Erdbeeren und Menschenrechte

Auch der Discounter Lidl hat sich eine »Wasserpolitik für den Einkauf von Handelsware« gegeben und verpflichtet sich durch verschiedene Maßnahmen und in Partnerschaft mit Organisationen wie der Alliance for Water Stewardship (AWS ), den Wasserverbrauch und die Wasserverschmutzung durch Pestizide und Düngemittel in seinen Lieferketten zu reduzieren. [1] Und nicht nur das: In einem Bericht (»Human Rights Impact Assessment«) speziell über die Beeren aus der besagten spanischen Provinz Huelva, für die Lidl einer der wichtigsten Abnehmer ist, gibt der Konzern auf fast 30 Seiten ohne Beschönigung Auskunft über die schlimmen Zustände für viele der rund 100000 Saisonkräfte, die fast zur Hälfte aus Osteuropa und Nordafrika kommen. [2] Am Ursprung von Lidls Lieferkette wird laut dem Bericht der gesetzliche Mindestlohn für Saisonarbeiterinnen in Spanien (2020: 44,99 Euro brutto pro Arbeitstag) nicht gezahlt, Tarifverträge werden »überwiegend nicht eingehalten«; das Arbeitsklima sei »gekennzeichnet vom Druck, schnell und viel zu ernten, und der ständigen Angst, entlassen zu werden«; keinem der befragten Beerenpflücker wurden die vertraglich vereinbarten Überstundensätze gezahlt; sie berichten von manipulierten Lohnabrechnungen, elf aufeinanderfolgenden Arbeitstagen und willkürlichen Pausenregelungen, von sexueller Belästigung, Diskriminierung, fehlendem Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen; fast alle befragten Pflückerinnen müssten unzulässigerweise für ihre Unterkunft zahlen, es sei denn, sie leben in einer der slumähnlichen »informellen Siedlungen«; es existierten auch keine wirksamen Beschwerdemechanismen. »Von den Erzeuger:innen wird erwartet, dass sie hohe Qualitäts- und Verpackungsstandards zu einem möglichst niedrigen Preis erfüllen«, heißt es über die Landwirte. Der Anreiz für sie, die Kosten zu senken, sei daher hoch. »Einsparungen finden vor allem auf Ebene der Arbeiter:innen statt.« Auch sonst vermerkt der Lidl-Bericht ganz klar: »Schließlich ist zu beobachten, dass die Akteure, etwa Erzeuger, Verbände, Gewerkschaften, Politiker, in Huelva in hohem Maße miteinander vernetzt und voneinander abhängig zu sein scheinen. Dies könnte Hürden bei der Offenlegung und Behandlung sensibler Themen mit sich bringen. Besonders auffällig ist der unzureichende Schutz der Arbeitsrechte von Seiten der verantwortlichen spanischen Behörden.«

Auch dank solcher Berichte, die nichts beschönigen, hat es Lidl im internationalen Supermarkt-Check der NGO Oxfam zum Thema Menschenrechte 2022 auf den ersten Platz der deutschen »Big Four« geschafft: Mit 59 Prozent führt Lidl in der Gesamtwertung vor Aldi Süd (56 Prozent), Aldi Nord (49 Prozent), Rewe (48 Prozent) und Edeka (elf Prozent). [3] Kriterien sind neben der Transparenz die Beachtung von Arbeiterrechten, der Umgang mit Kleinbauern sowie Frauenrechte. »Die Supermärkte machen teilweise deutliche Fortschritte. Während sich Aldi, Lidl und Rewe in Sachen Menschenrechte bewegen, bleibt Edeka stur und damit Schlusslicht«, schreibt Oxfam.

Man kann solche Rankings auf verschiedene Weise lesen. Die eine Lesart sagt: Es geht voran, es tut sich was, der Nachhaltigkeitswettbewerb der Supermarktketten wird selbst Verweigerer wie Edeka über kurz oder lang dazu antreiben, »jeden Tag ein bisschen grüner« zu werden, wie auf den T-Shirts mancher Mitarbeiterinnen des Discounters Penny steht.

Die zweite Lesart des Rankings zerstört die naive Auffassung, der Supermarktkunde könne durch seine Nachfrage das Angebot beeinflussen, in diesem Fall das Angebot an Lebensmitteln, die menschen- und arbeitsrechtlichen Ansprüchen genügen. Dass Edeka in der Oxfam-Gesamtwertung nur auf elf Prozent kommt, Lidl aber auf 59 Prozent, kann nämlich schlechterdings nichts mit dem Kaufverhalten der Kundschaft zu tun haben, es sei denn, man glaubt, Lidl-Kundinnen seien fünfmal mehr an Menschenrechten in der Lieferkette interessiert als Edeka-Kunden und viermal mehr als Rewe-Kundinnen. Die Unterschiede in der Wertung haben rein gar nichts mit dem Einkaufsverhalten der Verbraucher zu tun – aber alles mit der Offenheit oder Ignoranz von Supermarktmanagerinnen für dieses Thema.

Die dritte Lesart ist die bitterste und wichtigste: Trotz aller Fortschritte hat sich am grundsätzlichen Geschäftsmodell der Supermärkte nichts geändert. Oxfam formuliert zutreffend: »Sie nutzen ihre Marktmacht, um die Einkaufspreise bei ihren Lieferanten zu drücken. Daraus entsteht ein immer höherer Kostendruck bei den Produzenten, die wiederum an den Löhnen der Arbeiter*innen auf den Plantagen und Feldern sparen. Eine andere Preispolitik ist notwendig, damit in den Lieferketten ein größerer Teil der Wertschöpfung bei Arbeiter*innen und Kleinbäuer*innen ankommt (…) Das System Supermarkt steht weiterhin für Ausbeutung. Die Supermärkte machen weiterhin Profite auf Kosten von Menschenrechten.«

Weder private Supermarktkunden können den Markt in die gewünschte Richtung lenken noch einzelne Supermarkt-Konzerne, so umsatzstark und mächtig sie auch sein mögen. Denn würde Lidl dafür sorgen, dass Saisonarbeiterinnen in Huelva wirklich besser behandelt und besser bezahlt werden, würde das die Erdbeeren deutlich verteuern und Lidls Position im Kampf mit Aldi, Rewe und Edeka auf Dauer verschlechtern. Dasselbe gilt für viele andere erstrebenswerte gesellschaftliche Ziele wie die radikale Reduktion beim Einsatz von Pestiziden, die Schonung von Böden, Tieren oder Wasserreserven. Ein Unternehmen, das all das freiwillig und allein auf weiter Flur gegen die unmittelbare Konkurrenz leisten würde, nähme sich auf Dauer selbst aus dem Markt. Unternehmen handeln deshalb rational, wenn sie nur so tun, als ob sie dem großen Ganzen dienten.

Genau aus diesem Grund gibt es so viele Label, Initiativen und Programme für faire, umweltschonende, klimafreundliche Produkte, so viele Nachhaltigkeits- und Sozialberichte. Manchmal sind sie Greenwashing pur, oft erzählen sie von guten, wertvollen Maßnahmen, die für sich genommen nicht zu kritisieren sind. Systemverändernd ist aber keine von ihnen. Weil eben kein Unternehmen auf eigene Faust das System verändern wollen kann. Stattdessen entsteht der Eindruck, Verbraucherinnen und Verbraucher müssten nur richtig – moralisch – einkaufen. Dass marokkanische oder rumänische Pflückerinnen in Huelva so schlecht bezahlt und behandelt werden, dass Wasserreserven geplündert und Böden vergiftet werden, liegt aber nicht an der Unmoral der Verbraucher und auch nicht an der Unmoral der Supermarktmanagerinnen. Wie bereits erwähnt, liegt es daran, dass der Schutz kollektiver Güter wie eine intakte Natur oder Menschenrechte nicht die Angelegenheit privater Akteure sein darf, sondern eine kollektive Aufgabe ist, die allein der Staat, die Politik durch verbindliche Regeln für alle gewährleisten kann.

Das beste Beispiel dafür sind Bio-Lebensmittel. Trotz intensiver Werbung für sie seit mehr als zwanzig Jahren, trotz mehrerer Bio-Siegel und permanenter medialer Berichterstattung, machen Bio-Produkte heute nur knapp sieben Prozent am Umsatz des Lebensmittelmarkts aus. Bio-Lebensmittel sind immer noch eine Nische für »asketische Ökologen« und »ethische Ästhetinnen«, wie Marktforscher das nennen. Und sie werden Nischenprodukte bleiben, solange das System nicht durch politisches Handeln anders eingestellt wird. Solange gilt: Die Welt retten, aber eben nur ein bisschen.

Qualitäten

Bei der Erdbeere handelt es sich weder um eine Beere noch um Obst. Sie zählt zu den Sammelnussfrüchten: Der rote Fruchtboden ist von winzigen Samen umgeben, die die eigentliche Frucht sind. Am besten schmecken nicht unbedingt die größten und schönsten Früchte, sondern die aus heimischem Freilandanbau während der Hauptsaison von Mai bis Juli. Der Grund: Erdbeeren aus der Region können reif geerntet und schnell vermarktet werden, während bei Beeren mit langer Anfahrt die Gefahr besteht, dass sie zu früh gepflückt wurden. Auch wenn man schon mal als Selbstpflückerin Erdbeeren auf freiem Feld geerntet hat, sollte man nicht glauben, so würden das auch alle Obstbauern machen: Ein wachsender Anteil deutscher Erdbeeren kommt nicht aus dem Freilandanbau, sondern aus dem Gewächshaus oder dem Folientunnel, 2020 lag er schon bei rund 20 Prozent. Dort sind die Pflanzen vor schlechter Witterung geschützt und reifen früher. Auch sind die im Inland angebauten Beeren keine alten aromatischen, sondern neue lager- und transportfähige Hochleistungssorten mit wässrigem Geschmack und fadem Aroma. Die 2022 wohl geringste Erntemenge aus deutschem Freilandanbau seit 25 Jahren hat nach Ansicht der Anbauverbände ihre Ursache im Handel, der vor allem billige Importware bewerbe.

Transparenz

Weder muss im Supermarkt die Erdbeersorte angegeben werden noch das Anbaugebiet. Es genügen das Ursprungsland oder der Verpacker. So bleibt unbekannt, ob die Beeren aus wasserarmen Regionen kommen. In den Erdbeeranbaugebieten in Südeuropa herrschen oft unsoziale und menschenrechtsverletzende Arbeitsbedingungen für die oft aus Nordafrika stammenden Pflückerinnen. Informationen, ob es sich um Erdbeeren aus dem Freiland oder aus dem Gewächshaus handelt, werden selten vermittelt. Ebenso fehlen Angaben dazu, dass konventionelle Erdbeeren häufig Pestizidrückstände enthalten können.

Ökologischer Fußabdruck

Der Anbau von Erdbeeren ist wasserintensiv. Für die Herstellung eines Kilos benötigt man etwa 300 Liter Wasser – zwei volle Badewannen. Spanische Erdbeeren kommen häufig aus der Doñana, einem Naturschutz- und Feuchtgebiet in Andalusien, in dem die Erdbeeren teilweise illegal angebaut werden. Für die Bewässerung wird Grundwasser mit Hilfe illegaler Brunnen angezapft, von dem auch die Doñana abhängig ist; der Grundwasserspiegel sinkt bedrohlich weiter. Der CO 2 -Abdruck von Erdbeeren hält sich bei frischen Erdbeeren aus Deutschland und Südeuropa in etwa die Waage. Die Transportkosten schlagen nicht signifikant zu Buche. Im Winter haben frische Erdbeeren aus dem Gewächshaus einen rund zehnfach höheren CO 2 -Abdruck.

Bio-Alternative

Bio-Erdbeeren sind meistens ebenso geschmacksfade wie konventionelle. Im Hinblick auf Pestizidrückstände schneiden sie jedoch klar besser ab: Bei den jüngsten Proben (2020) wurden in 90 Prozent der konventionell erzeugten Beeren Rückstände gefunden, bei den Bio-Beeren nur in gut fünf Prozent. Der Wasserfußabdruck jedoch ist ähnlich hoch. Auch Bio-Erdbeeren können aus von Wasserarmut bedrohten Regionen kommen – mit entsprechenden negativen ökologischen Auswirkungen. Unsoziale Arbeitsbedingungen sind auch bei Bio-Erdbeeren nicht ausgeschlossen. Die Klimabilanz von Bio-Erdbeeren, die aus dem Gewächshaus kommen, ist ähnlich schlecht wie die konventioneller Erdbeeren.

Wahlfreiheit

Eine Wahlfreiheit zwischen verschieden schmeckenden Sorten gibt es praktisch nicht. Das Angebot besteht aus fader Einheitsware. Rein zeitlich hat sich die Wahlfreiheit der Verbraucher erhöht. Dauerte die Erdbeerzeit früher etwa von Mai bis Juli, gibt es heute fast das ganze Jahr über Importware oder Erdbeeren aus beheizten Gewächshäusern. Darunter leiden die Qualität und die Ökobilanz.