6. Äpfel

In der Obstabteilung eines Aldi-Markts in Süddeutschland liegen: Elstar, Pink Lady, Braeburn, Gala, Pinova, Greenstar, Jonagold – insgesamt sieben Sorten, zwei davon in Bio-Qualität. Nur zehn Gehminuten entfernt, in einer Lidl-Filiale, sind zu finden: Elstar, Pink Lady, Braeburn, Gala, Ambrosia, Granny Smith – sechs Sorten, ein Bio-Angebot. Annähernd das identische Sortiment. Die Durchschnittspreise bei Aldi und Lidl weichen nur im Cent-Bereich voneinander ab.

Im Massengeschäft der Supermärkte geht es um genau solche Cent-Beträge, mit der Folge, dass in den Apfelschütten austauschbare Ware liegt, und die Langeweile herrscht. Nicht nur, dass sich die Äpfel einer Packung in Größe, Farbe und Form gleichen, als wären sie geklont. Die sechs wichtigsten Apfelsorten in deutschen Supermärkten machen zusammen zwei Drittel des Gesamtmarkts aus – das ist das Spiegelbild des hochkonzentrierten Lebensmitteleinzelhandels, den die »Big Four« (Edeka/Netto, Rewe/Penny, Lidl/Kaufland und Aldi Nord/Süd) zu rund drei Vierteln unter sich ausmachen. Mit anderen Worten: Wir kaufen alle mehr oder weniger bei denselben Händlern die gleichen Äpfel. Ich würde wetten, dass die Auswahl in »Ihrem« Penny oder Kaufland nur in Nuancen abweicht.

Die normierende Kraft der Supermärkte – getrieben auch durch Vermarktungsnormen der EU  – ist alarmierend. [1] Die »Big Four« verkaufen Milliarden von Äpfeln, Birnen, Orangen, Zitronen, Beeren usw. und konkurrieren im Cent-Bereich um die Verbraucherinnen. Da ist es praktikabler, mit zwanzig großen Lieferanten zu operieren als mit zweitausend kleinen. Einheitsobst, das sich in Gewicht, Form und Farbe gleicht, kann einfacher maschinell gewogen, sortiert, verpackt und mit Klebern versehen werden. So formt die normierende Kraft der Supermärkte auch die Landwirtschaft: Bei den Apfelbäuerinnen sieht man es an den Plantagen aus niederstämmigen Bäumchen, durch deren wie mit dem Lineal gezogene Reihen die Traktoren fahren – in konventionellen Betrieben genauso wie bei Bio-Bauern. Und schließlich »erzieht« die normierende Kraft der Supermärkte auch die Kundin, die am Ende meint, es gäbe gar kein anderes Apfelobst mehr als Elstar, Braeburn und Jonagold. Apfelfächer in deutschen Supermarkt-Obstabteilungen sind wie der Besuch bei McDonald’s: Egal, welche Filiale man betritt, man weiß, was einen erwartet.

Tatsächlich gibt es weltweit Tausende, vielleicht sogar Zehntausende Apfelsorten. Aber die »Vielfalt schwindet«, wie die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung warnt: In den letzten hundert Jahren seien laut Schätzungen 75 Prozent der Kulturpflanzen unwiederbringlich verlorengegangen, nur noch dreißig Pflanzenarten deckten 95 Prozent des Kalorienbedarfs der Weltbevölkerung. Durch die Industrialisierung der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelherstellung, so die Behörde (die zum Landwirtschaftsministerium gehört), wurden Anbau und Verarbeitung spezialisiert und rationalisiert, »arten- und sortenreiche Streuobstwiesen mussten zunehmend Monokulturen weichen«. Man setzte auf neue ertragreichere, transportfeste Hochleistungssorten und vergaß viele alte Kulturpflanzen, die wertvolle Nährstoffe enthalten und widerstandsfähig sind gegenüber Krankheiten, Schädlingen und Trockenheit. So seien in den letzten Jahrzehnten viele Sorten aus den Regalen verschwunden, bedauert die Bundesanstalt und schwärmt geradezu von alten Tomaten- und Rübengewächsen, von der »Pastorenbirne« und von alten Apfelsorten wie »Goldparmäne«, »Berlepsch« oder »Brettacher«. Vor den Obstschütten in »meinem« Aldi denke ich: armes Apfeldeutschland.

Nein, ich will angesichts der Öde und Uniformität in den Supermärkten hier nicht die Wochenmärkte nostalgisch beschwören. Das wäre schon deshalb nicht fair, weil der Wochenmarkt für die meisten Menschen keine ernst zu nehmende Alternative zum Supermarkt darstellt; außerdem ist auch der Wochenmarkt den Marktgesetzen unterworfen. Es geht um etwas Wichtigeres, darum, dass Sortenvielfalt eine Art genetische Reserve für die Ernährungssicherung in der Zukunft ist: Die Qualitäten alter Sorten – ihre Robustheit und Leistungsfähigkeit – werden gebraucht, um sie bei Bedarf in moderne Sorten einzukreuzen. »Alte Sorten können Retter in der Not sein«, betonen die Experten der Landwirtschaftsbehörde. »Und um Vielfalt zu erhalten, müssen wir sie nutzen.« [2]

Das ist schön gesagt, doch ein frommer Wunsch. Denn dieses Statement ignoriert, dass der Lebensmittelmarkt, so wie er heute organisiert ist, genau in die entgegengesetzte Richtung marschiert: in die Richtung stark konzentrierter Märkte (nicht nur bei Lebensmitteln) mit wenigen großen Unternehmen, die Massenware herstellen, verarbeiten, verkaufen. Größe und Vielfalt sind in diesem System alles andere als natürliche Verbündete.