5. Erdbeeren

Zu den schönen Erinnerungen im Leben gehören auch Geschmacks- und Geruchserlebnisse. Mir geht das Aroma von Walderdbeeren nicht aus dem Gedächtnis, auch deshalb nicht, weil wir Kinder am Sonntagvormittag in den Wald geschickt wurden, aus dem wir mit Milchkannen voller Erdbeeren zurückkamen – für die Nachspeise zum Sonntagsmahl. Unvergesslich. Nun wäre es der Nostalgie zu viel, wenn ich erwarten würde, dass Supermärkte kiloweise Walderdbeeren anbieten sollen. Aber auch das Aroma der »normalen« Erdbeeren im Lebensmittelladen war damals ein anderes, unvergleichlich besseres. Das, was man uns heute im Supermarkt als Erdbeeren auftischt, ist nur noch ein Abklatsch von Geschmack. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass uns bei Erdbeeren im Supermarkt die Sorte vorenthalten wird. Warum ist diese Information bei Äpfeln, Trauben oder Orangen verpflichtend, bleibt bei Erdbeeren aber meist das Geheimnis des Supermarkts? [1]

In »entwickelten Gesellschaften mit gesättigten Märkten« sei Geschmack der »wichtigste Qualitätsparameter« eines Lebensmittels. So schreibt Detlef Ulrich, vielleicht der kundigste Experte für Erdbeergeschmack in Deutschland, der lange Jahre am Julius Kühn-Institut forschte, einer Bundeseinrichtung für Kulturpflanzen. In seinen Präsentationen und Texten beklagte der Chemiker jedoch regelmäßig, dass es mit dem Geschmack als Qualitätsparameter der Erdbeere nicht mehr weit her sei. Den Unterschied zwischen alten Kultursorten (»hoch aromatisch, fruchtig, süßlich, waldbeerartig«) und modernen Hochleistungssorten für den kommerziellen Anbau (»wenig aromatisch, süßlich«) beschreibt Ulrich als »genetische Erosion« infolge einer Züchtung, die jahrzehntelang auf Fruchtgröße, Schädlingsresistenz, Pflückbarkeit und andere Merkmale zielte. Der Erdbeer-Experte illustrierte das gerne mit dem Cartoon einer Wippe im Ungleichgewicht: Auf der in die Höhe ragenden Seite – der Seite von »Geschmack« und »Gesundheit« – schaut eine kleine Frau wütend zu dem dicken Mann und seinem Geldsack auf der anderen Seite der Wippe hinunter, der sie mit seinem Gewicht lächelnd aushungert; auf seiner Seite steht »Ertrag, Haltbarkeit, Aussehen, Gewinn«. Genauso liegen die Erdbeeren vor uns in ihren Plastikschalen: prall und rot, aber aromatisch ziemlich enttäuschend. [2]

Das Phänomen der Geschmacksarmut infolge züchterischer »Verbesserungen« kennen wir auch von anderen Obst- und Gemüsesorten im Supermarkt, was die Erfahrung bei den Erdbeeren nicht erträglicher macht. Und was zum Gedanken Anlass gibt, dass wir Supermarktkundinnen im Grunde keinerlei Einfluss auf die Qualität der Waren nehmen können. Natürlich haben wir insofern »Macht«, als wir von Lidl zu Edeka und von dort zu Aldi und zu Rewe wechseln können. Aber derlei Supermarkt-Hopping sendet allenfalls das Signal an die Händler, ihren Preiskampf weiter zu forcieren. Dann finden wir bei der Konkurrenz vielleicht billigere Beeren, aber nicht bessere. Obst und Gemüse sind qualitativ überall mehr oder weniger gleich schlecht oder gut, wobei die Qualitäten in erster Linie an den Erfordernissen der Supermärkte ausgerichtet sind (hohe Transporttauglichkeit, lange Haltbarkeit) und kaum an den geschmacklichen und sonstigen Erwartungen der Kundinnen. Supermarktobst und -gemüse muss vor allem schön farbig, fest und ohne Makel sein. Doch einen Qualitätswettbewerb zwischen den Supermärkten um die schmackhaftesten Erdbeeren, Zucchini, Bananen oder Karotten gibt es leider nicht, ich zumindest bin noch nicht darauf gestoßen.