Deutsche Prinzessinnen in Russland – Vorfahren und Eltern – August Ludwig von Senarclens de Grancy – Heiligenberg – Darmstadt – Tod der Mutter – Marianne de Grancy – Karl Zimmermann – Besuch aus Russland – In der Oper – Hohenzollern, Romanow und Hessen
1824–1838
Maximiliane Wilhelmine Auguste Sophie Marie von Hessen und bei Rhein, geboren am 8. August und feierlich getauft am 26. August 1824 in Darmstadt, war nicht die erste deutsche Prinzessin, die einen russischen Thronfolger heiratete. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts hatten die Romanow-Herrscher ihre Söhne mit deutschen Prinzessinnen verheiratet, und die deutschen Duodez-Fürsten hatten ihre Töchter gern nach Russland vergeben. Denn eine Verbindung mit dem Haus Romanow galt als ausgesprochen gute Partie. Aber auch für die Romanows hatten Ehen mit westeuropäischen Partnern Vorteile. Hatten die Moskauer Zaren ihre Söhne bis zum Ende des 17. Jahrhunderts mit Frauen aus dem russischen Hochadel verheiratet und damit endlose Intrigen und Machtkämpfe unter den großen Bojarenfamilien des alten Moskowien ausgelöst, so hatte Peter I. seinen Sohn Alexej 1711 mit einer Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel und seine Tochter Anna 1725 mit einem Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf verheiratet, und seine Nachfolger waren seinem Beispiel gefolgt. Denn diese Ehen waren geeignet, die Öffnung Russlands nach Europa zu fördern, die Peter mit der Gründung St. Petersburgs (1703) und der Verlegung seiner Hauptstadt an die östliche Ostseeküste (1712) eingeleitet hatte.
Auch die Nachfolger Peters I., der 1721 den Titel „Kaiser“ angenommen und befohlen hatte, den Zarentitel durch den Kaisertitel zu ersetzen, waren bemüht, die Europäisierung ihres Landes und damit dessen Modernisierung durch dynastische Ehen ihrer Söhne und manchmal auch ihrer Töchter zu fördern und zu festigen. Dabei fiel die Wahl der Petersburger Kaiser auf Prinzessinnen aus den protestantischen deutschen Fürstenhäusern, weil die Protestantinnen – im Gegensatz zu den Katholikinnen – bereit waren zu konvertieren. Mit einer Ausnahme, der dänischen Prinzessin Dagmar, haben die russischen Thronfolger und vielfach auch ihre jüngeren Brüder fast zwei Jahrhunderte lang deutsche Prinzessinnen geheiratet, so dass die Romanows ethnisch eine deutsche Dynastie waren.
In der langen Reihe der deutschstämmigen russischen Kaiserinnen war Marie auch nicht die erste Hessin. Es war zwar schon lange her, dass sich Karoline Henriette von Hessen-Darmstadt, die „Große Landgräfin“, wie Goethe sie genannt hatte, im Mai 1773 mit ihren Töchtern Amalie, Wilhelmine und Luise auf den langen Weg nach St. Petersburg gemacht hatte, um sie Katharina II., einer gebürtigen Prinzessin von Anhalt-Zerbst, vorzustellen, die eine Braut für ihren Sohn Paul suchte. Doch das tragische Schicksal Wilhelmines, ihrer mittleren Tochter, für die sich Katharina und Paul entschieden hatten, war unvergessen.
Im Oktober 1773 wurde Wilhelmine, die beim Übertritt zur russischen orthodoxen Kirche den russischen Vor- und Vatersnamen Natalja Alexejewna erhalten hatte, mit dem Großfürsten-Thronfolger Paul Petrowitsch getraut. Es war eine äußerst günstige Partie, die eine nachhaltige Sanierung der hessischen Staatsfinanzen ermöglichte und dem Landgrafen Ludwig IX., Wilhelmines Vater, die russische Generalsuniform einbrachte. Doch der Preis, den die junge Frau zahlte, war hoch. Natalja verstrickte sich in Hofintrigen und verdarb es schnell mit ihrer mächtigen Schwiegermutter, die ihr unterstellte, sie stürzen zu wollen, um Paul, ihren ungeliebten Sohn, auf den Thron zu bringen. Natalja starb im April 1776 lange und qualvoll nach einer Totgeburt. Katharina II. aber fühlte sich betrogen, weil die Obduktion ergab, dass Wilhelmine aufgrund einer ihrer Familie bekannten Missbildung der Wirbelsäule gar nicht imstande war, ein lebendes Kind zur Welt zu bringen.1 Wilhelmine war Maries Großtante.
Unvergessen war auch, dass Wilhelmines älterer Bruder Ludwig, der Erbprinz, nach dem Studium in Leiden und einer Bildungsreise nach London und Paris seiner Schwester nach St. Petersburg gefolgt war und Anfang 1774 als General der Donau-Armee Katharinas II. noch ein paar Wochen gegen die Türken gefochten hatte. Doch dann war er wegen Streitigkeiten während eines längeren Aufenthaltes der Kaiserin in Moskau ungnädig aus ihren Diensten entlassen und im Herbst 1775 von ihr nach Hause geschickt worden, wo er sich prompt abfällig über Katharina und die frivolen Zustände an ihrem Hof äußerte. In ihrer Korrespondenz nennt sie ihn denn auch einen „dummen langen Lulatsch“.2
Seine „abgelehnten“ Schwestern Amalie und Luise waren mittlerweile anderweitig verheiratet worden, die eine im Juli 1774 nach Karlsruhe, die andere im Oktober 1775 nach Weimar. Amalie wurde Markgräfin von Baden-Durlach, Luise Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, somit Nachfolgerin der berühmten Anna Amalia und Landesherrin Goethes.
Ludwig aber war aus St. Petersburg zunächst nach Potsdam gegangen und hatte dann eine Zeitlang am Hof seiner Schwester Luise in Weimar gelebt. Dort hatte er den bereits berühmten Goethe kennengelernt, der ihn „eine große, feste, treue Natur mit einer ungeheuren Imagination und einer graden, tüchtigen Existenz“ nannte und in der Folge mit ihm korrespondierte. Auch Schiller gehörte zu Ludwigs Korrespondenten.
Der Erbprinz war ein gelehriger und weitblickender junger Mann. Der Aufenthalt in Paris, die engen Kontakte mit den französischen Enzyklopädisten, der Einfluss Friedrichs II., die Atmosphäre am Weimarer „Musenhof“, vor allem aber die Russland-Erfahrung haben dazu beigetragen, dass er einer der fortschrittlichsten Monarchen seiner Zeit wurde. Ludwig war Maries Großvater.
Nach Ludwigs Entlassung und Wilhelmines Tod kühlten die politischen Beziehungen zwischen Darmstadt und St. Petersburg wieder ab. Nur die Korrespondenz, die Landgräfin Karoline mit Katharina II. geführt hatte und die im Großherzoglichen Archiv in Darmstadt aufbewahrt wurde, erinnerte noch an die russische Heirat der Prinzessin Wilhelmine und ihr trauriges Ende.
Insbesondere ihre Schwester Amalie von Baden hat die demütigende Fahrt in den „Norden“ – für das „aufgeklärte“ Europa des 18. Jahrhunderts lag Russland nicht im Osten, sondern im Norden – offenbar nicht vergessen. Als Katharina II. in den 1790er Jahren wieder eine Braut suchte, diesmal für Alexander, ihren ältesten Enkel, den künftigen Kaiser Alexander I., und ihr Auge auf Amalies mittlere Töchter Luise und Friederike gefallen war, mussten die beiden Mädchen, Kinder noch – Luise war 12, Friederike 11 Jahre alt – allein nach St. Petersburg reisen. Katharinas Wahl fiel auf Luise, die künftige Kaiserin Elisabeth Alexejewna, während Friederike 1797 mit Gustav IV. Adolf von Schweden verheiratet wurde. Elisabeth und Friederike waren Maries Tanten.
Ihr Großvater, der 1790 als Ludwig X. regierender Landgraf von Hessen-Darmstadt wurde, mag mit seinen beiden Nichten gefühlt haben, als sie nach St. Petersburg zogen – sofern Gefühle in der dynastischen Heiratspolitik des 18. Jahrhunderts überhaupt eine Rolle spielten. In der Regel spielten sie keine Rolle. Ludwig hatte 1777 seine lebenslustige Cousine Luise Henriette von Hessen-Darmstadt geheiratet, die ihm sechs Kinder gebar: Ludwig (II.), Louise, Georg, Friedrich, Emil und Gustav. Im August 1806 trat der Landgraf unter französischem Druck dem Rheinbund bei, einer Konföderation deutscher Staaten, die aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ausgeschieden und eine Militärallianz mit Frankreich eingegangen waren. Dafür erhielt Ludwig von Napoleon den aus Florenz entlehnten Titel „Großherzog“ mit dem Prädikat „Königliche Hoheit“ und herrschte nunmehr als Großherzog Ludewig I. über sein kleines Land. Er und seine Frau Luise führten eine „offene“ Ehe.
Als Rheinbundfürst musste dann auch Ludewig im Jahre 1812 Napoleons Großer Armee ein Kontingent für den Russland-Feldzug stellen, das sein vierter Sohn Emil befehligte. Unter Emils Führung gelangten die drei Regimenter bis Moskau und erlebten alle Schrecken des Brandes und des Rückzugs im russischen Winter. Von den 5000 Hessen, die meisten von ihnen Infanteristen, kehrten weniger als 300 nach Hause zurück. Prinz Emil selbst war nur durch Zufall beim berühmt-berüchtigten Übergang der Großen Armee über die Beresina im November 1812 mit dem Leben davongekommen. Der Übergang im Feuer der russischen Artillerie kostete die Große Armee rund 17.000 Tote und Verwundete. Es war die Hölle. Über den Russland-Feldzug dürfte daher noch lange in der Familie geredet worden sein, zumal im Krieg von 1812 auf beiden Seiten Wittgensteins kämpften.
Feldmarschall Graf Ludwig Adolph Peter zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, dessen Vater in der Mitte des 18. Jahrhunderts in die Dienste der Kaiserin Elisabeth Petrowna getreten war, versperrte den Franzosen im Juli 1812 den Weg nach St. Petersburg, Prinz August-Ludwig zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Kommandeur der hessischen Chevauxlégers, zog mit Napoleon nach Moskau, und er war es, der den Prinzen Emil beim Rückzug vor dem Ertrinken in der eisigen Beresina rettete. Er war es auch, der 1839/1840 als Hauptbevollmächtigter des Hauses Hessen die Heiratsverhandlungen mit dem russischen Kaiserhaus führte und im Auftrag des Großherzogs den Heiratsvertrag unterschrieb.
Die Tatsache, dass die Hessen in den Befreiungskriegen 1813/14 die Fronten wechselten und schließlich gegen Napoleon fochten, unter Prinz Emils Führung schließlich sogar bis Paris gelangten, hat sicher dazu beigetragen, dass Ludewig I. sein Territorium auf dem Wiener Kongress 1814/1815 um Gebiete jenseits des Rheins (Rheinhessen mit Mainz und Worms) vergrößern konnte (Artikel 47 der Wiener Kongressakte), worauf er seinem Namen „und bei Rhein“ hinzufügte. Im Juni 1815 trat das Großherzogtum dem neugegründeten Deutschen Bund bei, der bis 1866 existieren sollte, und der Großherzog verpflichtete sich, gemäß Artikel 13 der Bundesakte eine landständische Verfassung „stattfinden“ zu lassen. Dazu kam es erst Ende 1820 nach längeren Verhandlungen mit der liberalen Opposition im ersten gewählten Landtag. Mit der Unterzeichnung der Verfassungsurkunde vom 17. Dezember 1820 vollzog Ludewig den Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie. Seine dankbaren Untertanen haben ihm dafür ein knapp 40 Meter hohes Säulendenkmal auf dem nach seiner Frau benannten Luisenplatz in Darmstadt errichtet, das Ludwigsmonument, im Volksmund „Langer Ludwig“ oder „Langer Lui“ genannt.
Auch für die Volksbildung hat Ludewig viel getan, indem er die großherzogliche Hofbibliothek öffnen und ein neues Hoftheater mit 1800 Plätzen bauen ließ, das nur bedingt ein Theater für den Hof war. Beide Einrichtungen, die Bibliothek und das Theater, waren vorrangig „zur Beförderung wahrer Aufklärung und Verbreitung nützlicher Kenntnisse“ unter den Bürgern gedacht. Außerdem übergab Ludewig I. seine bedeutenden Kunst- und Naturaliensammlungen, darunter das gesamte druckgraphische Werk Albrecht Dürers und Rembrandts, schon 1820 dem Staat und machte sie der Öffentlichkeit im Neuen Schloss (heute: Hessisches Landesmuseum Darmstadt) zugänglich.
Erbprinz Ludwig, sein ältester Sohn, hatte im Juni 1804 in Karlsruhe die 15-jährige Prinzessin Wilhelmine von Baden geheiratet, die jüngste Schwester Luises und Friederikes. Die eine war nun Kaiserin von Russland, die andere Königin von Schweden, und Karoline, eine dritte Schwester, wurde 1806 die erste Königin des neugeschaffenen Königreichs Bayern. Elisabeth und Friederike hatten kein Glück in der Ehe, und auch Wilhelmine wurde in Darmstadt nicht glücklich. Die temperamentvolle junge Frau, die 1802 als Heiratskandidatin für Napoleon Bonaparte im Gespräch gewesen war, langweilte sich unendlich mit dem elf Jahre älteren Ludwig, der als unordentlich, kleinkrämerisch, träge und antriebslos geschildert wird, und fühlte sich in der Gesellschaft von Militärs und alten Würdenträgern am Darmstädter Hof nicht wohl.3 Das Zuschauen bei Paraden und beim Exerzieren der Truppen fand sie ermüdend, nur bei Ausflügen in die Umgebung blühte sie auf. Sie war eine sensible, sehr kunstsinnige Frau. Auch Ludwig war ein gebildeter Mann. Er hatte in Leipzig studiert und schrieb sogar Gedichte, fing zum Leidwesen seiner Frau aber schon „bey dem blossen Namen Lecture“ an zu gähnen.4 Die beiden hatten – außer der Liebe zur Natur und zu Gärten – nichts gemeinsam. Sie waren nicht füreinander geschaffen. Nach der Geburt der Söhne Ludwig (1806) und Karl (1809) lebten sie sich vollends auseinander.
Im Herbst 1814 hätte Wilhelmine ihren Mann gern auf den Wiener Kongress begleitet, um auch einmal die große Welt kennenzulernen, doch ihre Mutter Amalie billigte die Idee nicht, worauf Wilhelmine eigene Pläne machte und zum ersten Mal in die Schweiz und nach Italien reiste. Das Interesse für die Schweiz hatte ihre Gouvernante, die aus der Nähe von Lausanne stammte, bereits in Karlsruhe in ihr geweckt, doch Wilhelmine folgte auch der allgemeinen Schweiz-Begeisterung ihrer Zeit. Sie kam hingerissen von der Landschaft, der Architektur und den Menschen zurück und reiste bis 1834 noch mehrfach in ihr Traumland. Womöglich hat sie bereits während ihres ersten Aufenthalts in der Nähe von Lausanne von Auguste Louis Senarclens de Grancy gehört, einem Offizier aus waadtländischem Uradel, der in den Gardes Suisses des Königs von Frankreich gedient hatte. Vielleicht hat sie ihn sogar schon kennengelernt. Womöglich kam die Empfehlung aber auch von ihrer Schwester Friederike, der Ex-Königin von Schweden, die seit dem Sturz ihres Mannes 1809 im heimatlichen Karlsruhe im Exil lebte und bereits einen Schweizer Gouverneur aus dem Waadtland für ihre ältesten Söhne engagiert hatte.
Jedenfalls veranlasste Wilhelmine ihren Mann nach ihrer Rückkehr, Grancy zu ihrem Reisestallmeister und Oberaufseher (Gouverneur) über die Erziehung des Erbprinzen Ludwig, des späteren Ludwig III., zu ernennen. Die Tatsache, dass Grancy als Freiwilliger gegen Napoleon gekämpft hatte, mag den Erbgroßherzog, der aus seiner antinapoleonischen Gesinnung nie einen Hehl gemacht hatte, gleich für ihn eingenommen haben. Grancy wurde engagiert und trat seinen Dienst in Darmstadt Mitte 1815 an. Zwei Jahre später engagierte Wilhelmine auch für ihren Sohn Karl einen Schweizer Gouverneur.
Wann Wilhelmines Liebesverhältnis mit dem blendend aussehenden, sechs Jahre jüngeren Kavalleristen begann, der 1820 Major und 1825 Obrist-Leutnant wurde, wissen wir nicht, und wie es sich entwickelte, wissen wir auch nicht. Etwaige Aufzeichnungen, Briefe oder Tagebücher wurden nach Wilhelmines Tod wohlweislich vernichtet. Aber die Liaison ist historisch verbürgt, sie hielt bis zu Wilhelmines Tod und lieferte den europäischen Höfen jahrzehntelang Gesprächsstoff, zumal Ludwig II. das Verhältnis seiner Frau hinnahm und die vier Kinder, die Wilhelmine von Grancy bekam, als seine eigenen anerkannte: Elisabeth (1821), Karoline (1822), Alexander (1823) und Marie (1824). Er war ein gutmütiger Mann, hatte – das Beispiel seiner Eltern vor Augen – auch Affären, und einen Skandal mit europaweitem Nachhall, den vor allem die kaiserlich-königliche Verwandtschaft seiner Frau wohl höchst ungern gesehen hätte, wollte er vermeiden.
Maries Taufpaten waren die Königin von Bayern, die Königin der Niederlande, die Kurfürstin von Hessen und Markgräfin Leopold von Baden, die sich offensichtlich nichts aus den Gerüchten machten. Somit blieb die Form gewahrt, und 1825 wurden Alexander und ein Jahr später auch Marie ordnungsgemäß in den alljährlich erscheinenden Gothaischen genealogischen Hofkalender bzw. Almanach de Gotha, kurz „Gotha“, aufgenommen, der an allen Höfen Europas aufmerksam gelesen wurde.5
Ihre Mutter lebte seit 1820 vorwiegend auf der von ihr sogenannten Rosenhöhe östlich von Darmstadt. Hier, auf dem 1810 erworbenen Gelände eines ehemaligen Weinberges, des Busenberges, hatte sie einen englischen Landschaftsgarten anlegen und von Hofbaudirektor Georg Moller ein relativ einfaches zweigeschossiges Wohnhaus errichten lassen, das sie als Sommersitz nutzte, nicht ahnend, dass der Park Rosenhöhe einmal die Begräbnisstätte ihrer Familie werden würde. Die erste Beisetzung fand hier 1831 statt. Es war die kleine Elisabeth, ihre älteste Tochter, die 1826 im Alter von fünf Jahren in Lausanne an Scharlach gestorben und zunächst in der Darmstädter Stadtkirche beigesetzt worden war und hier ihr letzte Ruhe fand. Das sog. Alte Mausoleum auf der Rosenhöhe, auch ein Moller-Bau, hat Wilhelmine für Elisabeth errichten lassen. 1831 wurden ihre sterblichen Überreste hierher umgebettet. Wir können annehmen, dass Marie, inzwischen 7 Jahre alt, an der Zeremonie teilnahm.
Der Tod der ältesten Tochter war nicht der einzige Schlag, der Wilhelmine im Jahre 1826 traf. Auch der Tod ihrer Schwestern, der Kaiserin von Russland im Mai und der Ex-Königin von Schweden im September, hatte sie schwer mitgenommen. Sie brauchte Abstand und vielleicht auch einen Ort, an dem sie sich darüber klar werden konnte, wie es um ihre Beziehung zu Grancy bestellt war. Außerdem liebte sie das Landleben. Zwar besaß sie bereits das Haus auf der Rosenhöhe, doch 1827 kaufte sie als weiteren Rückzugsort einen auf dem Heiligenberg oberhalb Jugenheims an der Bergstraße gelegenen ehemaligen Gutshof mit Obstgärten und Weinbergen, dessen Hauptgebäude sie nach Plänen von Georg Moller zu ihrem Sommerwohnsitz ausbauen ließ. Nachdem Wilhelmine 1830 Großherzogin geworden war, standen ihr auch die nötigen Mittel dafür zur Verfügung. So entstand Schloss Heiligenberg, eine fürstliche Bleibe mit nunmehr neun Schlafzimmern, Weinkeller und zehn Pferdeställen, in denen auch Esel standen, und so ritt auf dem Heiligenberg später selbst die Kaiserin von Russland auf Eseln aus.
Die Gestaltung des Gartens nahm die Großherzogin selbst vor und ließ neue Alleen, Plätze und Wege anlegen. Ein Wildgehege mit Wildhäuschen, ein Brunnen im Innenhof und eine Terrasse zur Rheinseite hin kamen noch zu ihren Lebzeiten dazu, später erhielt der Heiligenberg in Schlossnähe ein kleines Schwimmbad, das erste in Hessen, dazu ein Badehäuschen. Von der Terrasse auf dem westlichen Ausläufer des Heiligenberges, ihrem Lieblingsplatz, hatte Wilhelmine einen phantastischen Blick auf die Rheinebene und den Fluss, der die Ebene weit im Westen wie ein silbernes Band begrenzt.
In diesem Idyll lebte sie nun im Sommer mit ihren Kindern, während Grancy auf halber Höhe des Heiligenberges zunächst in einer Villa, später im Pfarrhaus von Jugenheim seinen ständigen Wohnsitz hatte. Dort wohnte er auch weiterhin, nachdem er 1830 zum Kammerherrn in Darmstadt ernannt und in den Freiherrenstand erhoben worden war, worauf er sich August-Ludwig Freiherr von Senarclens-Grancy nannte.
So kam es, dass Marie und Alexander ihre Kindheit überwiegend auf dem Heiligenberg verbrachten, dessen Zauber noch Jahrzehnte später auch ihre Kinder in seinen Bann zog, eine „ideale, schöne Gegend“, über die Alexanders Tochter Marie zu Erbach-Schönberg schreibt: „Überall Blumen, Vogelgesang, Lebensfreude und strahlende Gesichter, in allen das intensive Heimatgefühl, die Dankbarkeit über den Besitz all dieser Schönheit! Auch den Gästen teilte sich die Freude mit und allen Bewohnern, ebenso der Dienerschaft. Alle hatten frohe Augen dort oben auf dem lieben Berge.“6
Die beiden Kinder, der „liebste Alex“ und seine „Herzensmarie“ – so nannten sie einander in ihrer lebenslangen Korrespondenz – waren unzertrennlich. Sie liefen, sprangen und tobten auf dem Heiligenberg herum, kletterten auf Bäume, spielten Verstecken und trieben den Schabernack, den Kinder eben treiben. Marie machte alles mit, wenn nur Alex, der große Bruder, dabei war.
Um Maries Erziehung kümmerte sich Wilhelmine persönlich, wobei sie besonderen Wert auf Literatur- und Geschichtskenntnisse legte. Dabei waren die Romane von Walter Scott förderlich, die Marie besonders gern las. Sie weckten ihr Interesse an historischen Werken.
Natürlich gehörte auch das Französische zum Lernprogramm, das an den Höfen Europas immer noch bevorzugt gesprochen wurde. In der Sammlung der zumeist in Sütterlin abgefassten Aufsätze, Diktate, Konspekte, Auszüge und Schreibübungen der Prinzessin Marie des Hessischen Staatsarchivs findet sich, leider ohne Quellenangabe, ein sorgfältig in großer Kinderschrift notierter Merksatz in französischer Sprache, nach dem Marie sich wohl ihr Leben lang gerichtet hat: „Ne parlez jamais, mon enfant, sans réfléchir à ce que vous voulez dire, et souvenez-vous bien du proverbe qui avertit les éventés de tourner sept fois leur langue dans leur bouche, avant de proférer un mot. Marie, Princesse de Hesse.A1 Am russischen Hof fand man später freilich, dass Marias Französisch nicht vollkommen war.
Religionsunterricht erhielt die Prinzessin – sie war ein frommes Mädchen – ab 1832 von Karl Zimmermann, dem bedeutenden hessischen Theologen und Autor zahlreicher literarischer Arbeiten, der 1835 zweiter Hofprediger in Darmstadt wurde. Seine Predigten fanden weite Verbreitung. Zu Maries Verlobung im April 1840 in Darmstadt schrieb auch Karl Zimmermann Glückwünsche und Gedichte.
Zum Erzieher Alexanders wurde im November 1829 Hauptmann (Kapitän) Christian Conrad Frey ernannt, der ihn und teilweise auch seine Schwester in den Fremdsprachen Latein, Französisch und Englisch, in Religion und Deutsch unterrichtete.8 Für Alexander, der auf eine militärische Karriere vorbereitet werden musste, kamen die Fächer Mathematik, Botanik, Zeichnen und Geographie hinzu, später noch Geschichte und Physik sowie eine Einführung in die verschiedenen Waffengattungen. Aber auch Klavier, Reiten und Tanzen standen auf dem Stundenplan. Im Alter von zehn Jahren war Alexander bereits Secondelieutenant (Oberleutnant) im Darmstädter Leibregiment, 1839 wurde er zum Hauptmann ernannt, 1840 bereits zum Obersten befördert. Das war auch ein Verdienst seines Erziehers, der später mit dem russischen Wladimir-Orden ausgezeichnet wurde.
Hauptmann Frey war ein gewissenhafter, verständiger Mann, aber auch ein Pedant, der für beide Kinder sog. „Grimassen- und Tränenregister“ anlegte. Darin vermerkte er täglich, wie oft sie ein Gesicht geschnitten oder Tränen vergossen hatten. Wenn sich am Ende des Monats herausstellte, dass Alexander häufiger geweint hatte als seine Schwester, hielt der Hauptmann ihm vor, „dass er sein Geschlecht beschäme […]“.9 Das große Hobby des Jungen war die Numismatik, in der er es weit bringen sollte. Alexander von Hessen wurde ein bedeutender Numismatiker und publizierte über seine umfangreiche Sammlung mehrere Arbeiten.A2 Bevor er 1840 mit seiner Schwester nach Russland ging, übergab er einen Teil davon dem Landesmuseum in Darmstadt. Über Maries Hobbys ist nichts bekannt, vermutlich war sie eine Leseratte.
Die Kindheit der beiden war angesichts der getrennt lebenden Eltern wohl nicht ganz wolkenlos, auch wenn Ludwig und Wilhelmine bemüht waren, die Form zu wahren, und einander freundlich und respektvoll begegneten. Sie gingen einander jedenfalls nicht aus dem Weg. In Darmstadt waren Marie und Alexander allerdings nicht so gern gesehen, die Hofgesellschaft hat die beiden wohl spüren lassen, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Wussten Marie und Alexander als Kinder, dass nicht der Großherzog, sondern der Baron ihr Vater war? Wir wissen es nicht. Ihnen wird aber schon aufgefallen sein, dass der Stallmeister immer in der Nähe war und sich liebevoll um sie und um die Mutter kümmerte, während der Großherzog nur selten aus Darmstadt herüber kam. Wir können nur annehmen, dass sie später von ihrer wahren Herkunft erfuhren, aber nicht unbedingt darüber sprachen und auch ihre Kinder nicht informierten. Jedenfalls fällt auf, dass sich in den Memoiren der Fürstin Marie zu Erbach-Schönberg, Alexanders Tochter, nicht der geringste Hinweis darauf findet, dass sie wusste, wer „der alte Baron“ war, der „in idyllischer Zurückgezogenheit“ am Heiligenberg lebte, nämlich ihr Großvater.
An den europäischen Höfen war das Thema auch nach Maries Hochzeit noch nicht erledigt, man tratschte und klatschte weiter. Selbst Otto von Bismarck, der im Juli 1853 als preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt dort einmal die Ankunft der Großfürstin Maria Nikolajewna und die Begrüßung durch Alexander von Hessen beobachtete, konnte sich in einem Brief an einen Bekannten die Bemerkung nicht verkneifen, der Prinz sehe „dem alten Herrn von Grancy auf eine ganz unschickliche Art ähnlich“.10
Und noch dreißig Jahre später war das Thema nicht erschöpft, wie wir aus den Erinnerungen Bernhard von Bülows wissen. „In der russischen Kaiserfamilie war die Abstammung der späteren Kaiserin Maria Alexandrowna und des Prinzen Alexander von Hessen von dem schönen Oberststallmeister wohlbekannt“, schreibt der spätere Reichskanzler. „Als ich, damals Botschaftsrat in St. Petersburg, 1885 oder 1886, einmal mit dem Großfürsten und der Großfürstin Wladimir von Zarskoje Selo nach Petersburg fuhr und der Großfürst, der wie gewöhnlich zu spät zu Bett gegangen war, unterwegs einschlief, machte mich seine Frau Großfürstin Maria Pawlowna [geb. Marie zu Mecklenburg-Schwerin, M.B.] auf sein gut geschnittenes Antlitz und seine Gesichtszüge aufmerksam, die fast etwas Klassisches hätten. Man sehe, meinte sie, dass ihr Mann nicht der Enkel des berühmt hässlichen Ludwig II. von Darmstadt sei, sondern des ‚schönen‘ Grancy. Übrigens seien die Grancy eine gute Familie. Die Familie Senarclens von Grancy ist in der Tat eine sehr gute Familie. Sie stammt aus dem Waadtland, wo, nicht weit von Lausanne, ihr Stammschloss steht.“11
Der allgemeinen Schweiz-Begeisterung ihrer Zeit folgend war Wilhelmine von 1814 bis 1834 insgesamt sechsmal in die Schweiz gereist und hatte auch die Familie des Geliebten kennengelernt, ihren Stammsitz besucht und ihr seine Kinder vorgestellt.12
Im April 1830 trat Erbgroßherzog Ludwig, der zurückgezogen und öffentlichkeitsscheu in Darmstadt gelebt und wenig Anteil an den Regierungsgeschäften gehabt hatte, die Nachfolge seines Vaters an. Wie sich bald zeigen sollte, war Ludwig II. weniger liberal gesonnen als Ludewig I.
Großherzogin Wilhelmine starb im Januar 1836 im Alten Palais in Darmstadt an einem Lungenleiden, möglicherweise an Tuberkulose, deren Anlage sie Marie vererbte. Sie wurde im Alten Mausoleum auf der Mathildenhöhe neben ihrer Tochter Elisabeth beigesetzt. Noch im gleichen Jahr heiratete Senarclens de Grancy eine bayerische Gräfin, mit der er weitere sechs Kinder bekam. Louise von Otting-Fünfstetten war Hofdame der Großherzogin gewesen und noch zu deren Lebzeiten der Prinzessin Marie beigeordnet worden.
Grancy blieb auch nach Wilhelmines Tod im Dienst des Großherzogs, zunächst als Generalmajor à la suite, ab 1842 als Oberstallmeister.
Mit Wilhelmines Tod wurde die Hofhaltung auf dem Heiligenberg aufgegeben, und Alexander und Marie, die den Heiligenberg gemeinsam geerbt hatten, kamen nach Darmstadt, wo sie sich wahrscheinlich fremd fühlten und sich mehr oder weniger selbst überlassen blieben. Möglicherweise wurde ihnen hier zu verstehen gegeben, dass sie nicht „richtig“ dazu gehörten. Man kann sich leicht vorstellen, dass die beiden sich nun noch enger zusammenschlossen und sehnsüchtig auf die Sommermonate auf dem Heiligenberg warteten. Maries Erziehung lag jetzt ganz in den Händen ihrer Gouvernante Marianne de Grancy, die den Vorgaben der Großherzogin genauestens folgte. Sie war eine Schwester des Stallmeisters, also Maries Tante, und ersetzte ihr fortan die Mutter.13 Das Verhältnis der beiden war so innig, dass „Mlle Grancy“ später mit Marie nach Russland ging, wo sie zur Hofdame der Großfürstin und späteren Kaiserin ernannt wurde und noch viele Jahre ihre Vertraute blieb. Das Wenige, das wir über Marianne de Grancy wissen, stammt denn auch aus russischen Quellen.
Wassilij A. Schukowskij, der Dichter und spätere Russisch-Lehrer der Prinzessin, lernte „Mlle Grancy“ schon im April 1840 in Darmstadt kennen und sah „nur Güte des Charakters und wenig Verstand“ in ihr.14 Anna F. Tjuttschewa, die sie 1853 bei Hofe kennenlernte und für eine Elsässerin hielt, schildert sie in ihren „Erinnerungen“ als hochgewachsene, hagere Frau, die „wie aus einem Stück“ wirkte. Sie hatte grobe, regelmäßige Züge, hellblaue Augen, einen offenen, treuherzigen Blick und vollkommen weiße Haare, die „dieses noch sehr junge Gesicht in silbernen Locken umrahmen und einen seltenen Kontrast zu ihm bilden. Tatsächlich ist sie noch nicht einmal 40 Jahre alt. Sie erzählte mir, dass ihre Haare während einer Krankheit der Prinzessin von Darmstadt […] binnen weniger Tage weiß geworden sind, als diese 12 Jahre alt war. Sie hatte eine Lungenentzündung, und ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Mir scheint, dass Mlle Grancy die Großfürstin ganz einfach liebt, ohne jeden Hintergedanken. Sie hat sie von frühester Kindheit an erzogen, und sie selbst war erst 18 Jahre alt, als ihr die Großherzogin von Darmstadt ihre Tochter anvertraute. Das Mädchen war ungefähr sieben [Marie war elf, M.B.] Jahre alt, als ihre Mutter starb, und nur Mlle Grancy blieb bei ihr … Wenn Mlle Grancy auch nicht die Qualitäten hatte, die für eine allseitige Entwicklung der Fähigkeiten ihrer Schülerin nötig gewesen wären, so hat sie sie wenigstens mit einer gesunden und reinen sittlichen Atmosphäre umgeben, in die keine Nebeneinflüsse eindrangen, die sich schlecht auf die von der Natur so reich beschenkte Prinzessin hätten auswirken können. Dieses Feingefühl und die Originalität, die in der Zesarewna sind und die ihr den Anschein großen Edelmuts verleihen, hängen zweifellos in beträchtlichem Maß von jener poetischen Umgebung ab, in der sie ihre Kindheit und ihre Jugend verbrachte.
Als die Prinzessin mit 16 Jahren die Braut des russischen Thronerben wurde, brachte Mlle Grancy sie nach Petersburg und blieb bis zur Hochzeit bei ihr. Jetzt erhält sie eine Rente von 3000 Rubel vom russischen Hof und besucht von Zeit zu Zeit die Großfürstin, die sich ihr wie einem Mitglied ihrer Familie gegenüber verhält.“15
Das Milieu, in dem Marie und Alexander aufwuchsen, war provinziell und eng, aber es war anheimelnd und überschaubar. Die Tatsache, dass Marie Zeit ihres Lebens an ihrem „lieben Heiligen Berg“ hing und auch als Kaiserin gern dorthin zurückkehrte, spricht dafür, dass sie sich hier geborgen fühlte. Auch Ludwig und Karl, den beiden sehr viel älteren Brüdern, blieb sie zeitlebens verbunden.
Am 25. März 1839 wurde dem Großherzog überraschend die Ankunft des Großfürsten-Thronfolgers Alexander Nikolajewitsch von Russland und seiner Suite in Darmstadt gemeldet. Derart hochgestellte Gäste hatten sich in der kleinen Residenz mit ihren rund 25.000 Einwohnern noch nie sehen lassen, und die Prinzessin war vermutlich genauso überrascht wie ihr Vater. Was will der denn hier?, mag sie sich gefragt haben. Gleichviel, während sie sich fürs Theater ankleidete, begaben sich der Vater, Onkel Emil und die Brüder vom Alten Palais am Luisenplatz in das nahegelegene Hotel Traube, wo die Russen abgestiegen waren, um sie ins Großherzogliche Hoftheater einzuladen. Die „Traube“, natürlich das erste Haus am Platz, in dem der Hof Gäste unterbrachte, die nicht im Schloss logierten, hatte ein Vierteljahrhundert zuvor Aufsehen erregt, weil 1814 auf dem Dachboden die verschollenen Bauzeichnungen des Kölner Doms gefunden worden waren, der seit mehr als 600 Jahren in Bau und immer noch erst halbfertig war. Der Fund erleichterte den Weiterbau, der 1823 fortgesetzt und 1880 vollendet wurde.
Was Marie von all dem wusste, lässt sich nicht mehr feststellen. Ausgerechnet an jenem Märztag, an dem die russischen Herrschaften in Darmstadt ankamen, war sie tüchtig erkältet, und ein starker Husten machte ihr zu schaffen. Ein Erbe ihrer Mutter?16 Für alle Fälle hatte sie vorsorglich einen Schal umgebunden. Die Familie erwartete den Großfürsten-Thronfolger im Vorraum der großherzoglichen Loge im Hoftheater, wo die berühmte Vestalin von Gaspare Spontini, eine lyrische Tragödie in drei Akten, auf dem Programm stand. Wie immer hielt sich Marie im Hintergrund.
Und dann kamen sie, die Russen. Der Großfürst war ein hochgewachsener, stattlicher junger Mann mit großen blauen Augen in kleidsamer Husarenuniform, jeder Zoll ein Gardeoffizier. Auf den ersten Blick war ihm anzusehen, dass er aus einer ganz anderen Welt kam. Ein Märchenprinz! Er muss einen umwerfenden Eindruck auf die aparte Vierzehnjährige gemacht haben, die sich vermutlich einen gewaltigen Ruck gegeben hat, um ihre Schüchternheit zu überwinden und einen Hofknicks zu machen. „Schon das erste Wort, das sie zu ihm sprach, ließ ihn aufhorchen; sie war keine Puppe wie die anderen, zierte sich nicht und wollte nicht gefallen“, schreibt Olga Nikolajewna.17
Alexander sprach ein gutes, wenn auch etwas hartes Deutsch. Das wunderte Marie nicht, denn sie wusste, dass seine Mutter eine gebürtige Preußin war, mit der sie sogar entfernt verwandt war. Ja, die Kaiserin von Russland und sie hatten in Landgraf Ludwig VIII. von Hessen-Darmstadt, dem „Jagdlandgrafen“, der seine Kutsche von weißen Hirschen ziehen ließ, einen gemeinsamen Ururgroßvater! Natürlich wusste Marie auch, dass Königin Luise, die Mutter der Kaiserin, einen Großteil ihrer Kindheit (1785–1793) zusammen mit ihren beiden Schwestern bei der Großmutter mütterlicherseits, der warmherzigen, klugen „Prinzessin George“ im später sog. „Mecklenburgischen Palais“ in Darmstadt (heute: Kaufhaus Henschel am Markt) verbracht und besser Hessisch „gebabbelt“ als Französisch parliert hatte. Auch Alexander Nikolajewitsch muss bewusst gewesen sein, dass seine preußische Großmutter am Darmstädter Hof erzogen worden war und dass sie hier jene häusliche Geborgenheit erfahren hatte, die ihre Tochter Charlotte, seine Mutter, ihm und seinen Geschwistern weitergegeben hat. Und natürlich wird Alexander Nikolajewitsch auch gewusst haben, dass sich seine Großmutter im April 1793 in Darmstadt offiziell mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich-Wilhelm verlobt hatte.
Schließlich war Maries Bruder Karl seit 1836 mit Elisabeth von Preußen, einer Kusine der Kaiserin, verheiratet. Es gab also vielfältige und langjährige Verbindungen zwischen dem Haus Hessen, den Romanows und den Hohenzollern, so dass Marie von Hessen und bei Rhein und Alexander von Russland sich schon aus diesem Grund füreinander interessiert haben könnten.
Was Marie zu diesem Zeitpunkt sonst noch über Russland wusste, lässt sich nicht mehr ermitteln. Ihre Mutter dürfte ihr von ihrer Schwester Luise, der Kaiserin Elisabeth, und ihrem treulosen Gatten Alexander erzählt haben, und auch von ihrer 1823 verstorbenen älteren Schwester Amalie Christiane, die Elisabeth in St. Petersburg besucht und sogar mehrere Jahre am russischen Hofe gelebt hatte. Vermutlich wusste Marie auch von dem umfangreichen Briefwechsel, den ihre kluge Großmutter Amalie von Baden mit Elisabeth geführt hatte, so dass Amalie so manches über den Petersburger Hof erfuhr, was nie öffentlich wurde. Ob Amalie, die 1832 starb, ihrer Enkelin davon und von ihrer eigenen Russlandreise 1774 erzählt hat, wissen wir nicht. Fest steht aber, dass sich Marie Zeit ihres Lebens für Kaiserin Elisabeth, ihre unglückliche Tante, interessiert und alles gesammelt hat, was sie über sie finden konnte.
Ebenso wenig wissen wir, ob Ludewig I. seiner Enkelin von seinem Russland-Abenteuer erzählt hat. Was immer die Fünfzehnjährige über Russland wusste, ihre Vorstellungen können nur vage gewesen sein und dürften noch am ehesten auf den Erzählungen in der Familie beruht haben. Wie eine russische Zeitzeugin kurz nach Maries Ankunft in St. Petersburg beklagt, hatten nicht nur die Prinzessin, sondern „viele in Darmstadt eine ziemlich wirre und falsche Vorstellung“ von Russland und St. Petersburg, „sie hatten Angst vor unserem Winter, und überhaupt hielten sie uns beinahe für Wilde“.18
A1 „Reden Sie nie, mein Kind, ohne darüber nachzudenken, was Sie sagen wollen, und erinnern Sie sich gut an das Sprichwort, das die Oberflächlichen mahnt, siebenmal ihre Zunge im Munde zu drehen, bevor sie ein Wort aussprechen. Marie, Prinzessin von Hessen.“ Das Sprichwort wird seit 1832 im Dictionnaire der Académie française zitiert, dort lautet es: „Il faut tourner sept fois sa langue dans sa bouche avant de parler“. Soll heißen: Man muss gut nachdenken, ehe man spricht.
A2 Dazu zählt Das HeiligenbergerMünzkabinett (Graz und Darmstadt 1854-1856), die erste Beschreibung seiner 40.000 Stücke umfassenden Sammlung in drei Bänden, die den Prinzen als Experten berühmt machte. Von seinem Werk Hessisches Münzcabinet des Prinzen Alexander von Hessen (Darmstadt 1877), ist 1974, ebenfalls in Darmstadt, ein Nachdruck erschienen.