Supermärkte verantworten Fehlernährung

Wie ambivalent Nachhaltigkeitsberichte mit ihrem Verantwortungsoverkill mitunter sind, zeigt just der 2020 erschienene Lidl-Bericht für die Geschäftsjahre 2018 und 2019. Dort darf der Leiter der Abteilung Prävention beim AOK -Bundesverband, Kai Kolpatzik, in einem Interview ausführlich vor zu hohem Zucker- und Salzkonsum warnen: »Das Problem ist enorm«, sagt Kolpatzik und erklärt: »Der Pro-Kopf-Konsum in Deutschland liegt deutlich über den WHO -Empfehlungen – und das hat gravierende Folgen. Zu viel Zucker führt zu Übergewicht und zu Krankheiten wie Diabetes Typ 2 und Karies. Adipositas, also starkes Übergewicht, kostet die Gesellschaft rund 63 Milliarden Euro im Jahr. Und die jährlichen Behandlungskosten von Karies betragen über acht Milliarden Euro. Diese Kosten tragen wir alle unter anderem über die Krankenkassenbeiträge.«

So weit, so richtig und wichtig. Der Arzt und Gesundheitswissenschaftler darf sich sogar politisch positionieren. Auf die Frage, wer den größten Hebel in der Hand halte, um den Überkonsum von Salz und Zucker zu reduzieren, sagt Kolpatzik: »Das ist eindeutig der Gesetzgeber – und zwar mit verbindlichen Vorgaben. Denn die freiwilligen Selbstverpflichtungen, wie sie hierzulande existieren, werden die Gesundheit der Menschen nicht wirklich verbessern. Bei Limonaden etwa hat sich der durchschnittliche Zuckergehalt von über acht Gramm pro 100 Milliliter von 2018 auf 2019 um nicht einmal 0,1 Gramm je 100 Milliliter reduziert. Verbindliche Vorgaben wären besser, da kein Wettbewerbsnachteil entsteht, wenn alle Hersteller den Zucker- oder Salzgehalt (…) senken müssen.«

Wettbewerbstheoretisch ist dieser Sachverhalt unbestreitbar: Ist eine Vorgabe nicht für alle bindend, sondern dem Goodwill der einzelnen Akteure überlassen, kann mancher dem Reiz nicht widerstehen, sich durch Nichtbeachtung der Vorgabe einen Vorteil gegenüber Konkurrentinnen zu verschaffen; in diesem Fall wäre es das Verkaufsargument: »Unsere Lebensmittel sind süßer, deftiger, geschmackvoller« – ein Angebot für Leute mit Sinn für »Genuss«.

Kein Wunder also, dass der AOK -Arzt und Präventionsexperte Kai Kolpatzik zur Einschätzung kommt, freiwillige Selbstverpflichtungen würden die Gesundheit der Menschen nicht verbessern. Ebenso Francesco Branca, Direktor für Ernährung und Lebensmittelsicherheit bei der WHO , der sagt, er kenne keinen einzigen Fall, in dem freiwillige Vereinbarungen mit der Lebensmittelwirtschaft Wirkung gezeigt hätten, wenn die Regierung keine Druckmittel in der Hand habe.

Dass Lidl solchen Positionen Raum in seinem Nachhaltigkeitsbericht einräumt, kann man als fortschrittlich anerkennen. Man kann es aber auch als Feigenblatt für Lidl sehen: Denn während sich der Discounter als irgendwie aufgeschlossen für gesetzliche Maßnahmen zur Eindämmung des krankmachenden Salz- und Zuckerkonsums zeigt, bekämpft der mächtige Lebensmittelverband Deutschland – dessen Mitglied auch Lidl ist – reflexartig jegliche Art von gesetzlicher Regulierung, egal, ob es um eine Steuer auf zuckerhaltige Produkte geht (wie es sie u.a. in Großbritannien, Norwegen, Frankreich und Mexiko gibt) oder um die Beschränkung von Werbung für ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder richtet.

Wenig überraschend behauptet der Lobbyverband auch bezüglich der 2018 geschlossenen Vereinbarung zwischen der Lebensmittelwirtschaft und der Bundesregierung zur freiwilligen Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertigprodukten, man habe »das Versprechen gegenüber der Politik« gehalten: »Freiwillige Reduktionsstrategie für Zucker, Fett und Salz wirkt.« Ganz anders das staatliche Max Rubner-Institut, das im Auftrag des Bundesernährungsministeriums die Analyse der Lebensmittel durchführt: In ihrem jüngsten Produktmonitoring von 2022 verfallen die Wissenschaftler keinesfalls in einen »Es wirkt«-Jubel wie die Lebensmittellobby. Stattdessen berichten sie von Licht und Schatten und fassen ihre Ergebnisse in äußerst vorsichtige, gedrechselte Formulierungen: Der Vergleich der Energie- und Nährstoffgehalte der untersuchten Fertigprodukte mit einer früheren Erhebung lasse »eine kontinuierliche Entwicklung erkennen: Das Marktangebot dehnt sich teilweise zu Produkten mit niedrigeren Gehalten hin aus, und es konnten zum Teil signifikante Verringerungen gegenüber der Basiserhebung festgestellt werden. Dennoch sind weiterhin Produkte in den oberen Bereichen der Energie- und Nährstoffgehalte auf dem Markt. Die Tatsache, dass in einigen Produktgruppen die Energie- und Nährstoffgehalte im Vergleich zur Basiserhebung erhöht sind, weist darauf hin, dass es weiteres Reduktionspotenzial gibt.« So gewunden drückt sich eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft aus, [1] die gegenüber den Lebensmittelherstellerinnen und -händlern nicht mehr in der Hand hält als ein »Versprechen«.

Selbst die Lebensmittelzeitung war klarer in ihrer Kommentierung des aktuellen Produktmonitorings: Zum Gesamtbild gehöre, »dass etwa beim Zucker kein allgemeiner Reduktionstrend zu beobachten ist. Vielmehr dominiert das ›Sowohl als auch‹. (…) Beim Salzgehalt konnte weder eine signifikante Erhöhung noch eine Verringerung festgestellt werden.«

Welch schwache Wirkung Selbstverpflichtungen – oder »Versprechen« – der privaten Lebensmittelwirtschaft gegenüber dem Staat und auch gegenüber Kunden entfalten, zeigte eine Studie von foodwatch. 2021 verglich die NGO fast 300 an Kindern beworbene Produkte von 16 Lebensmittelkonzernen, die eine Selbstverpflichtung zu verantwortungsvollerem Kindermarketing (»EU Pledge«) unterschrieben hatten, mit den Nährwert-Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO ). Das Ergebnis: 85,5 Prozent der Produkte enthielten zu viel Zucker, Fett und/oder Salz und waren nach WHO -Kriterien unausgewogen. Im Vergleich zu einer Untersuchung sechs Jahre zuvor ergab sich eine nur marginale Verbesserung, damals hatte der Anteil ungesunder Produkte knapp 90 Prozent betragen. Weshalb foodwatch resümierte: »Die in den vergangenen Jahren (…) erfolgte freiwillige Zuckerreduktion in einigen Kinderprodukten ist nachweislich unzureichend, um sicherzustellen, dass nur ausgewogene Lebensmittel an Kinder beworben werden.« Ergo: Die freiwillige Selbstregulierung der Lebensmittelindustrie bei Kindermarketing sei gescheitert.

Ganz einfach ausgedrückt geht es darum, dass die Dosis und vor allem Wirksamkeit freiwilliger Selbstverpflichtungen und »Versprechen« lächerlich gering ist angesichts einer gewaltigen Problematik: Jede und jeder Vierte in Deutschland ist stark übergewichtig, schätzungsweise zehn Millionen Menschen haben Typ-2-Diabetes, und jeder fünfte Todesfall in Deutschland ist auf eine ungesunde Ernährung zurückzuführen. Zu meinen, all das seien die Folgen falscher individueller Entscheidungen ist unterkomplex. Die Lebensmittelindustrie und ebenso die Supermarktketten haben einen immensen Einfluss auf unsere Ernährung. Durch an Kinder gerichtetes Marketing prägen sie schon früh die Essgewohnheiten, durch irreführende Werbung lassen sie Lebensmittel gesünder erscheinen, als sie es in Wahrheit sind. Und durch geschickte Lobby-Kampagnen verhindern sie wirksame politische Maßnahmen, die eine gesunde Ernährung fördern könnten. Die Weltgesundheitsorganisation und zahlreiche medizinische Fachgesellschaften fordern, dass Regierungen die Branche endlich wirksam in die Pflicht nehmen. Reformulierungsversprechen und freiwillige Selbstverpflichtungen derer, die damit sehr viel Geld verdienen, sind so wenig hilfreich wie Löffel mit einer kleinen Erhebung in der Laffe.

Süße Snacks
Angebot

Zu den süßen Snacks zählen Süßwaren, Kekse, Frühstücksflocken und Schokoriegel, aber auch Fruchtschnitten, die nicht als süße Snacks erkennbar sind. Bei der Beurteilung von süßen Snacks ist vor allem der Zuckergehalt relevant. Der zugesetzte Zucker in Snacks besteht aus Rüben- oder Rohrzucker, deren chemische Zusammensetzung nahezu identisch ist. Süße Snacks sind vorwiegend im Kassenbereich der Supermärkte zu finden, wo sie wegen quengelnder Kinder einen besonderen Kaufanreiz ausüben (»Quengel-Kassen-Phänomen«).

Transparenz

Es wird der gesamte Zuckergehalt etikettiert, sowohl der natürlich enthaltene Zucker (z.B. in Honig oder Obst) als auch der zugesetzte Zucker, z.B. Haushaltszucker. Dies liest sich in der Zutatenliste beispielsweise so: »Kohlehydrate 12 g, davon Zucker 6 g«. Man kann also nicht erkennen, welcher Anteil des Zuckers zugesetzt und welcher von Natur aus enthalten ist.

Die gesundheitlich relevante Menge des Zuckergehaltes lässt sich aus der Zutatenliste nicht abschätzen. Dazu wäre eine Nährwertkennzeichnung wie der Nutri-Score erforderlich. Allerdings schaltet der Nutri-Score erst bei einem Zuckergehalt von umgerechnet 80 g/Tag auf Rot, während die Weltgesundheitsorganisation 50 g empfiehlt. Zudem ist der Nutri-Score freiwillig anwendbar und deshalb auf süßen Snacks kaum zu finden.

Die Aufschrift »ohne Zuckerzusatz« ist täuschend, sie bedeutet nicht, dass kein Zucker enthalten ist, sondern dass kein Zucker zugesetzt wurde. Eine Fruchtschnitte, die keinen zugesetzten Zucker, aber mit 40 Prozent natürlichem Zucker einen hohen Zuckergehalt aufweist (z.B. aus Datteln, Rosinen u.a.), darf mit »ohne Zuckerzusatz« beworben werden.

Ökologischer Fußabdruck

Abhängig von den jeweiligen Grundstoffen (Schokolade, Getreide, Früchte) entsteht ein unterschiedlicher ökologischer Fußabdruck. Zucker: Wie bei allen Pflanzen werden bei der konventionellen Zuckerproduktion Pestizide und Mineraldünger mit den entsprechenden negativen ökologischen Auswirkungen eingesetzt. Der ökologische Fußabdruck von Rübenzucker und Zucker aus Rohr hängt von den jeweiligen Anbaubedingungen ab.

Gesundheit

Der Konsum von Zucker stellt eine Gefahr für die Gesundheit dar. Er liefert dem Körper nichts außer überflüssige Kalorien. In Deutschland betrug der Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker im Jahr 2020/21 32,5 Kilogramm, dies entspricht einer täglichen Menge von rund 89 Gramm. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine Ernährung, die nicht mehr als zehn Prozent Zucker enthält. Für einen durchschnittlichen Erwachsenen (bei einer Kalorienzufuhr von 2000 kcal) entsprechen zehn Energieprozent nicht mehr als 50 Gramm Zucker pro Tag (ca. zehn Teelöffel bzw. 14 Stück Würfelzucker). Den höchsten Anteil am Verbrauch haben Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren mit 16 bis 18 Prozent. 73 Prozent der Müslis, Cornflakes etc. überschreiten die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation von 15 Gramm Zucker pro 100 Gramm Müsli etc. Bei Kinder-Frühstücksflocken liegen 99 Prozent über dem Richtwert.

Zucker in Verbindung mit einer hochkalorischen Ernährung führt zu Übergewicht bzw. Adipositas und einem erhöhten Risiko, an Diabetes mellitus Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Störungen zu erkranken. Es gibt keinen »gesunden« Zucker. Süßungsalternativen wie Honig enthalten keine gesunden Nährstoffe, so dass sie keinen gesundheitlichen Vorteil bringen.

Bio-Produkte

Der Anbau von Rüben- oder Rohrzucker findet ohne synthetische Pestizide und Mineraldünger statt. Bio-Produkte sind bezüglich des Zuckergehaltes nicht gesünder. Eine Bio-»Fruchtschnitte« mit »natürlichem« Zucker in Form von Honig, Sultaninen, Feigen bringt es ohne Schwierigkeiten auf einen Gesamtzuckergehalt von über 50 Prozent.

Wahlfreiheit

Angesichts der unklaren Zutatenliste und der Abwesenheit einer aussagefähigen Nährstoffkennzeichnung ist die Wahlfreiheit erheblich eingeschränkt.

Salzige Snacks
Angebot/Qualitäten

Zu den salzigen Snacks werden – angelehnt an die Nationale Verzehrsstudie II  – »Knabberartikel auf Kartoffelbasis, salziges Kleingebäck, gesalzene und geröstete Nüsse und Samen sowie Erdnussflips« gezählt. Diese Lebensmittel enthalten oft viel Fett und Salz. Unter Salz – auch bekannt als Speise-, Koch- oder Tafelsalz – versteht man Natriumchlorid (NaCl).

Transparenz

Seit Dezember 2016 muss der Speisesalzgehalt im Rahmen der Lebensmittelkennzeichnung auf verpackten Lebensmitteln angegeben werden. Die auf der Vorderseite der Verpackungen angegebenen Portionsgrößen z.B. für Kartoffelchips sind oft unrealistisch, weil nur 30 Gramm als Portion angegeben sind. Auf diese kleinere Menge heruntergerechnet, wirken die Kalorien-, Fett- und Salzgehalte nicht mehr so groß. Eine Studie aus 2017 ergab, dass im Durchschnitt eine Portion auf ca. 60 Gramm Chips geschätzt wird, doppelt so viel wie von den Herstellern angegeben.

Ökologischer Fußabdruck

Er hängt von den jeweiligen Grundstoffen der Snacks (z.B. Nüsse, Kartoffeln) ab und weist deshalb große Unterschiede auf.

Gesundheit

Der Orientierungswert für Speisesalz liegt laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE ) bei 6 Gramm pro Tag und laut WHO bei 5 Gramm. Dies entspricht ungefähr einem Teelöffel. Die DGE empfiehlt, dass Speisesalz mit Jod und/oder Fluorid angereichert sein sollte, da die Bevölkerung in Deutschland im Durchschnitt eine Unterversorgung mit Jod aufweist. Die gängigen Salzgehalte klassischer salziger Snacks sind hoch. 100 g Kartoffelchips: 1,2 Gramm Salz; 100 g Erdnüsse, geröstet und gesalzen: 1,3 Gramm Salz; 100 g Salzstangen: 4,3 Gramm Salz. Die Verbraucherzentrale kritisiert, dass vor allem die scheinbar »gesunden« Chips aus Hülsenfrüchten durch sehr hohe Salzgehalte negativ auffallen. Auch Chips-Alternativen aus Gemüse und Getreide sind nicht gesünder. Der Kaloriengehalt ist nahezu identisch und auch der Salzgehalt ist hoch.

Die tägliche Zufuhr von Salz liegt bei ca. 70 Prozent der Frauen und ca. 80 Prozent der Männer über den Empfehlungen. Laut der Nationalen Verzehrsstudie II zeigt sich, dass der Konsum salziger Snacks bei 14- bis 18-Jährigen am höchsten ist und mit dem Alter weiter abnimmt.

Ein hoher Salzkonsum ist mit einem erhöhten Risiko für Bluthochdruck und koronare Herzerkrankungen verbunden. Die Reaktion des Blutdrucks auf Salzkonsum ist jedoch nicht bei allen gleich: »Salzsensitive« Menschen reagieren auf eine veränderte Speisesalzzufuhr mit einer stärkeren Blutdruckveränderung.

Bio-Alternative

Die pflanzliche Basis von salzigen Bio-Snacks wird ohne Pestizide und Mineraldünger hergestellt, ist also ökologischer. Die Snacks sind aber ernährungsphysiologisch nicht wertvoller.

Als bessere Alternative zum herkömmlichen Salz wird oft »Himalaya-Salz« oder »Meersalz« angepriesen. Einen gesundheitlichen Mehrwert haben diese Salze jedoch nicht. Argumentiert wird gern mit dem Mineralstoffgehalt dieser Sorten. Dieser ist jedoch so gering, dass kein Mehrwert besteht.

Wahlfreiheit

Die Wahlfreiheit ist wegen der fehlenden gesundheitlichen Bewertung der auf der Packung angegebenen Salzmenge/100 g beschränkt. Dieses Defizit könnte der Nutri-Score beheben, der allerdings auf salzigen Snacks selten zu finden ist, weil er nicht verpflichtend angewendet werden muss.