Die Kehrseite solch öffentlicher Preisvergleiche ist oft dunkel, so dunkel, dass selbst die Bundesregierung auf ihrer Website schreibt, die vier großen Handelsketten mit ihrem Marktanteil von mehr als 85 Prozent würden »ihr Preisdumping bei den Verkaufspreisen nach unten weitergeben«. [1] »Unten« – das sind in diesem Fall Milchbauern, Schweinemästerinnen, Obst- und Gemüsebauern, mittelständische Lebensmittelherstellerinnen. Ihre Situation im ungleichen Machtkampf mit den »Big Four« war und ist in vielen Fällen so prekär, dass es seit Mitte 2021 ein eigenes Gesetz gibt, um wenigstens die schlimmsten Auswüchse einzudämmen. [2] Dieses »Gesetz zur Stärkung der Organisationen und Lieferketten im Agrarbereich« setzt eine Richtlinie der EU um und verbietet Praktiken einer sogenannten »schwarzen Liste« beziehungsweise schränkt Praktiken einer »grauen Liste« ein. Dass der europäische und der deutsche Gesetzgeber ein solches Regelwerk überhaupt erlassen haben, gibt eine Ahnung davon, wie es zuging und teilweise immer noch zugeht im Verhältnis der Handelskonzerne und ihrer Lieferantinnen: Verboten ist jetzt zum Beispiel, dass Händler unverkaufte Ware zurückschicken, ohne den Kaufpreis zu zahlen; verboten ist die kurzfristige Stornierung verderblicher Agrarerzeugnisse; Händler dürfen jetzt nicht mehr mit geschäftlichen Vergeltungsmaßnahmen drohen, geschweige denn solche anwenden, »wenn der Lieferant von seinen vertraglichen oder gesetzlichen Rechten Gebrauch macht oder seine gesetzlichen Pflichten erfüllt«; Supermärkte und Discounter dürfen auf ihre Lieferanten jetzt weder eigene Lagerkosten abwälzen noch Kosten, die durch Fehlverhalten des eigenen Personals entstehen; und die Händler müssen nun für verderbliche Erzeugnisse innerhalb von 30 Tagen zahlen.
Vielleicht verhindert das Gesetz hierzulande tatsächlich, dass Supermärkte über Nacht einen Auftrag für 20 Paletten Salatköpfe stornieren, während sie die Zahlung der längst verkauften 30 anderen Paletten seit zwei Monaten verweigern. Ob das Gesetz auch internationale Lieferketten zum Besseren verändert, muss bezweifelt werden. Warum diese Zweifel begründet sind, beschreibt ausgerechnet eine Publikation von Lidl, die sich mit der menschenrechtlichen Situation von Pflückerinnen und Pflückern in der spanischen Region Huelva beschäftigt, aus der ein Großteil der Beeren in deutschen Supermärkten kommt. Als »strukturelle Ursachen« für die beklagenswerten Arbeits- und Lebensbedingungen der Saisonarbeiter nennt der Report überraschend offen die »Marktdynamik«: »Der Lebensmitteleinzelhandel zeichnet sich durch eine hohe Wettbewerbsintensität aus. Niedrigpreisstrategien haben sich dabei für Supermärkte als erfolgreiches Geschäftsmodell erwiesen (…) Da lediglich vier Supermärkte den deutschen Einzelhandel kontrollieren, haben sie einen großen Einfluss zum Beispiel auf Qualitäts- und Einkaufsbedingungen. Dadurch können sie erheblichen Druck auf Lieferanten ausüben (…) Von den Erzeuger:innen wird erwartet, dass sie hohe Qualitäts- und Verpackungsstandards zu einem möglichst niedrigen Preis erfüllen. Der Anreiz, die Kosten zu senken, ist für die Erzeuger:innen daher hoch. Einsparungen finden vor allem auf Ebene der Arbeiter:innen statt.« Der Beerensektor in Huelva, resümiert die Studie, sei charakterisiert durch die »Konkurrenz zwischen dem Wohlergehen der Saisonkräfte und dem Profit«. [3]
Man kann diese Analyse von Europas größtem Lebensmittel-Einzelhändler als versteckten oder unfreiwilligen Aufruf für mehr staatliche Regulierung lesen. Denn die von Lidl beschriebene »Konkurrenz zwischen dem Wohlergehen der Saisonkräfte und dem Profit« – ein klassisches Dilemma – ist nichts, was Lidl allein auflösen könnte. Das beste Beispiel dafür lieferte Lidl selbst, als man vor wenigen Jahren versuchte, nur noch »fair« gehandelte Bananen zu verkaufen – zu höheren Preisen als die Konkurrenz. Das Projekt scheiterte nach kurzer Zeit, weil die anderen Händler nicht mitzogen und Lidl Marktanteile abnahmen. Mit dem Satz »Der Kunde will eine billige Banane« beendete der damalige Lidl-Chef das Experiment. [4]
Dieser Ausgang war abzusehen, es hätte nicht anders kommen können. Weil man von keinem Unternehmen, schon gar nicht von einem Supermarkt-Giganten wie Lidl, erwarten kann, dass es sich freiwillig aus dem Markt schießt. So funktioniert Marktwirtschaft nicht. Wenn man unterstellt, dass auch Supermarkt-Manager die Welt lieber retten als zerstören wollen, bleibt ihnen in der Billig-Preis-Logik der vier deutschen Supermarkt-Riesen nichts anderes übrig, als die Welt immer nur ein ganz klein bisschen besser zu machen. Mit einem Faire-Bananen-Projekt hier und einer »Klima-Offensive« dort. Oder wie Lidl mit der Selbstverpflichtung, bis Ende 2025 bei den Eigenmarken mit Kinderoptik auf der Verpackung, also z.B. Comic- oder Tierfiguren auf Fruchtjoghurts oder Frühstückscerealien, nur noch solche Produkte verkaufen zu wollen, die die Kriterien der Weltgesundheitsorganisation für ausgewogene Produkte erfüllen – »ausgenommen Aktionsartikel zu Weihnachten, Ostern und Halloween«. Die »gute Tat« gilt also nur für Eigenmarken und auch nicht in jenen Zeiten, in denen diese Produkte besonders gern gekauft werden. Man kann deshalb sagen: Lidl täuscht Verantwortung vor. Man kann aber auch sagen: Lidl tut, was Lidl tun kann, ohne sich selbst zu schaden.