1. Die allmächtigen Vier: Aldi, Lidl, Rewe, Edeka

Supermärkte sind für uns Verbraucher eine Art zweites Wohnzimmer: Weit über 200-mal im Jahr kauft ein Haushalt durchschnittlich im Lebensmitteleinzelhandel ein; drei Viertel der Menschen geben an, dass sie ihren angestammten Lebensmittelladen ein- bis viermal in der Woche aufsuchen, zwölf Prozent halten sich dort sogar »fast täglich« auf. Und mit 34000 Verkaufsstellen ist das Filialnetz so dicht gewoben, dass der nächste Supermarkt oder Discounter im Schnitt innerhalb von drei bis vier Minuten mit dem Auto erreichbar ist.

Doch so alltäglich der Gang zu Aldi & Co., so vertraut dort die Wege vom Obst und Gemüse zu den Milchprodukten und Getränken, so skeptisch blicken wir auf das, was wir aus den Regalen nehmen und am Ende jedes Supermarktgangs vom Einkaufswagen aufs Kassenband legen. Wir trauen unseren Lebensmittelhändlern nicht. Unser zweites Wohnzimmer bleibt uns fremd, sein Inventar macht uns misstrauisch.

Das ist nicht meine Privatthese, sondern gesichertes Wissen unter Marktforscherinnen. Der Aussage »Es ist für den Verbraucher sehr schwierig, die Qualität von Lebensmitteln richtig beurteilen zu können« stimmten bei einer Befragung von 30000 Haushalten 81 Prozent zu, weitere 14 Prozent waren unentschieden, und nur knapp fünf Prozent befanden ihr Orientierungsvermögen in Sachen Lebensmittelqualität für gut. Welch katastrophaler Befund: Mehr als vier von fünf Verbraucherinnen können die Qualität ihrer Lebensmittel nicht richtig einschätzen!

Darum soll es in diesem Buch gehen: Wie kann es sein, dass die versammelte Lebensmittelwirtschaft, deren Zehntausende von Mitarbeitern sich tagtäglich Gedanken um Lebensmittel machen, ihre Kundschaft derart im Stich lassen? Wie ist es möglich, dass wir ausgerechnet bei Produkten, die unseren Tag strukturieren, die uns kulturell charakterisieren, ohne die wir kein Fest begehen und die wir zum (Über-)Leben so dringend brauchen wie sonst keine anderen, so unsicher geworden sind? Den großen Handelskonzernen ist in diesem Zusammenhang vieles vorzuwerfen, aber am Ende, so viel sei an dieser Stelle schon gesagt, geht es um Marktversagen infolge von Politikversagen.

In der eingangs erwähnten Befragung, die übrigens einem Report der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE ) entstammt, [1] steht nicht nur das bemerkenswerte Eingeständnis, dass Verbraucherinnen die »Qualität kaum oder gar nicht zu beurteilen vermögen«, weil es ihnen »an der nötigen Transparenz des Produktionsprozesses fehlt, und sie folglich unsicher sind, was die Einhaltung von Qualitätsstandards durch Industrie und Handel betrifft«. In dem Report wird auch der wichtige Gedanke geäußert, dass »viele Qualitätsmerkmale Vertrauenssache sind«. So ist es: Lebensmittel sind das, was Wirtschaftswissenschaftler »Vertrauensgüter« nennen. Denn wie bei der Ärztin, deren Ratschlägen und Rezepten wir vertrauen müssen, weil wir selbst keine Mediziner sind, müssen wir im Supermarkt darauf vertrauen, dass ein Lebensmittel frei von Rückständen und Keimen ist, dass der angegebene Gehalt an gesundheitsfördernden Substanzen, die behauptete Güte der Zutaten stimmen. »Der Verbraucher muss sich auf die Arbeit der Lebensmittelwirtschaft verlassen können«, heißt es in dem Report der Ernährungsindustrie.

Doch dann müssen die Autorinnen einräumen, dass es um das Vertrauen der Kunden tatsächlich miserabel bestellt ist. Bei der Frage »Wem vertrauen Sie wie stark, wenn es um die Qualität von Lebensmitteln geht?«, nennen die Teilnehmerinnen an erster Stelle Zeitschriften wie Stiftung Warentest und Ökotest , es folgen Verbraucherschutzorganisationen, Bäckereien und Metzgereien, Landwirte und Expertinnen. Und erst unter »ferner liefen«, auf den Rängen 14 und 15 von insgesamt 17, nennen die Befragten die Lebensmittelhändler und -herstellerinnen: Ihnen vertrauen in Sachen Lebensmittelqualität uneingeschränkt nur 21 bzw. 18 Prozent der Befragten. Dass dennoch täglich Millionen von Kunden ihren Supermarkt aufsuchen, ist deshalb nicht als Vertrauensbeweis zu werten, wie es manchmal zu hören und zu lesen ist. Denn was bleibt den Menschen anderes übrig? Millionen von Menschen nutzen auch täglich Busse und Bahnen, was weder etwas über deren Qualität aussagt noch über die Zufriedenheit der Fahrgäste.

Der erwähnte Report der Ernährungsindustrie stammt aus dem Jahr 2011. Und wie es scheint, ist es der Branche seither nicht gelungen, erkennbar neues Vertrauen bei ihren Kundinnen aufzubauen. 2018 schrieben Autoren der Marketingberatung Zühlsdorf + Partner und des Lehrstuhls »Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte« der Universität Göttingen in einer Studie zum Thema Qualitätstransparenz: Nur knapp 15 Prozent der Befragten geben an, die Angaben auf Lebensmitteln zu verstehen; 85 Prozent gestehen, gar nicht mehr oder nur noch teilweise durchzublicken; 44 Prozent finden es schwer, die Qualität von Lebensmitteln zu beurteilen, und weitere 41 Prozent empfinden es zumindest teilweise genauso. Besonders aufschlussreich ist in der Studie der Vergleich der Erwartungen der Verbraucherinnen bezüglich ganz bestimmter Qualitätsdimensionen mit der tatsächlichen Erkennbarkeit dieser Qualitäten am Produkt: Die größten Differenzen finden sich bei sozialen Aspekten wie Arbeitsschutz und Kinderarbeit, beim Geschmack, der Tierfreundlichkeit, Gentechnikfreiheit und Gesundheit. »Bei diesen Merkmalen sind die für den Kauf als wichtig angegebenen Eigenschaften für viele Verbraucher am Produkt nicht gut erkennbar«, schreiben die Autorinnen und konstatieren, die Vertrauensdefizite in die Unternehmen seien alarmierend. Einer der vielen Belege dafür ist, dass 64 Prozent der Verbraucher der Meinung sind, dass es auf dem Lebensmittelmarkt viele »schwarze Schafe« gibt, weitere 29 Prozent gehen davon »teils/teils« aus. [2]