Pestizide als Beikost

Das Angebot in den Supermärkten sähe wohl anders aus, wenn man die in den Tomaten enthaltenen Pestizide schmecken oder riechen könnte und wenn die Käufer besser darüber informiert wären. Denn das Gemüse ist regelmäßig mit Pflanzenschutzgiften belastet. [1] So weist der Pestizidreport von Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2021 aus, dass von 74 beprobten frischen Tomaten 59 Prozent Pestizidrückstände enthielten. Und das ist kein einmaliger Ausreißer: 2020 hatten 58 Prozent der untersuchten Tomaten einen Pestizidbefund, im Jahr zuvor 65 Prozent. Und in rund einem Drittel der getesteten Tomaten findet sich regelmäßig nicht nur ein Pestizid, sondern oft ein ganzer Cocktail aus bis zu zehn verschiedenen Wirkstoffen mit so vertrauenerweckenden Namen wie Cyantraniliprol oder Hexythiazox.

Ähnlich beunruhigende Größenordnungen vermeldete das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES ): In den Jahren 2016 bis 2019 fanden die LAVES -Experten Pestizide in 73 bis 81 Prozent ihrer Tomatenproben. Und auch hier waren in rund der Hälfte der Proben (zwischen 44 und 67 Prozent) Mehrfachrückstände mit bis zu neun Wirkstoffen nachweisbar.

Sortiert man die Befunde nach Supermärkten, geht es übrigens kreuz und quer ohne Rücksicht auf vermeintliche Preis- und Qualitätsunterschiede, wie der Pestizidreport in NRW zeigt: In den Jahren 2017 und 2018 zum Beispiel waren beim höherpreisigen Edeka 59 Prozent der Tomaten-Proben mit Pestiziden belastet, während die Discounter Aldi-Nord (53 Prozent) und Lidl (44 Prozent) besser abschnitten, und noch besser der Billig-Anbieter Penny (27 Prozent). Beim Feldsalat wiederum war das Niveau der Belastung bei allen erschreckend hoch: Real 77 Prozent, Kaufland 71 Prozent, Netto 63 Prozent, Aldi-Nord 61 Prozent, Rewe 58 Prozent, Lidl 55 Prozent, Edeka 53 Prozent.

Und es sind keineswegs nur Tomaten und Feldsalat, die Pestizide mitliefern, die keiner will. Wie die Erhebungen in Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2021 zeigen, sind die Rückstände allgegenwärtig: in 91 Prozent der beprobten Auberginen, in 75 Prozent der Gemüsepaprikas, in 92 Prozent der Gurken, in 74 Prozent der Grünen Bohnen, in 55 Prozent der Zucchini, in 67 Prozent der Melonen.

Der schlimme Befund lautet demnach: Wer Gemüse und Obst isst, isst meistens Pestizide mit, sie stecken in zwei von drei Produkten, auch wenn sie unter der zulässigen Höchstmenge liegen. Die Landwirtschaft kann offensichtlich nicht mehr ohne die Insekten-, Pilz- und Unkraut-Killer, sie hängt am Chemie-Tropf von Bayer, BASF  & Co. wie der Süchtige an der Nadel.

Ein anderes eingängiges Bild für die fatale Pestizidabhängigkeit der Landwirtinnen bemüht die Verbraucherorganisation foodwatch in ihrem Mitte 2022 erschienenen Report über Pflanzenschutzmittel: [2] Das europäische Agrarsystem befinde sich im Zustand des Lock-in, vergleichbar dem »Locked-in-Syndrom«, jener neurologischen Störung, die bei Menschen mit vollem Bewusstsein dazu führt, dass sie ihren Körper nicht mehr bewegen oder steuern können. Die Analogie zur »modernen« Landwirtschaft besteht darin, dass die negativen Folgen der Pestizide zwar weltweit immer offenkundiger werden und längst im Bewusstsein der Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit angekommen sind, und dennoch viele Landwirte und weite Teile der Landwirtschaftspolitik unfähig zur kleinsten Veränderung scheinen.

Pestizide sind heute die Schlüsseltechnologie, ohne die das fragile Produktionssystem nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es herrscht nahezu flächendeckend Pestizidabhängigkeit.

Ob Äpfel, Tomaten, Erdbeeren, Weizen oder Reis – der größte Teil landwirtschaftlicher Erzeugnisse hängt heute an der Existenz einiger Dutzend Konzerne, die vom Saatgut bis zum Kunstdünger, vom Pestizid über Landmaschinen bis zum Groß- und Einzelhandel die Produktion steuern. Diese Akteure bestimmen weitgehend den Preis, die Sorten und die Qualität der Waren. Im Wettbewerb können sie nur dann überleben, wenn sie die Kosten pro produzierter Einheit senken oder mehr Einheiten zu den gleichen Kosten produzieren. Im Mittelpunkt dieser Strategie, der die meisten konventionell wirtschaftenden Bauern folgen, stehen Pestizide: Ohne sie geht nichts mehr. Und durch sie findet ein »Race to the bottom« statt, ein »Wettlauf nach unten« mit verheerenden Auswirkungen wie zu hohen Kosten, die extern, von anderen beglichen werden: Verlust der Artenvielfalt, Krankheiten, Überproduktion und hohe Subventionen, vergiftete Gewässer, Landflucht und ein Angebot an Obst und Gemüse im Supermarkt, das ohne Pestizidrückstände praktisch nicht mehr denkbar ist.

Zwar überschritten nur gut drei Prozent (2020) der bundesweit getesteten Obst- und Gemüsesorten die zulässigen Rückstandshöchstgehalte, alle anderen gelten laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit als »gesundheitlich unbedenklich«. Bedenklich wird es allerdings, wenn durch den Einsatz von Kombinationspräparaten mit mehreren Wirkstoffen oder durch die Verwendung mehrerer Pestizide sogenannte Mehrfachrückstände entstehen. Dann kann jeder einzelne Wirkstoff die Grenzwerte unterlaufen und damit als »unbedenklich« gelten, auch wenn im untersuchten Obst oder Gemüse ein Dutzend oder noch mehr Pestizide entdeckt wurden.

Dazu schreibt das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit: »Ob und welche Gesundheitsrisiken tatsächlich mit Mehrfachrückständen verbunden sein können, ist wissenschaftlich bis heute nicht eindeutig geklärt. Die ungenügenden Kenntnisse darüber, wie sich die Mischungen verschiedener chemischer Stoffe verhalten, ob es möglicherweise zu additiven Wirkungen (bei Stoffen mit gleichem toxikologischen Wirkmechanismus) kommt und wie sich diese Wirkstoffkombinationen im menschlichen Organismus verhalten, ist weiterhin Gegenstand der Forschung.« [3] Und die niedersächsische Verbraucherzentrale warnt: »Über die Gefahr, die von mit Pflanzenschutzmitteln belasteten Lebensmitteln ausgeht, streiten sich die Fachleute. Bei vier Prozent der europaweit zugelassenen Pestizide geht man davon aus, dass sie krebserregend sind. Sie stehen weiterhin im Verdacht, Nerven zu schädigen oder das Hormonsystem und die Fortpflanzungsfähigkeit zu beeinflussen.«

Gibt es einen Ausweg aus der Pestizid-Falle? Ein oft genannter Ratschlag lautet, auf Lebensmittel aus Deutschland und den EU -Mitgliedstaaten zurückzugreifen, weil die seltener die Rückstandshöchstgehalte überschreiten (2020: zwei Prozent der Proben in Deutschland, 1,3 Prozent im Rest der EU ) als Lebensmittel aus Nicht-EU -Staaten wie zum Beispiel China (fast acht Prozent). Allerdings stecken in diesen Zahlen so viele verschiedene Produkte von der Säuglingsnahrung bis zum Getreide und von Ziegenmilchprodukten bis zum Distelöl, dass sie bei der Suche nach unbelasteten Tomaten in der Obstecke des eigenen Supermarkts nicht wirklich weiterhelfen. Die Intensität des Pestizideinsatzes kann auch innerhalb eines Landes oder einer Region von Jahr zu Jahr variieren, je nach Wetter, Saison, Schädlingsbefall, Anbaumethode und anderen Einflüssen.

Was grundsätzlich hilft, ist der Griff zu Bio-Produkten. Die definieren sich zwar nicht durch Rückstandsfreiheit, wie viele Verbraucherinnen glauben, sondern durch den Prozess ihrer Erzeugung. So müssen zum Beispiel Bio-Tomaten in Erde angebaut werden und dürfen nicht wie konventionelle Pflanzen im Glashaus auf Steinwollmatten mit Nährlösung wachsen. Auch ist laut EU -Öko-Verordnung nur der Einsatz von wenigen, ganz bestimmten Pflanzenschutzmitteln erlaubt, während chemisch-synthetische Substanzen tabu sind. Das »Ökomonitoring 2020« des baden-württembergischen Ministeriums für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz konstatiert denn auch: »Öko-Frischobst und -Gemüse sind weiterhin signifikant geringer mit Rückständen belastet als konventionell erzeugte Ware.« [4] Bei konventionellem Gemüse wurden im Schnitt 70 Prozent höhere Pestizidmengen nachgewiesen, bei konventionellem Obst sogar die doppelte Menge.

Und was speziell Bio-Tomaten angeht: Laut Pestizidreport in NRW wies 2017 und 2018 keine einzige der beprobten Bio-Gewächse Pestizidrückstände aus; 2019 waren es sieben Prozent, 2020 wieder keine einzige Probe und 2021 ungewöhnliche 20 Prozent – bei allerdings nur vier Proben.

Eine ganz andere Frage ist, wie »bio« Tomaten noch sind, die unter menschenunwürdigen Bedingungen angebaut und geerntet werden, die zum Wassermangel in südeuropäischen Regionen beitragen, die unter Plastikplanen gedeihen, die später die Meere vermüllen und die schließlich in schweren Diesel-Lkw in deutsche Supermärkte gekarrt werden.

Dem »bio«-Anspruch am nächsten kommt die Tomate einer alten Sorte aus dem eigenen Garten oder kleinen Gewächshaus des Selbstversorgers. Ein Luxus für Leute, die sich’s leisten können. Zu diesem Luxus gehört freilich, dass es ihn während vieler Monate im Jahr gar nicht gibt. Weil Tomaten hierzulande nun mal nur im Sommer wachsen.

Angebot/Qualitäten

Botanisch gesehen sind Tomaten (und Kürbisse) Früchte, also Obst. Die Pflanzen sind aber einjährig und werden deshalb dem Gemüse zugeordnet. Tomaten werden auch als Fruchtgemüse bezeichnet. Es gibt sie nach der EU -Vermarktungsnorm in drei Klassen (Extra, I und II ), die nach Festigkeit, »Form-, Entwicklungs-, Farb- und Hautfehlern« sowie nach Druckstellen unterscheiden. Je fester, makelloser und einheitlicher die Ware, umso höher die Klasse. Des Weiteren werden vier Handelstypen unterschieden: runde, gerippte, längliche und Kirschtomaten (einschließlich Cocktailtomaten). Die im Supermarkt angebotenen Sorten sind auf Lager- und Transportfähigkeit gezüchtet und zeichnen sich durch einen faden Einheitsgeschmack aus. Alte, geschmacksintensive, aromatische Sorten gibt es im Supermarkt nicht.

Transparenz

Bei frischen Tomaten muss zwar das Herkunftsland angegeben werden, aber die Angaben bei verarbeiteten Produkten (Tomatensaft und -mark, Ketchup etc.) täuschen. Lautet das Etikett »hergestellt in Italien«, können die Tomaten auch aus China stammen. Nur der Aufdruck »Tomaten aus Italien« garantiert, dass diese in Italien angebaut wurden. Beim Einkauf erfährt man nur die Handelsklasse, nicht die Sorte. Intransparent sind die oft problematischen Arbeitsbedingungen in Südeuropa oder Drittstaaten sowie negative ökologische Auswirkungen durch hohen Wasserverbrauch in wasserarmen Gebieten.

Ökologischer Fußabdruck

Generell ist frisches, saisonal und regional angebautes Obst und Gemüse klimafreundlicher als außerhalb der Saison importierte Lebensmittel aus dem ferneren Ausland. Freiland-Tomaten aus Südeuropa haben aufgrund der Transportkosten einen geringfügig höheren CO 2 -Fußabdruck als Tomaten aus dem Freilandanbau in Deutschland bzw. Nordeuropa. Deutlich höher ist der Ausstoß an Klimagasen von Tomaten aus hiesigen, beheizten Gewächshäusern im Winter. Der intensive Pestizideinsatz im Tomatenanbau ist ökologisch schädlich, ebenso der Wasserverbrauch in wasserarmen Gebieten.

Gesundheit

Tomaten bestehen zu 94 Prozent aus Wasser, sind kalorienarm und enthalten unter anderem Vitamin C, Kalium, Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe, die dazu beitragen, das Risiko bestimmter Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu mindern. Tomaten aus konventioneller Anbauweise enthalten regelmäßig Pestizidrückstände.

Bio-Alternative

Im Bio-Anbau werden die gleichen geschmacksarmen Tomaten verwendet wie in der konventionellen Landwirtschaft. Auch der Wasserverbrauch in ökologisch sensiblen Regionen ist gleich. Bio-Tomaten aus im Winter beheizten Gewächshäusern haben, solange diese nicht ausschließlich mit regenerativer Energie beheizt werden, einen ähnlich hohen CO 2 -Ausstoß wie konventionelle Tomaten. Im Freilandanbau unterscheidet sich der CO 2 -Abdruck ebenfalls nicht wesentlich. Vorteil der Bio-Tomaten: Sie sind meist frei von Pestizidrückständen.

Wahlfreiheit

Das Sortenangebot der Supermärkte ist schmal und geschmacksarm, ertragsstarke und transporttaugliche Sorten herrschen vor. Pestizidfreie Ware liefert mit einiger Sicherheit nur der Griff ins Bio-Regal. Bei konventionellen Tomaten isst man die Pflanzenschutzmittel meist ungefragt mit. Negative ökologische Auswirkungen und unsoziale Arbeitsbedingungen können weder bei Bio- noch konventioneller Ware ausgeschlossen werden.