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass im Übersetzungsunterricht eingesetzte echte Aufträge nicht mit Übersetzungsaufträgen verwechselt werden dürfen, die Studierende in Eigenregie, d. h. ohne kompetente Betreuung und möglicherweise gar zu einem Dumpingpreis verrichten. Authentische Aufträge vermitteln/vertiefen neben den in Kapitel 3 aufgezeigten Fertigkeiten in Bezug auf die Dienstleistungskompetenz weitere Kompetenzmerkmale, die in der translatorischen Praxis eine immense Bedeutung besitzen und sind daher zum Einsatz in der Übersetzerausbildung geeignet, wenn neben den oben aufgeführten Kriterien (siehe Punkt 2) auch die beiden folgenden Faktoren berücksichtigt werden:

1. Es werden nicht mehr als 2–3 Aufträge pro Studienjahr angenommen, um einem potenziellen Preisdumping entgegenzuwirken und weder Studierende noch Lehrende zu überfrachten.

Diese Anzahl ist gemessen an den unzähligen Übersetzungsaufträgen, die täglich in der Realität vergeben werden verschwindend gering. Auch Kemppanen und Salmi (2007, 2; Übers. d. Verf.) konstatieren, dass „authentische Aufträge gelegentlich und wenn eine Möglichkeit vorhanden ist, bearbeitet werden, normalerweise einige Aufträge pro Fach“. Zu ergänzen ist, dass nur eine Minderheit der Universitätslektoren auf echte Aufträge zurückgreift, womöglich da angemessene, translationsdidaktisch-kompatible Aufträge oftmals nur schwer zu beschaffen sind, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass die unvermeidbare Zusatzbelastung und die nicht zu unterschätzende Verantwortung von einigen Unterrichtenden gescheut werden (vgl. Kemppanen / Salmi 2007, 3).

2. Authentische Aufträge werden erst ab dem dritten Studienjahr bzw. auf Master-Niveau eingesetzt, wenn die Studierenden bereits das erforderliche Kompetenzgefüge besitzen.

Unter Kompetenzgefüge sind translatorische Grundkompetenzen, z. B. A- und B-Arbeitssprachenkompetenz, Kulturkompetenz, Recherchierkompetenz, Sach- und Fachwissen sowie Übersetzungskompetenz (vgl. Göpferich 2008, 146 ff.) zu verstehen.←318 | 319→

Literatur

EMT-Expertengruppe (2009) : Kompetenzprofil von Translatoren, Experten für die mehrsprachige und multimediale Kommunikation. Online: http://ec.europa/dgs/translation/programmes/emt/key_documents/emt_competences_Translators_de.pdf (abgerufen 24/01/2015).

Göpferich, S. (2008): Translationsforschung. Stand – Methoden – Perspektiven. Tübingen

Hansen, G. (2008): The speck in your brother’s eye – the beam in your own. Quality management in translation and revision. In : Hansen, E. / Chesterman, A. / Gerzymisch-Arbogast, H. (Hg.): Efforts and Models in Interpreting and Translation Research. A tribute to Daniel Gile. Amsterdam/Philadelphia, 255–277.

Kemppanen, H. / Salmi, L. (2007): Autenttiset toimeksiannot kääntämisen opetuksessa: potilasoppaan tapaus. In : MikaEL, kääntämisen ja tulkkauksen tutkimuksen symposiumin verkkojulkaisu 1, 1–12.

Krenzler-Behm, D. (2013) : Authentische Aufträge in der Übersetzerausbildung. Ein Leitfaden für die Translationsdidaktik. Berlin.

Nord, C. (1991) : Textanalyse und Übersetzen. (2. Aufl.). Heidelberg.

Pfadenhauer, M. (2005): Die Definition des Problems aus der Verwaltung der Lösung. Professionelles Handeln revisited. In : Pfadenhauer, M. (Hg.) : Professionelles Handeln. Wiesbaden, 9–22.

Reuter, E. (2008) : Professionelle Kommunikation. Einführung in den Theoretischen Teil. In : Reuter, E. (Hg.) : Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache Band 34. Professionelle Kommunikation. München, 71–79.←319 | 320→ ←320 | 321→


1 Auch wenn sich die translationsspezifische Technologie in den letzten Jahren stark weiterentwickelt hat, haben sich die Charakteristika authentischer Aufträge und die didaktischen Aspekte nicht gewandelt.

2 Initiator und Auftraggeber werden synonym verwendet.