Die Lage ist vertrackt: Denn zum einen ist es sehr unrealistisch, dass die EU von sich aus die Agrar- und Lebensmittelpolitik grundlegend reformiert – das zeigen die vergangenen Jahrzehnte, die verlorene Jahrzehnte waren. Hinzukommt, dass die EU bis auf wenige Ausnahmen die Hoheit in der Lebensmittel- und Agrarpolitik hat. Die Mitgliedstaaten haben deshalb kaum Chancen, eine konkrete Vorreiterrolle zu übernehmen. So könnte Deutschland beispielsweise nicht verordnen, dass die unleserlich kleine Schrift auf Verpackungen größer sein muss; ebenso wenig könnte es die Nährwertkennzeichnung Nutri-Score als verpflichtende Kennzeichnung für alle Unternehmen einführen. Denn die EU hat den Nutri-Score nur als »freiwillig verwendbare Kennzeichnung« zugelassen. Das klingt auf den ersten Blick harmlos, zeigt aber, wie rigide das EU -Recht ist. Denn die Vorgabe »freiwillig verwendbar« impliziert, dass ein verpflichtend anzuwendender Nutri-Score in einem Mitgliedstaat der EU verboten ist.
Dennoch sehe ich zwei Wege, Veränderungen in Gang zu setzen: Erstens kann ein großer und starker Mitgliedstaat wie Deutschland, wenn er denn will, erheblichen Einfluss auf die Lebensmittel- und Agrarpolitik der EU nehmen, so wie alle deutschen Regierungen dies auch bei ihrem Einsatz für die deutsche Automobilindustrie bewiesen haben. Und zweitens müssen die wenigen nationalen Spielräume, die verbleiben, umso konsequenter genutzt werden.
Als Ende 2021 die Grünen in die neue Regierungskoalition eintraten, waren die Erwartungen hoch, sie würden diese zwei Hebel betätigen: Druck in Brüssel entfalten und gleichzeitig die restlichen nationalen Spielräume maximal ausnutzen. Doch der Koalitionsvertrag enttäuscht diese Erwartungen gründlich. Er ist ein Vertrag des »Weiter so«, nicht des Aufbruchs. Die Vorlage dazu liefern die Berichte der beiden noch von der Regierung Merkel eingesetzten Kommissionen zum Thema Landwirtschaft, die »Borchert Kommission« und die »Zukunftskommission Landwirtschaft«.
Erstere schlägt eine freiwillige »Tierwohl-Kennzeichnung« vor; Käufer dieser so gekennzeichneten Produkte müssen dafür einen Preisaufschlag bezahlen, mit dem größere Ställe für die Tierhaltung finanziert werden sollen. Größere Ställe sind allerdings keine Garantie dafür, dass die Tiere weniger leiden (vgl. Kap. 11). Dafür braucht es ein staatlich verpflichtendes Gesundheitsmonitoring, das anhand nachprüfbarer Daten schmerzhafte Krankheiten der Tiere identifiziert und kuriert. Das geplante Tierschutz-Siegel der rot-grün-gelben Regierung ist auch deshalb grundsätzlich der falsche Weg, weil es nicht das Leiden aller Tiere in der Landwirtschaft beendet, sondern nur das Schicksal einer kleinen Kaste privilegierter Tiere verbessert, die von Käufers Gnaden abhängen. Auch wenn es aufgrund des EU -Binnenmarktes sehr schwierig ist, effektiven Schutz für alle Nutztiere zu gewährleisten, vermisst man das eindeutige Signal einer deutschen Regierung mit Grünen-Ministerinnen an die EU : Wir fordern ein europäisches Tierschutzgesetz!
Das große Defizit des Berichtes der Zukunftskommission Landwirtschaft besteht darin, dass er darauf verzichtet, Umweltschäden aus der Agrarproduktion endlich über Abgaben für Pestizide, Düngemittel und Treibhausgasemissionen zu verringern und damit konsequent das Verursacherprinzip anzuwenden. Um den Konflikt mit der konventionellen und der ökologischen Landwirtschaftslobby nicht austragen zu müssen, drückt sich auch der Koalitionsvertrag vor einer derartigen Anwendung des Verursacherprinzips und überträgt die Verantwortung für eine nachhaltigere Landwirtschaft auf die Supermarktkundinnen und -kunden, indem für Lebensmittel ein Siegel des ökologischen Fußabdrucks entwickelt werden soll, das die Verbraucherinnen anspornt, nachhaltige Produkte zu kaufen. Doch man kann die Landwirtschaft, wie in diesem Buch verschiedentlich gezeigt wurde, mit der Einführung eines Siegels nicht effektiv ökologisieren. Der Beleg: Trotz der Einführung des Bio-Siegels vor mehr als zwanzig Jahren und trotz der Eierkennzeichnung ist die ökologische Landwirtschaft bis heute nicht mehr als eine Nische; und die Umweltschäden durch die Landwirtschaft haben nicht abgenommen.
Durch einen Verzicht auf die Forderung nach einer Abgabe auf Treibhausgase aus der Fleisch- und Milchproduktion unterlaufen die Grünen zudem auch ihre eigenen klimapolitischen Ambitionen und verhindern damit, dass Deutschland seine klimapolitischen Ziele erreichen kann, wozu es eines substanziellen Beitrags der Landwirtschaft bedarf. In der Landwirtschaft müssten die Treibhausgase, die überwiegend in der Tierhaltung anfallen, reduziert werden und damit auch die Tierbestände. Davon wären aber nicht nur die konventionellen, sondern auch Bio-Betriebe betroffen. Zwar verspricht der Koalitionsvertrag, die Fläche des ökologischen Landbaus in Deutschland von gegenwärtig zehn auf 30 Prozent bis zum Jahr 2030 zu erhöhen, also einen Zuwachs der Ökoanbaufläche um 20 Prozentpunkte bzw. eine Verdreifachung innerhalb weniger Jahre. Der Vertrag nennt aber nur die Zielgröße und verschweigt, mit welchen Maßnahmen das Ziel erreicht werden soll. Klar ist allerdings: Wenn der Ausbau der ökologischen Landwirtschaft im bisherigen Schneckentempo vorangeht, ist das 30-Prozent-Ziel erst nach knapp 60 Jahren erreicht.
Im Bereich Lebensmittel gibt es noch nationale Spielräume, zum Beispiel bei den Klage- und Informationsrechten. Zudem könnten die Lebensmittelüberwachungsbehörden endlich personell und finanziell besser ausgestattet werden. Nichts davon adressiert die Koalition. Zwar plant sie ein Verbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder richtet, aber den größten und einzigen nationalen Hebel, um vor allem das Täuschungsverbot der EU -Verordnung zumindest teilweise umzusetzen und die Qualitätsauswahl für Verbraucher zu verbessern, fasst die Koalition gar nicht erst an: Die grundlegende Reform der wahrscheinlich verfassungswidrigen Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK ), von deren verbraucherfeindlichen Praktiken in diesem Buch schon an mehreren Stellen die Rede war. Die von der DLMBK beschlossenen Verkehrsbezeichnungen täuschen in weiten Teilen die Verbraucherinnen und unterlaufen damit das Täuschungsverbot des Lebensmittelrechts. Die DLMBK wurde zwar zwischen 2016 und 2020 »reformiert«, dies änderte jedoch an den schwerwiegenden verbraucherpolitischen und verfassungsrechtlichen Defiziten substanziell nichts.
Der Rechtswissenschaftler Stephan Rixen an der Universität zu Köln kommt zu der Schlussfolgerung: »Die Aufgabe, Leib und Leben der Bürgerinnen und Bürger als Lebensmittelkonsumenten zu schützen, darf unter dem Grundgesetz nicht länger an ein Gremium delegiert werden, das ohne demokratische Legitimation darüber mitentscheidet, ob fundamentale Grundrechte bei der Ernährung real wirksame oder nur rhetorische Größen sind. Die bisherige Konstruktion der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission ist verfassungsrechtlich unhaltbar geworden.« [1] Die Kommission gehört in dieser Form abgeschafft bzw. grundlegend reformiert, und diese Maßnahme läge allein in der Entscheidungsmacht der deutschen Regierung.
Bleibt die Frage: Warum ist der Koalitionsvertrag für Landwirtschaft und Lebensmittel, also zwei Sektoren, für die die Grünen verantwortlich zeichnen, so dürftig? Die Antwort lautet: Klientelinteressen und opportunistische Konfliktvermeidung. Mit der Forderung nach der Anwendung des Verursacherprinzips würden es sich die Grünen mit ihrer Klientel, der Öko-Landwirtschaft, verderben. Denn die besonders profitable, aber treibhausgasintensive Öko-Milch- und Fleischwirtschaft würde durch eine Klimaabgabe besonders leiden. Und die Lebensmittelbuch-Kommission wird verschont, um sich nicht mit der Industrie anzulegen, sicher auch in der Erwartung, dass die Kommission ohnehin niemand kennt. Das ist ein fatales Versäumnis, weil die Kommission vorwiegend die Interessen der Industrie vertritt und nicht die der Verbraucherinnen.
So bleibt ein Koalitionsvertrag, der die Chance, »mehr Fortschritt (zu) wagen« – so sein Titel –, nicht ergreift. Stattdessen ist der Vertrag ein Rückschritt!