15. Vegan + Vegetarisch

Eines der zentralen Anliegen dieses Buchs ist es, jene inzwischen sehr beliebte Behauptung zu widerlegen, dass Verbraucher durch ihr Einkaufsverhalten einen Einfluss auf das Lebensmittelangebot im Supermarkt hätten und sie deshalb durch »ethischen Konsum« die Welt mit jedem »richtigen« Einkauf ein bisschen besser machen könnten. Wer von dieser Vorstellung nicht lassen kann, dem sei der 2019 veröffentlichte Report der EAT -Lancet-Kommission (einer Kooperation zwischen der norwegischen Nichtregierungsorganisation EAT und The Lancet , einer der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften) empfohlen. An dem Report mit dem Titel »Food Planet Health« [1] waren 37 Wissenschaftler aus 16 Ländern und verschiedenen Disziplinen beteiligt, darunter Ernährungswissenschaftlerinnen und Klimaforscher. Gemeinsam entwickelten sie die »Planetary Health Diet« – eine Ernährungsweise, die die Gesundheit der Menschen erheblich verbessert und gleichzeitig die Erzeugung von Lebensmitteln so verändert, dass sie nicht weiterhin planetare Grenzen ignoriert – durch die Emission von Treibhausgasen, durch Wasserverbrauch und den Einsatz von Phosphor- und Stickstoffdünger, [2] durch Landnutzung, Lebensmittelverschwendung und die Verminderung der Artenvielfalt.

Die EAT -Lancet-Kommission schlägt nicht weniger vor als eine radikale Transformation des globalen Ernährungssystems, und was das für die Teller auf den Tischen dieser Welt bedeutet, ist Wasser auf die Mühlen von Veganerinnen und Vegetariern: Denn der empfohlene Speiseplan zur Gesundung von Mensch und Planet wird zur Hälfte von Obst und Gemüse bestimmt, während die andere Hälfte überwiegend aus Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Nüssen und pflanzlichen Ölen besteht; Fleisch, Fisch und Milchprodukte hingegen sind nur zu etwa zehn Prozent vertreten. Konkret errechneten die Wissenschaftlerinnen als global empfohlenen Durchschnittskonsum höchstens eine Portion rotes Fleisch pro Woche, nicht mehr als eine Portion weißes Fleisch (Geflügel) pro Woche und maximal 250 Milliliter Vollmilch oder eine Scheibe Käse pro Tag. Das ergibt zwar noch keinen vegetarischen und schon gar keinen veganen Einkaufszettel, entspricht aber immerhin dem Speiseplan eines verantwortungsvollen Flexitariers, eines Menschen also, der prinzipiell zwar alles isst, aber Fleisch nur sehr selten.

Für die Gesundheit der Menschen wäre der Effekt enorm: Nach Berechnungen der EAT -Lancet-Kommission würde die viel stärker pflanzlich ausgerichtete Ernährungsweise pro Jahr rund elf Millionen Todesfälle vermeiden, immerhin ein Fünftel bis ein Viertel aller Todesfälle bei Erwachsenen. Und für den Planeten würde der Wandel die Chancen verbessern, eine wachsende Zahl von Menschen gesund zu ernähren ohne sämtliche Nachhaltigkeitsziele zu verraten.

Die Veränderungen wären in jeder Hinsicht fundamental, insbesondere in den reichen Ländern des globalen Nordens: Während sich weltweit betrachtet der Konsum gesunder Lebensmittel wie Obst, Gemüse oder von Hülsenfrüchten verdoppeln müsste und der Verzehr von Rind- und Schweinefleisch sowie Zucker mehr als halbieren, würde sich der Speiseplan etwa für Nordamerikaner geradezu auf den Kopf stellen. Sie müssten rund sechsmal weniger Rind- und Schweinefleisch essen und etwa zweieinhalbmal weniger Eier und Geflügelfleisch. Diese radikale Transformation des weltweiten Ernährungssystems sei dringend notwendig, um für absehbar zehn Milliarden Menschen gesunde Lebensmittel bereitzustellen, ohne dadurch irreversible Schäden an der Biosphäre anzurichten, schreiben die Autorinnen. Sie sind überzeugt: »Lebensmittel sind der stärkste Hebel, um die menschliche Gesundheit und die ökologische Nachhaltigkeit optimal zu fördern.«

Angesichts solcher Dimensionen, die die herrschende Praxis der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion vom Pestizid- und Düngereinsatz bis zur eingepreisten Lebensmittelverschwendung grundlegend in Frage stellt, erscheint die Erzählung vom Verbraucher, der mit seinem verantwortungsbewussten Einkauf im Discounter die Märkte in die richtige Richtung steuern könnte, geradezu naiv. Ja, an den Kassen von Aldi & Co. findet täglich eine Volksabstimmung mit den Füßen statt, wie Supermarkt-Managerinnen gerne betonen. Aber bei dieser Volksabstimmung werden vergleichsweise irrelevante Fragen entschieden: »Pepsi oder Coca-Cola?«, »Milka oder Ritter Sport?«, »Joghurt von Ehrmann oder von Müller?«, »bio oder konventionell?« Egal, wie die Antwort ausfällt – am System ändert sich deshalb nichts.

Wie die Arbeit der EAT -Lancet-Wissenschaftler nahelegt, ist es vielmehr eine genuin politische Aufgabe, für die notwendige Transformation beherzt in den Werkzeugkasten politischer Instrumente zu greifen: Steuern auf unerwünschte weil ungesunde Produkte, Anreize für erwünschte Produktionsweisen, Verbote von schädlichen Pestiziden, und die längst überfällige Anwendung des Verursacherprinzips, das den Preismechanismus des Marktes nutzt, um gemeinwohlschädliche Lebensmittel so zu verteuern, dass sie keine große Rolle mehr spielen können. Die bittere Erkenntnis für Veganerinnen, Vegetarier und Flexitarierinnen lautet: Selbst wenn ihre Zahl wächst, ist die Macht ihrer Nachfrage nach pflanzlicher Kost und ihrer Nicht-Nachfrage nach tierischen Lebensmitteln lächerlich gering im Vergleich zu den Interessen, die hinter den weltweiten Strukturen der Lebensmittelerzeugung und -verteilung stehen und diese um jeden Preis aufrechterhalten wollen. Erinnert sei an den kollektiven Aufschrei im Bundestagswahlkampf 2013, als die Grünen einen »Veggie Day« pro Woche in Kantinen vorschlugen. Die Reaktionen damals – »grüne Bundes-Verbots-Republik«, »grüne Erziehungsdiktatur« – hallen bis heute nach. [3]