Billig um jeden Preis

Ganz klar: Es geht ums Geld. Nach Recherchen des Südwestrundfunks in 2019 bekamen italienische Tomatenbauern für Industrietomaten zur Weiterverarbeitung in Ketchup & Co. zehn bis zwölf Cent pro Kilo. In solchen Beträgen enthalten sind die Hungerlöhne für Erntehelferinnen, die in größter Hitze und stickigen Gewächshäusern einen Knochenjob machen und nach abgelieferten Kilo bezahlt werden. Akkordarbeit auf dem Feld. Oft sind es Migranten und Illegale aus Afrika oder Südosteuropa, die sich nicht wehren können gegen gewalttätige Vorarbeiterinnen und nichts ahnen von der Gefährdung durch den fortwährenden Kontakt mit Pestiziden. In Entwicklungsländern sterben jährlich viele tausend Menschen an den Folgen des täglichen Umgangs mit den Substanzen, aber auch in Industrieländern gibt es Hinweise, dass Anwender von Pestiziden ein erhöhtes Risiko tragen, an Krebs oder Parkinson zu erkranken. [1] Dennoch sind zehn oder zwölf Cent pro Kilo Tomaten für manchen verarbeitenden Lebensmittelbetrieb immer noch zu viel, weshalb er seinen Rohstoff bei chinesischen, marokkanischen oder tunesischen Tomatenbauern ordert, die noch weniger Cent fürs Kilo verlangen.

Tomaten für verarbeitete Produkte in Dosen und Tuben sind für die Herstellerinnen und die verkaufenden Supermärkte austauschbare Ware – Einkäufer sprechen von commodities –, bei denen es allein und ausschließlich um den Preis geht, weil die Kundin keine Präferenzen hat. Der Einkauf findet häufig über elektronische Auktionen statt, bei denen der Preis nur eine Richtung kennt – nach unten, dorthin, wo die schlechtesten Löhne, die miesesten Arbeitsbedingungen und die billigsten Rohstoffe das Bild bestimmen.

Die deutsche Lust auf Tomaten kann das nicht trüben. Wir haben das Gemüse einfach zum Fressen gern, wie übrigens die meisten europäischen Länder. Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von rund gut 31 Kilogramm sind Tomaten das mit Abstand beliebteste Gemüse der Deutschen, wobei nur ein gutes Viertel davon (8,5 Kilo) frische Ware ist, der Rest steckt in verarbeiteten Produkten wie getrockneten oder gestückelten Tomaten, Ketchup oder Tomatenmark. [2] Die Beliebtheit des Gemüses erklärt auch, warum es so häufig in den Angebotsaktionen der Supermärkte beworben wird: Tomaten sind oft die Werbekönige, wer sie preiswert anbietet, zieht Kundschaft an. Der Selbstversorgungsgrad allerdings, der bei Gemüse ohnehin nur gut ein Drittel beträgt, liegt bei Tomaten bei winzigen vier Prozent (2018/19). Das heißt: Tomaten in deutschen Supermärkten sind fast ausschließlich ausländische Tomaten. Die mit weitem Abstand meisten Importe kommen aus niederländischen Gewächshäusern – und das vor allem in den kälteren Monaten –, es folgen Spanien, Belgien, Marokko und erst an fünfter Stelle Italien.

Die früher kolportierte Aussage, Tomaten aus südlichen Anbauländern seien schmackhafter als jene aus niederländischen Gewächshäusern, ist nicht mehr haltbar. Davon zeugt eine bemerkenswerte Blindverkostung von zwei ausgewiesenen Tomatenprofis und deutschen Bio-Bauern im SWR -Film »Tomaten – Zurück zum guten Geschmack«: Ausgerechnet die teuren Rispentomaten vom Wochenmarkt (4,80 Euro/Kilo) schneiden nach ihrem Urteil am schlechtesten ab (»schmecken nach gar nichts«), während die mittelpreisigen Tomaten von Aldi (2,45 Euro/Kilo) und Edeka (1,99 Euro/Kilo) immerhin mittelprächtig munden (»Durchschnittsgeschmack«); just die billigen Holland-Gewächse (0,99 Euro/Kilo) heimsen das Attribut »lecker« ein. Restlos überzeugt sind die Bio-Bauern von keiner Frucht, doch so viel offenbart der Test: Zwischen Preis und Herkunft einerseits und Geschmack andererseits besteht kein zwingender Zusammenhang.

Über die Faktoren für den wahren tomatigen Geschmack gibt es viele Studien und noch mehr Meinungen. Der Boden spiele eine Rolle und das Klima, natürlich die Sorte und die Reife, auch die Jahreszeit und die Dauer der Lagerung, während der die Früchte gekühlt werden und dabei Aroma verlieren wie in jedem privaten Kühlschrank. Die fad schmeckende, harte, hellrote »Wasserbombe« aus den 1990er Jahren – klassischerweise eine Rispentomate – ist nicht völlig verschwunden, aber nicht mehr das dominierende Angebot. In den Supermärkten gibt es wieder eine schmale Auswahl von vier, fünf, sechs Sorten, auch wenn die überall mehr oder weniger die gleiche ist und niemals heranreicht an das, was das Tomatengewächs eigentlich zu bieten hat an Formen (rund, eier- oder pflaumenförmig, faltig …), Farben (rot, gelb, grün, orange, lila, gestreift …) und Geschmacksrichtungen (von »krautartig« über »süß-mehlig« bis »blumig«) mit Sortennamen wie »Gelbe Stierhoden«, »Blue Estland«, »Dino Egg Green« oder »Berner Rose«.