Wie konnte es so weit kommen? Woher rührt das tiefe Misstrauen der Verbraucherinnen, und warum sind wir nicht in der Lage, unsere Nahrungsmittel qualitativ zu beurteilen? Die Fragen berühren die Lebensmittelwirtschaft insgesamt, aber vor allem die großen finanzstarken Handelskonzerne Edeka, Aldi, Rewe und Lidl. Denn diese vier Konzerne – oft als »Big Four« bezeichnet – bestimmen mehr denn je, was wir essen, welche Qualität und Nicht-Qualität diese Lebensmittel haben und mit welcher Transparenz oder Intransparenz uns die Produkte angeboten werden. Die »Big Four« mit ihren Discounter-Töchtern Netto (gehört zu Edeka), Kaufland (Lidl) und Penny (Rewe) sind die Großmeister des Angebots, während ihre Lieferanten – die Lebensmittelherstellerinnen und Landwirte – oft nur noch die Bittsteller sind. Der Hamburger Wettbewerbsökonom und Einzelhandelsexperte Prof. Dr. Rainer Lademann sagt: »Die Top 4 des Lebensmitteleinzelhandels verhalten sich auf den Beschaffungsmärkten inzwischen als Marktbeherrscher.« [1]
Ein Pfeiler ihrer Macht ist die Tatsache, dass diese vier Handelsketten mehr als 85 Prozent des deutschen Lebensmittelmarkts dominieren und damit ein Oligopol bilden; [2] an manchen Orten und Regionen entfalten sie sogar quasi monopolistische Marktmacht, weil es für Kundinnen dort schlicht keine anderen Anbieter mehr in erreichbarer Nähe gibt. 85 Prozent für ganze vier Unternehmen – das ist unter Wettbewerbsgesichtspunkten eine Katastrophe. Dieser Zustand ist so verbraucherfeindlich wie die Dominanz weniger Mineralölkonzerne im deutschen Tankstellennetz oder so, als würde es hierzulande nur noch VW , BMW , Mercedes und Opel geben – bei geschlossenen Grenzen für ausländische Autobauer. Verantwortlich dafür ist die Politik, die diese Entwicklung seit Jahrzehnten ignoriert, zum Teil sogar fördert – etwa im Jahr 2016 durch eine Sondergenehmigung des damaligen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel (SPD ) für Marktführer Edeka, der die Erlaubnis zur Übernahme der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann erhielt, gegen den ausdrücklichen Rat des Bundeskartellamts und der Monopolkommission.
Verbraucherinnen mögen die 85 Prozent Marktanteil für nur vier Konzerne zunächst unbedeutend erscheinen. Für Lebensmittelhersteller und Landwirtinnen hingegen wirkt diese 85-Prozent-Marke wie ein langer dünner Flaschenhals: Wenn sie es mit ihren Lebensmitteln nicht in die Mega-Ketten schaffen, haben sie kaum noch Alternativen, ihre Produkte zu verkaufen. Überdies sind die Regalflächen in den Supermärkten begrenzt, gerade bei den Discountern, die meist weniger als 2000 Artikel führen, ist oft nur Platz für zwei oder drei Alternativen eines Produkts. Bei den Supermärkten, deren Sortimente etwa 10000 Artikel umfassen, ist die Auswahl zwar größer, aber immer noch weit entfernt von den rund 170000 Produkten, die die Lebensmittelwirtschaft anbietet. Das ist die simple deutsche Supermarkt-Ökonomie: Auf der einen Seite vier Mega-Händler, die den Platz in ihren Regalen knapp halten, auf der anderen Seite viele Lebensmittelproduzentinnen mit einem mehr oder weniger austauschbaren Warenangebot. Im Grunde ist es überall so wie bei Aldi in Großbritannien: Dort rief der Discounter Anfang 2022 in einem landesweiten Wettbewerb britische Lebensmittelproduzenten dazu auf, sich um einen Platz in seinen Regalen zu bewerben, der Titel des Castings, »Stars in their Aisles« (dt. »Stars in den Gängen«), war eine Anspielung auf die im Vereinten Königreich populäre TV -Talentshow »Stars in their Eyes«. Die Bittstellerrolle der Herstellerinnen liegt auf der Hand.
Wie sich die Machtverhältnisse verschoben haben, ist fast täglich in Fachmedien der Lebensmittelwirtschaft nachzulesen, wenn sie berichten, wie die großen Handelskonzerne selbst Konflikten mit mächtigen Markenherstellern wie Nestlé oder PepsiCo nicht mehr aus dem Weg gehen und deren Produkte einfach »auslisten« – sprich: aus dem Sortiment schmeißen –, sobald die geforderten Preise und sonstigen Konditionen nicht passen. Inzwischen werden solche Verhandlungen von manchen Supermarktketten auch gern über die Medien ausgetragen wie zum Beispiel durch Edekas Discount-Tochter Netto. Über Instagram und Facebook warf Netto dem Riegelproduzenten Mars vor, »Mondpreise« zu verlangen, also völlig überhöhte Preise, und stellte der Packung »M&M’s« von Mars die viel billigeren Süßigkeiten der Netto-Eigenmarke »Schokoliebe« entgegen, Tenor: »Keine Lust auf Mondpreise von Mars? Dann geh’ doch zu Netto!«
Nun ist bei Giganten wie Mars, Nestlé oder PepsiCo Mitleid unangebracht, doch solch öffentlich ausgetragene Preisverhandlungen mit Schwergewichten der multinationalen Lebensmittelwirtschaft sind eine wirksame Drohkulisse für die vielen kleineren Herstellerinnen: Auf diese Weise erfahren sie, was ihnen blühen kann, wenn sie dem Diktat der Ketten nicht folgen. »Nur wenige Hersteller haben sehr starke Marken, von denen sie wissen, dass der Handel nur ungern auf sie verzichtet«, sagt Ökonom Rainer Lademann. »Fällt nur eine der vier Supermarkt-Ketten als Auftraggeber weg, kommen viele Hersteller schon in ernsthafte Schwierigkeiten. Die ›Big Four‹ sind für fast alle Produzenten inzwischen mehr oder weniger unverzichtbar. Damit bleibt wirksamer Wettbewerb auf der Strecke, und das ist kein guter Zustand.«
Eine weitere Säule der Marktmacht bilden die Eigen- oder Handelsmarken von Lidl & Co.: Sie werden entweder im Auftrag und nach den ganz spezifischen Anforderungen der Supermärkte von Lebensmittelfirmen hergestellt, oder die Händler produzieren sie selbst in ihren eigenen Werken. Edeka zum Beispiel gehören die Safthersteller »Sonnländer« und »Albi«, dazu zwölf Fleischwerke, 14 regionale Backbetriebe und eine Kellerei; Rewe betreibt seine eigene Großbäckerei (»Glocken«) und stellt unter der Eigenmarke »Wilhelm Brandenburg« in Eigenregie Fleisch- und Wurstwaren her; Aldi röstet seinen Kaffee selbst, und Lidl produziert in den eigenen Fabriken Schokolade, Knabbersnacks, Eis, Getränke, Trockenfrüchte, Backwaren und seit neuestem auch Nudeln.
Im deutschen Lebensmitteleinzelhandel machen Eigenmarken knapp 40 Prozent aus, bei Discountern wie Aldi können sogar neun von zehn Produkten Handelsmarken sein. Durch sie nehmen die ohnehin großen Einflussmöglichkeiten des Handels auf das Sortiment weiter zu: Denn die »Big Four« sind gleichzeitig Händler und Produzent – und damit auch Konkurrenten ihrer Lieferantinnen, denen sie die billigeren Eigenmarken vor die Nase halten wie im oben genannten Beispiel von Nettos »Schokoliebe«, das gegen »M&M’s« von Mars in Stellung gebracht wurde. Mitunter werden auch gleich ganze Warenkörbe verglichen, wie das im Sommer 2022 Aldi ungeniert in einer Werbekampagne praktizierte: Die großformatigen Zeitungsanzeigen präsentierten 16 Produkte vom Pesto über Sekt bis zu Ketchup und Bier, mal als Eigenmarken »von Aldi«, mal als Herstellermarken »bei Aldi«. Daneben die zwei unterschiedlichen Kassenzettel und der Hinweis: »-51 % sparen mit der Eigenmarke«.