Missbrauchtes Vertrauen

Das Lobbying der Handelsverbände in Berlin und Brüssel ist nur ein Teil der Erklärung dafür, warum die Regeln so verbraucherfeindlich sind. Hinzu kommt eine besondere Eigenschaft von Lebensmitteln – die Tatsache, dass sie sogenannte Vertrauensgüter sind. Das habe ich schon an anderer Stelle in diesem Buch beschrieben, möchte es hier aber noch einmal wiederholen, weil es von zentraler Bedeutung ist. Vertrauensgüter sind solche Waren und Dienstleistungen, bei denen Kundinnen die Qualität weder im Voraus noch im Nachhinein wirklich einschätzen können. Dazu gehören zum Beispiel Medikamente, aber eben auch Lebensmittel. Denn einem Apfel im plastikumwickelten Sechser-Pack sieht man nicht an, ob und welche Pestizide er möglicherweise enthält. Und selbst wenn man hineinbeißt, schmeckt man nicht, ob er nie oder 20-mal gespritzt wurde. Genauso wenig verrät der Geschmack eines Schweineschnitzels, ob das Tier während seines kurzen Lebens Schmerzen litt und krank war. Ob ein Liter Milch oder ein Stück Käse vergleichsweise nachhaltiger produziert wurden als das danebenliegende Konkurrenzprodukt – der Supermarktkunde kann es nicht wissen und folglich auch kein Urteil über die Qualität fällen.

Bei Gütern, deren Qualität die Käufer leichter selbst ermitteln können – die Rechenleistung eines Laptops, die Energieeffizienz einer Heizungsanlage –, führt der Wettbewerb zu einer Qualitätssteigerung , weil sich Anbieterinnen mit nachprüfbar besseren Produkten von ihren Konkurrenten abheben können. Hingegen ist in einem intransparenten Markt wie dem der Lebensmittel die zwangsläufige Folge, dass konkurrierende Anbieterinnen sich mit nicht nachprüfbaren Qualitätsversprechen gegenseitig überbieten oder mit nicht erkennbaren Qualitätsverschlechterungen unterbieten und so dem »Downgrading« auf breiter Front Vorschub leisten. Mit anderen Worten: Der Markt sorgt nicht für Verbraucherschutz! Nach der Krise um die Rinderseuche BSE vor gut zwanzig Jahren hat sogar der bekannte Ökonom und Markt-Hardliner Hans-Werner Sinn eingeräumt, dass ein effektiver Verbraucherschutz staatlicher Interventionen bedarf, um Transparenz, Qualitätsauswahl und Gesundheitsschutz im Lebensmittelmarkt sicherzustellen. Sinns lesenswerter Aufsatz trägt den Titel »Verbraucherschutz als Staatsaufgabe«. [1]

Ihren Regulierungspflichten bei den Vertrauensgütern des Lebensmittelmarkts indes sind die staatlichen Stellen weder auf EU -Ebene noch auf nationaler Ebene der Mitgliedstaaten nachgekommen. Sie sind verantwortlich für das eklatante Transparenzdefizit und damit den Qualitätsverfall des Lebensmittelangebots. Damit haben Politik und Staat das Vertrauen der Verbraucherinnen missbraucht und den einfachen Weg gewählt, sich nicht mit der Lebensmittelindustrie anzulegen, sondern sich hinter dem Rücken der Verbraucher und auf deren Kosten mit ihr arrangiert. Dieser Vertrauensbruch steht für ein eklatantes Politikversagen, weil der Staat seiner Schutzpflicht für das Grundrecht seiner Bürgerinnen auf Leben, das sich auch in einer ausgewogenen und gesunden Ernährung manifestiert, nicht ausreichend nachkommt.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten verstoßen mit dieser Vernachlässigung ihrer Schutzpflicht sogar gegen bestehendes Recht, nämlich gegen die sogenannte Basisverordnung 178/2002, die das übergeordnete EU -Lebensmittelrecht bezeichnet und in den Mitgliedstaaten geltendes Recht ist (vgl. Kapitel 10). Die Verordnung wurde unter dem Schock der BSE -Krise Anfang des Jahrtausends aufgesetzt, was erklärt, warum sie in großer Klarheit einen vorsorgenden Gesundheitsschutz postuliert, der sowohl potenzielle Gefährdungen als auch langfristig wirkende Gefahren berücksichtigt. Vergleichbar umfassend ist der Täuschungsschutz in der Verordnung geregelt: Sie verbietet nämlich nicht nur Täuschung und Irreführung, sondern bereits die Möglichkeit , dass Verbraucher in die Irre geführt werden könnten. Das Gebot der Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln entlang der Lieferketten sowie Transparenz- und Informationspflichten für Unternehmen und Behörden sind ebenfalls Bestandteil der Verordnung. Der epochale Fortschritt dieser Verordnung für das Lebensmittelrecht ist ihr durchgehend präventiver Ansatz. Dass Prävention im Lebensmittelmarkt besonders sinnvoll ist, kann man an einem einfachen Beispiel festmachen: Einen defekten Computer kann man zurückgeben, nicht jedoch ein dioxinbelastetes Ei, das man unwissentlich gegessen hat.

Für die Lebensmittelwirtschaft bedeutet Prävention jedoch höhere Kosten. Es ist vorteilhafter, einen möglicherweise gesundheitsschädlichen, aber billigeren Zusatzstoff so lange einzusetzen, bis er verboten wird, als aus Präventionsgründen von vorneherein eine unschädliche, aber teurere Alternative zu verwenden. Denn für nachträgliche Schäden, z.B. in Form von Kosten des Gesundheitswesens, muss die Allgemeinheit aufkommen, also die Versicherten und Steuerzahlerinnen. Die Kosten der präventiven Maßnahme, hier ein ungefährlicher Zusatzstoff, muss hingegen das Unternehmen bezahlen.

Der Widerstand der Lebensmittelwirtschaft gegen Prävention ist auch ein wesentlicher Grund dafür, dass zwanzig Jahre nach Verabschiedung der Verordnung diese in weiten Teilen nicht umgesetzt worden ist. Diese Tatsache spiegelt sich in den vielen nachgeordneten gesetzlichen Vorschriften wider, die die Vorgaben der Basisverordnung unterlaufen, seien es die Kennzeichnungsvorschriften, die Produktverordnungen oder die Zusatzstoffzulassungsverordnung. Die in diesem Buch geschilderten Defizite der untersuchten Produktgruppen im Hinblick auf Transparenz, Qualität, Umweltwirkungen, Gesundheit und Wahlfreiheit sind allesamt die Konsequenz von Rechtsvorschriften, die den Vorgaben der Basisverordnung zuwiderlaufen.

Hätte Deutschland die Vorgaben der Basisverordnung ernst genommen, wäre auch die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK ) in ihrer heutigen Form schon längst abgeschafft. Wir haben die DLMBK schon im zweiten Kapitel über Backwaren vorgestellt: Sie ist ein gesetzlich verankertes Gremium, das beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL ) angesiedelt ist und in Fachausschüssen sogenannte Leitsätze erarbeitet. Diese beschreiben die Zusammensetzung und Beschaffenheit von Lebensmitteln sowie ihre Verkehrsbezeichnungen. Die Leitsätze der Kommission haben zwar keine Gesetzeskraft, wirken aber de facto wie Gesetze, weil Gerichte sie zur Orientierung heranziehen. Beschlüsse der Kommission, an deren Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestehen und in der auch der Lebensmitteleinzelhandel mit Sitz und Stimme vertreten ist, können nicht gegen die Stimmen der Lebensmittelindustrie gefällt werden. Die Abstimmungen und Beratungsprotokolle sind geheim. Die Kommission erfüllt nicht ihre Aufgabe, das Täuschungsverbot umzusetzen, den Gesundheitsschutz zu stärken und die Qualität der Lebensmittel zu verbessern. Im Gegenteil, sie bedient primär die Interessen der Lebensmittelindustrie, auch indem ihre Leitsätze die Verbraucher häufig täuschen.

Ein weiterer Grund für die verbraucherfeindliche Entwicklung des Lebensmittelmarktes ist die Tatsache, dass sich Verbraucherinnen bzw. ihre Verbände nicht gerichtlich gegen Regierungen und Behörden wehren können. Sei es, wenn eine wärmebehandelte, länger haltbare Milch in täuschender Weise als »frische Milch« bezeichnet werden darf, sei es, wenn Behörden das Gebot der Rückverfolgbarkeit von Separatorenfleisch nicht durchsetzen oder im Sinne des Vorsorgeprinzips Zusatzstoffe nicht verbieten, die gesundheitsgefährdend sein könnten. Es ist ein Ausweis der Machtverhältnisse auf dem Lebensmittelmarkt: Wir Verbraucher bzw. unsere Interessenverbände können uns juristisch nicht zur Wehr setzen.

Und nicht zuletzt sieht sich der EU -Verbraucherschutz mit der grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert, dass ein zentrales Element der EU -Verträge die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes sind – der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. An diesen vier Grundfreiheiten orientiert sich auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, mit der Konsequenz, dass der freie Verkehr von Waren im Binnenmarkt prinzipiell einen höheren Rang genießt als der Verbraucherschutz. Ein praktisches Beispiel dafür liefert einmal mehr die Nährwertkennzeichnung Nutri-Score, die nach überwiegender Meinung der Wissenschaft ein sehr wirksames Instrument ist, Verbraucherinnen und Verbraucher durch Ampelfarben zu einer ausgewogeneren Ernährung zu bewegen. Ohnehin ist es den Mitgliedstaaten wegen des Primats des EU -Binnenmarktes untersagt, den bisher nur freiwillig anwendbaren Nutri-Score isoliert in ihren Territorien als verbindliche Kennzeichnung einzuführen. Aber auch die Einführung des verbindlichen Nutri-Scores auf EU -Ebene ist keineswegs sicher. Die EU will im ersten Quartal 2023 einen Vorschlag für eine verbindliche Nährwertkennzeichnung, wie sie der Nutri-Score darstellt, unterbreiten. Ob dieser Vorschlag dem Schutzniveau des bisher freiwillig anwendbaren Nutri-Scores entspricht, muss sich erst noch herausstellen. Zu bedenken ist, dass die auf einer Mehrheitsentscheidung basierende Einführung eines für alle EU -Unternehmen verbindlichen Nutri-Scores zur Folge haben kann, dass ein Mitgliedstaat vor dem Europäischen Gerichtshof mit dem Argument klagt, der Export wesentlicher Produkte des Landes würde behindert. Eine Klage Italiens wegen Benachteiligung seiner Exporte von Parmesan und Spaghetti, beides keine Lebensmittel mit einem ausgewogenen Nährwertprofil, könnte durchaus Erfolg haben. Keine guten Aussichten für einen effektiven lebensmittelrechtlichen Verbraucherschutz in Europa. [2]