Eltern und Geschwister – Erziehung – Heulsuse Sascha – Wassilij A.Schukowskij – Hauptmann Merder – Olga Kalinowska – Russland-Reise – Europa-Reise – Brautschau – Begegnung in Darmstadt – London – Queen Victoria – Widerstand der Kaiserin – Verlobung in Darmstadt
1818–1839
Anders als Marie war Alexander in einer intakten Familie aufgewachsen. Die Heirat seiner Eltern im Juli 1817 war eine Liebesheirat gewesen, und als Alexander am 29. April 1818 im Moskauer Kreml geboren wurde, war ihr Glück vollkommen. Nikolaus I. vergötterte seine Frau Alexandra, die eine der schönsten Frauen ihrer Zeit war. Auch nach zwanzig Ehejahren trug der Kaiser seine Frau, die er zärtlich „Muffi“ nannte, immer noch auf Händen und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Sie hatte nach Alexander noch die Töchter Maria (1819), Olga (1822) und Alexandra (1825) sowie die Söhne Konstantin (1827), Nikolaus (1831) und Michael (1832) zur Welt gebracht, aber auch mehrere Fehlgeburten erlitten. Und so war sie schnell gealtert, kränkelte viel und war ständig in ärztlicher Behandlung. Obwohl sie in St. Petersburg heimisch geworden war, hatte sie Zeit ihres Lebens Heimweh nach Berlin.
Alexander Nikolajewitsch, der in der Familie Sascha gerufen wurde, war nach seiner Mutter geraten. Er hing sehr an ihr, und da sie engste Beziehungen zu ihren Verwandten unterhielt, entwickelte auch Alexander eine Vorliebe für Preußen. Ganz besonders hing er an seinem Onkel Wilhelm, dem späteren ersten deutschen Kaiser, der als junger Mann ein gern gesehener Gast in St. Petersburg war. Seinerseits reiste Nikolaus I. gern nach Berlin, ging ohne Begleitung in der Stadt spazieren und unterhielt sich mit den Berlinern. Seit 1836 war er Ehrenbürger der preußischen Hauptstadt, und Friedrich Wilhelm III., seinen Schwiegervater, liebte er wie einen Vater. Der König hatte seinem ersten russischen Enkel schon 1829 das in Fürstenwalde stationierte Dritte Preußische Ulanen-Regiment verliehen, das nach ihm benannt wurde und dessen Uniform Alexander anzulegen pflegte, wenn er nach Berlin kam.
Der Großfürst-Thronfolger hatte eine vielseitige Erziehung unter Leitung des bedeutenden romantischen Dichters Wassilij A. Schukowskij erhalten, der auch als Übersetzer aus dem Deutschen und Englischen bekannt geworden war und aus Sascha vor allem einen guten Menschen machen wollte. Schukowskij suchte die Fachlehrer aus und führte die Oberaufsicht. Er fand Sascha wissbegierig, aber auch träge. Zu seinem Leidwesen konnte er ihn für Literatur und Kunst nicht so begeistern, wie er es sich vorgenommen hatte. Wie bei den Romanows üblich, wurde der Thronfolger vor allem zum Soldaten erzogen, und wie alle Romanows liebte auch Alexander das Militär über alles. Für die militärische Erziehung war Hauptmann Karl K. Merder zuständig, ein Petersburger Deutscher, den der kleine Sascha nicht weniger liebte als Schukowskij. Er war ein sensibler Junge, weich, sentimental und träumerisch, ein Junge, der viel weinte, vor allem wenn seine Mutter wieder einmal verreiste. Russische Historiker nennen ihn denn auch einen „plaksa“, was so viel wie „Heulsuse“ bedeutet. Aber auch Nikolaus konnte öffentlich Tränen vergießen. Überhaupt waren Tränen in jener Zeit keine Schande, man weinte viel in der Romantik, und man weinte auch aus geringem Anlass. Sascha war gutmütig und bescheiden, galt aber auch als willensschwach und wankelmütig. Ein Mann schneller Entschlüsse war er jedenfalls nicht, und manchmal schlug das Erbe seines Großvaters durch. Wie Paul I., der im März 1801 einem Mordanschlag adliger Offiziere zum Opfer gefallen war, brauste er leicht auf und verlor schnell die Selbstbeherrschung. Viele meinten, sein jüngerer Bruder Konstantin wäre der geeignetere Thronfolger gewesen, und Konstantin Nikolajewitsch selbst fand das wohl auch. Eine Rivalität zwischen den beiden, die besonders von Alexander empfunden wurde, blieb ihr Leben lang bestehen. Doch Konstantin, der schon als Kind von seinem Vater zum General-Admiral der russischen Flotte ernannt worden war, wurde ein loyaler Mitarbeiter seines Bruders und sollte sich um die Reformen der 1860er Jahre verdient machen.
Kurzum, Alexander Nikolajewitsch, der Großfürst-Thronfolger, der im März 1838 so überraschend in Darmstadt auftauchte, war nicht nur ein außerordentlich gut aussehender junger Mann mit ausgezeichneten Manieren, sondern auch ein gebildeter Mann, der außer Deutsch fließend Französisch, Englisch und Polnisch sprach und sich in den Staatswissenschaften auskannte. Seit 1838 zog sein Vater ihn zu den Regierungsgeschäften hinzu. Er war der erste (und einzige) Romanow, der einigermaßen auf sein schweres Amt vorbereitet wurde. Zum Herrschen erzogen, aber unsicher, zögerlich und leicht zu beeinflussen, schien Alexander das Gegenteil seines Vaters zu sein.
Seit frühester Jugend hatte er sich in Hofdamen seiner Mutter verliebt und schnell den Ruf eines Don Juan erworben. Eigentlich war er ständig verliebt oder „entliebt“, und das sah man ihm jeweils an. Um 1837 verliebte er sich so ernsthaft in Olga Kalinowska, eine polnische Hofdame seiner Mutter, die seine Liebe erwiderte, dass die besorgten Eltern ihn auf eine große Russland-Reise schickten. Eine katholische Polin an der Seite des Thronfolgers war natürlich unvorstellbar! So kam es, dass Alexander Nikolajewitsch einer der wenigen Romanows war, die ihre Petersburger Paläste verließen und ihr Land wenigstens oberflächlich kennenlernten. Er war auch der erste Romanow, der seinen Fuß auf sibirischen Boden setzte. Der Russland-Reise sollte eine Europa-Reise folgen, die jedoch nicht nur als Abschluss seiner Ausbildung gedacht war, sondern auch der Brautschau an den kleinen deutschen Höfen dienen sollte. Außerdem hatten die Ärzte Alexander geraten, sich in Ems einer Kur zu unterziehen, da er seit der Russlandreise an Brustschmerzen und Hustenanfällen litt, die auf eine Bronchitis hindeuteten.
Die Reise war auf ein Jahr angelegt und sollte in Preußen beginnen. Von Berlin aus sollte Sascha mit Ausnahme Frankreichs und der Länder der Iberischen Halbinsel alle westeuropäischen Länder besuchen, in England sogar mehrere Monate verbringen, um dort wie einst sein Vater die politischen Institutionen zu studieren. Die Reiseroute war im Detail von Nikolaus I. festgelegt worden und musste befolgt werden. Begleitet wurde der Thronfolger wieder – wie schon auf der Russland-Reise – von seinem Erzieher und Mentor, dem Dichter und Deutschland-Kenner Wassilij A. Schukowskij, der schon seiner Großmutter Maria Fjodorowna als Vorleser und seiner Mutter als Russischlehrer gedient hatte. Er war der kaiserlichen Familie, besonders aber der Kaiserin, seit mehr als zwanzig Jahren aufs Engste verbunden, ohne Höfling geworden zu sein. Den Verlauf der Reise hat Schukowskij in seinem Tagebuch dokumentiert, so dass wir noch heute nachvollziehen können, wo die illustren Reisenden Halt gemacht, wen sie getroffen und was sie besichtigt haben.
In den ersten Junitagen des Jahres 1838 verließen die Russen die preußische Hauptstadt, nachdem Sascha zusammen mit dem König auch das Grab seiner Großmutter Luise in Charlottenburg besucht hatte, und gingen in Stettin an Bord der „Herkules“, die sie unter der Flagge des Thronfolgers nach Stockholm brachte. Zwei Wochen später ging es über Kopenhagen zurück nach Deutschland und von Travemünde über Lüneburg, Hannover, Kassel und Frankfurt zum ersten Mal nach Ems (Ankunft 7. August), wo Sascha seine Bronchitis vier Wochen lang behandeln ließ, während Schukowskij an seinem Bett saß. Eigentlich sollte er schon von Ems aus nach England reisen, aber die Ärzte verlangten, dass er den Winter im wärmeren Klima Italiens verbrachte.1 Nikolaus I. stimmte widerwillig zu, und so ging die Reise Anfang September über Weimar, Nürnberg, Regensburg, München, Innsbruck und Bozen nach Oberitalien. Von Rom waren alle entzückt, und da mag Alexander an den Aufenthalt seiner Großeltern väterlicherseits in der Ewigen Stadt vor fast sechzig Jahren gedacht haben und an die beiden Porträts in Pawlowsk, die Paul I. und seine Frau Maria Fjodorowna als glückliche junge Leute zeigen.2 Er fühlte sich nun wieder vollkommen gesund und reiste weiter nach Neapel, während Schukowskij sich ausruhen musste. Anfang 1839 machte sich die Gruppe auf den Rückweg und reiste über Wien, wo man fast zwei Wochen verbrachte, nach München und Stuttgart.
Schon von Stuttgart aus wäre Alexander am liebsten direkt weiter in die Niederlande zu seiner Tante Anna Pawlowna, der Erbprinzessin, und dann weiter nach London gereist. Doch in Karlsruhe musste ein zweitägiger Halt eingelegt werden, weil die Prinzessin Alexandrine von Baden als Braut in Frage kam und begutachtet werden musste. Aber sie gefiel ihm nicht. „Sie saß an der Tafel neben ihm“, schreibt Olga Nikolajewna, „man gab ihm Gelegenheit, sie lange und ungestört zu sprechen. Was aber sprach sie? Über Goethe und Schiller, bis Sascha entmutigt das Gespräch aufgab. Es gab eine gegenseitige Enttäuschung, und Sascha reiste ab.“3 Alle waren erschöpft, wie aus einem Brief Schukowskijs an die Kaiserin hervorgeht: „Unsere Reise verläuft im allgemeinen ganz gut“, schreibt er ihr am Tag vor der Abreise aus Karlsruhe. „Das heißt, dass die Gesundheit des Großfürsten ständig gut ist, dass die Straßen ungeachtet der Jahreszeit leidlich sind und uns erlauben, die Reiseroute streng einzuhalten, so dass die Equipagen nicht brechen und dass die darin Sitzenden heil und ganz sind. Aber über die Hauptsache, also über die Reise, gibt’s nichts zu erzählen; wir reisen nicht, sondern galoppieren, weil in dieser Jahreszeit nichts anderes zu tun ist; wir halten nur an, um zu übernachten, auf nichts anderes schauen wir, weil wir auf nichts anderes schauen möchten: vor Kälte oder vor Schnee und Regen; außerdem bleiben in den Städten nur wenige Stunden, um sie zu besichtigen, stattdessen werden wir erstickt von Vorstellungen und Bällen, mit einem Wort, von all dem, was man auch in Petersburg hätte sehen können, ohne die Stadt zu verlassen; die Besichtigungen enden so schnell, dass sie weder Befriedigung noch Nutzen bringen; wir haben keine Zeit, uns zu besinnen und uns ein wenig frei zu fühlen. Wir haben den Frühling hinter den Alpen gelassen und galoppieren vor ihm besinnungslos davon nach Norden. Er wird uns bis Den Haag nicht einholen, und dort werden wir ihn in den niederländischen Nebeln ertränken. Gebe Gott, dass er sich nicht mit Fieber rächt […] Morgen um 8 Uhr fahren wir aus Karlsruhe ab, und in einer Woche werden wir im Haag sein.“4 Aus dem Brief geht hervor, dass Schukowskij am 24. März noch nichts von einem Abstecher nach Darmstadt wusste. Die Entscheidung, doch einen kurzen Halt in der Stadt einzulegen, ist also kurzfristig gefallen, entweder noch in Karlsruhe, ohne dass Schukowskij sofort davon erfuhr, oder im Laufe des 25. März. Sicher ist aber, dass Alexander Darmstadt gern gemieden hätte, weil er einen langweiligen „Etikettenabend“beim Großherzog fürchtete.Doch seine Begleiter überzeugten ihn davon, dass das eine Kränkung für Ludwig II.gewesen wäre. Außerdem war vom Frankfurter Botschaftsrat Iwan I. Markelow, der Darmstadt gut kannte, überraschend der Hinweis gekommen, „dass sich an diesem Hof eine junge Prinzessin befinde, die es in jeder Hinsicht wert sei, die Aufmerksamkeit des erlauchten Reisenden auf sich zu lenken“.5 Daraufhin willigte Alexander doch in einen Kurzbesuch ein, lehnte einen offiziellen Empfang im Schloss jedoch ab und wollte dort auch nicht übernachten. Also fuhr Geheimrat Markelow voraus, um ein Privatquartier zu suchen, und reservierte für eine Nacht das Hotel Traube am Luisenplatz, wo die Reisegesellschaft am 25. März gegen 18 Uhr eintraf. Bereits Minuten später erschienen Ludwig II., sein Bruder Emil und seine Söhne Ludwig und Karl dort, um den Großfürsten-Thronfolger zu begrüßen und ihn in die Oper einzuladen. Alexander konnte die Einladung nicht ablehnen und begab sich mit ein paar Angehörigen seiner Suite ins Hoftheater, während Schukowskij es vorzog, früh zu Bett zu gehen. Tags darauf raufte er sich nach eigener Aussage die Haare, weil er den wichtigsten Augenblick der ganzen Reise, nämlich die erste Begegnung Alexanders und Maries in der Großherzoglichen Loge, verpasst hatte. Die schüchterne kleine Prinzessin hatte seinen Zögling durch ihre bescheidene Zurückhaltung vom ersten Augenblick an für sich eingenommen.
Nach der Oper fand im Schloss ein opulentes Essen „mit Musik“ statt. „Man sprach viel, man lachte viel, und nach dem Essen ging man einige innere Gemächer des Schlosses besichtigen, in denen, wie es hieß, hin und wieder ein Gespenst in Gestalt einer weißen Dame erschien“, notiert Geheimrat Markelow, der dabei war.6 Der Großfürst und seine Begleiter kehrten spät ins Hotel zurück, und statt am nächsten Morgen abzureisen, wohnte Alexander einer Parade bei und frühstückte beim Erbprinzen. Er hatte sich entschieden.
„Mir scheint, dass Gott das Seine getan hat, und alle Seelen beten für das künftige Glück unseres Engels“, schreibt Schukowskij am Abend an die Kaiserin. „Das Ziel unserer Reise ist erreicht, und vor mir lächelt alles. Ich nehme dieses klare Gefühl der Seele als Vorgefühl, als Versicherung, dass das geschehen ist, was geschehen musste.“7 Das Herz des Dichters war übervoll, er liebte seinen kaiserlichen Zögling. Im Überschwang seiner Gefühle war er sogar bereit, eine ernste Erkrankung vorzutäuschen, um Alexander zu ermöglichen, sozusagen ihm, seinem Erzieher, zuliebe, weitere drei Tage in Darmstadt zu bleiben. Aber das lehnte der „Engel“ ab, er wollte erst einmal das Einverständnis seiner Eltern einholen, bevor er seinen Gefühlen folgte.
Also schickte er Geheimrat Markelow noch am Abend mit einem Brief an den Kaiser nach St. Petersburg, den er dem Herrscher persönlich aushändigen sollte. Außerdem sollte er ihm bei der Gelegenheit alles mitteilen, „was ihm persönlich über die Prinzessin Marie bekannt sei“. Damit waren mit Sicherheit die Gerüchte über Maries Herkunft gemeint, die allgemein bekannt waren und dem Kaiser sicher auch von anderer Seite zugetragen wurden. Markelow brauchte neun Tage und traf an Mariä Verkündigung 1839 in der russischen Hauptstadt ein. „Der heutige Tag ist vielleicht entscheidend für mein Leben. In Darmstadt habe ich Prinzessin Marie, die Tochter des regierenden Großherzogs, kennengelernt“, teilt Alexander dem Vater mit. „Sie wird am 27. Juli (8. August n.St.) 15 Jahre alt. Schlank, gewandt und lieb, unter allen Prinzessinnen habe ich keine bessere gesehen. Dabei hat sie, sagt man, einen guten Charakter, sie ist klug und gut erzogen. Zwei Jahre kann man warten.“8 Nikolaus freute sich über die gute Nachricht, sah in der Tatsache, dass sie ihm an Mariä Verkündigung überbracht worden war, ein gutes Zeichen und fragte Markelow nach Alter, Gestalt, Erziehung und Charakter der Prinzessin. Gegen einen neuerlichen Halt und längeren Aufenthalt seines Sohnes in Darmstadt hatte er nichts einzuwenden und gab sein Einverständnis postwendend. „Wir sind bereit, uns auf Deine Wahl zu verlassen, wenn Ihr Euch auch bei reiflicher Überlegung lieben werdet.“ 9
Auch Graf Orlow, der offizielle Reisebegleiter des Thronfolgers, machte dem Kaiser Meldung. „Wer hätte ahnen können, dass in Darmstadt, das der Großfürst meiden wollte und das auch ich aus Trägheit und der deutschen Prinzen und Prinzessinnen überdrüssig meiden wollte, dass gerade dort eine Prinzessin lebt, die den Großfürsten vom ersten Augenblick an bezaubert hat. Ich hatte nur aus dem Gefühl des Anstands darauf bestanden, dort einen Halt einzulegen. […] Sie hat eine ausgezeichnete Figur und tadellose Manieren; ihr Gesicht ist ziemlich hübsch, anziehend und sehr gescheit; sie ist hervorragend erzogen, redet klug und geistreich. […] Sie hinterließ bei ihm einen starken und tiefen Eindruck, denn er ist seitdem außer sich vor Freude und behauptet fest, dass sie voll und ganz zu ihm passe und der gesamten Familie gefallen wird. Ich habe ihn nicht im geringsten beeinflusst und lediglich geäußert, dass eine Ehe mit der Nichte der Kaiserin Elisabeth Alexejewna und der Königin von Bayern sowie der Cousine der künftigen Königin von Preußen und vieler anderer Prinzessinnen meiner Meinung nach völlig akzeptabel sei. […] Die junge Prinzessin wird erst im September konfirmiert, und ich habe keinerlei Zweifel, dass ihre Verwandten mit allen Bedingungen einverstanden sein werden, die Ihr für erforderlich haltet. Sie ist hervorragend erzogen, ihre Unterhaltung ist klug und geistreich. Mit einem Wort, alles, was ich über sie erfahren konnte, spricht für sie.“10
Doch es gab ein Problem, das Olga Nikolajewna wie folgt formuliert: „Niemand hatte bisher etwas von dieser Prinzessin gehört, da sie ziemlich abgeschlossen mit ihrem Bruder Alexander aufwuchs, indes die älteren Brüder längst verheiratet waren. Erkundigungen wurden eingezogen.“11 Die Erkundigungen betrafen Maries zweifelhafte Herkunft, über die ganz Europa klatschte. Sie wurden eingeholt, während sich Alexander in den Niederlanden aufhielt.
Das Ergebnis warf zunächst einen Schatten auf das freudige Ereignis. Doch Nikolaus I. machte sich nichts aus den Gerüchten. „Steht sie im Gotha?“, fragte er kurz und bündig, wie es seine Art war. Sie stand, also war aus seiner Sicht alles in Ordnung. Davon hätte er sich in der Bibliothek seiner Frau im Cottage in Peterhof, wo Alexandra die Almanache des Gotha der letzten Jahre gesammelt hatte, auch selbst schnell überzeugen können. „Die Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit ihrer Herkunft sind berechtigter, als Du annimmst“, schreibt er dem Grafen Orlow. „Es ist ja bekannt, dass man sie deshalb bei Hofe und in der Familie kaum duldet, aber sie ist offiziell als Tochter ihres Vaters anerkannt und trägt seinen Namen, folglich kann niemand etwas in diesem Sinn gegen sie sagen.“12 Dass Maries Vater ein konstitutioneller Monarch war, scheint den russischen Selbstherrscher nicht gestört zu haben.
Hingegen hatte Alexandra Fjodorowna Bedenken, schließlich war sie eine Hohenzollern, eine Tochter des Königs von Preußen! Doch Nikolaus war sehr wohl bewusst, dass die Romanows auch keinen lupenreinen Stammbaum hatten. Schließlich war Katharina I. eine litauisch-lettische Magd, bevor sie die Geliebte, dann die Frau Peters des Großen und schließlich Kaiserin wurde. Und natürlich wusste Nikolaus auch, dass Paul I., sein Vater, möglicherweise nicht der Sohn Peters III., sondern der Sohn eines Geliebten seiner Großmutter Katharina II. war, die er verachtete. Überdies waren sie ja auch schon lange keine echten Romanows mehr. Denn seit Peter III., der zwar ein Enkel Peters des Großen war, aber als Herzog Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf geboren wurde und 1762 nur ein paar Monate regierte, bevor seine Frau Katharina ihn entthronte, waren sie eigentlich Holstein-Gottorps, zogen aber den russischen Namen „Romanow“ vor.
„Liebe Mama, was gehen mich die Geheimnisse der Prinzessin Marie an“, schreibt Alexander im Mai seiner Mutter. „Ich liebe sie, und ich verzichte eher auf den Thron als auf sie. Ich werde nur sie heiraten, das ist mein Entschluss.“13 Bedenken bestanden offenbar auch hinsichtlich Maries Gesundheit, immerhin war ihre Mutter an einer Lungenkrankheit, möglicherweise an Schwindsucht gestorben, und es gab keine Garantie, dass Marie die Veranlagung dazu nicht geerbt hatte. Letztlich war nicht vergessen, dass die Familie Hessen dem russischen Hof einst die Behinderung Wilhelmines verschwiegen hatte.
Alexandra gab nach, und auch sonst verstummte das Gerede über Maries Herkunft bei Hofe umgehend. „Du schreibst, dass, wenn die Sache glatt geht, ich mich erklären kann. Ich zweifle nicht, dass der Vater Marie erlaubt, früher zu uns zu kommen, um sich einzugewöhnen, die Sprache zu lernen und sich darauf vorzubereiten, unseren Glauben anzunehmen“, schreibt Alexander aus Den Haag an den Vater.14 Seinen 21. Geburtstag verbrachte er in Den Haag, wo er wohl miterlebte, dass es um die Ehe seiner Tante Anna Pawlowna, der Erbprinzessin, nicht zum Besten stand.
Aber Nikolaus Pawlowitsch war zufrieden, dass sein Sohn nichts übereilen wollte. „Alle Ihre Details über die Freude meines Sohnes, unser Einverständnis für Darmstadt erlangt zu haben, haben mir ein wahres Vergnügen bereitet“, schreibt der Kaiser dem Grafen Orlow. „Er beurteilt die Dinge sehr nüchtern, aber ich sehe in allem, dass er sehr mit der Sache beschäftigt ist, und das freut mich. Ich bestehe aber darauf, dass Sie nach Ihrer Rückkehr nach Rumpenheim gehen, wenn man dort ist. Mein Sohn versteht den Nutzen, denn was er im Haushalt von Den Haag gesehen hat, ist geeignet, ihn vorsichtig zu machen […]. Man entscheidet nicht im Flug über das Glück des Lebens, und ich werde sagen: fast eines Reiches. Möge der Himmel machen, dass in London alles gut geht.“ 15
In London, wo die Reisenden am 3. Mai ankamen und im Hotel Mivards abstiegen, ging alles gut, sogar sehr gut. Am Tag nach der Ankunft machte Alexander der Königin Victoria im Buckingham Palace seinen Antrittsbesuch. Der Aufenthalt, angefüllt mit Hofbällen, Opern- und Konzertbesuchen, Empfängen, Besichtigungen, Paraden und Ausflügen, dauerte fast einen Monat, und die Engländer waren begeistert von ihrem hohen Gast, der Oxford als Dr. iur. h.c. verließ. Vor allem die jungen Engländerinnen waren hingerissen von dem schönen jungen Mann, und das gefiel seinem Vater im fernen St. Petersburg ganz außerordentlich. „Die Erfolge bei den Frauen machen mir Vergnügen“, lässt Nikolaus den Grafen Orlow wissen. „Sie hätten mir Angst gemacht, wenn die enorme Welt schöner Frauen nicht ein Linderungsmittel wäre und Darmstadt in Aussicht. Beim Warten ist man in Darmstadt ernsthaft an einer Lungenentzündung erkrankt, und man erholt sich noch.“16 Doch während Marie sich erholte, folgte Alexander nicht nur seinem Besuchsprogramm, sondern verliebte sich in die Gastgeberin, diese „kleine Königin, die trotz ihrer Jugend ihren eigenen Willen hat“. Die 19-jährige Victoria, die ihren ersten Vornamen Alexandrina zu Ehren des russischen Kaisers Alexander I. erhalten hatte, war noch ledig, und glaubt man ihren Tagebucheintragungen, beruhte die Zuneigung auf Gegenseitigkeit.
Auf einem Ball am 10. Mai tanzte sie gleich zweimal mit ihm. „Sie tanzt sehr nett. Auf ihren Wunsch hin haben wir eine kleine Mazurka hingelegt“, teilt Alexander dem Vater mit. Sie beendeten den Ball mit einer Quadrille. „Ich verließ den Ballsaal um ¼ nach 3 Uhr, in einer sehr zufriedenen und glücklichen Stimmung“, notiert die Königin.17 „Ich bin wirklich ganz verliebt in den Großfürsten, er ist ein lieber, reizender junger Mann“, trägt sie zwei Wochen später in ihr Tagebuch ein.18 Und: „Der Großfürst sprach von seinem schönen Empfang hier und sagte, er würde es nie vergessen. ‚Ce ne sont pas seulement des paroles, je vous assure, Madame’,A1 sagte er, aber es war der Ausdruck seines Gefühls, er würde diese Tage hier niemals vergessen. Ich bin sicher, ich werde es auch nicht, denn ich liebe diesen liebenswürdigen, jungen Mann, der ein so reizendes Lächeln hat, wirklich.“19 An eine russisch-englische Ehe auf höchster Ebene war natürlich nicht zu denken, und als die Lage kritisch wurde, weil die beiden sich immer näher kamen, ließ Nikolaus die England-Reise vorzeitig abbrechen. Er kannte seinen Sohn, wusste, wie schnell er sich immer verliebte, und so musste Alexander London früher verlassen als geplant. „Nach dem letzten Walzer, der 20 Min. vor 3 vorüber war, nahm ich mit wirklichem Bedauern von allen Herren des Großfürsten Abschied, da ich sie alle gern habe […]. Der Großfürst nahm meine Hand und drückte sie herzlich; er sah blass aus, und seine Stimme zitterte, als er sagte: ‚Les paroles me manquent pour vous exprimer tout ce que je sens‘;A2 und er erwähnte, dass er tiefe Dankbarkeit für alle Freundlichkeit fühlte, mit der man ihm begegnet wäre, dass er wiederzukommen hoffte und zuversichtlich erwartete, dass alles dies nur dazu beitragen würde, die Bande der Freundschaft zwischen Russland und England zu festigen. Er drückte mir dann die Hand und küsste sie, und ich küsste ihn auf die Wange, worauf er meine Wange in einer sehr warmen, liebevollen Art und Weise küsste und wir uns wieder herzlich die Hände schüttelten. Ich hatte wirklich eher das Gefühl, von einem Verwandten Abschied zu nehmen als von einem Fremden; ich war so betrübt, diesem netten, liebenswürdigen jungen Manne Lebewohl zu sagen, denn ich glaube wirklich (im Scherz gesprochen), ich war etwas verliebt in ihn und auf jeden Fall ihm sehr zugetan. Er ist so freimütig, so jung und wirklich lustig, hat einen so netten, offenen Ausdruck und ein so liebenswürdiges Lächeln, und seine Figur und ganze Erscheinung ist von so schöner Männlichkeit.“20 Victoria war wirklich traurig, weil sie nun wieder nur von lauter alten Leuten und selten von jungen Menschen ihres Ranges umgeben sein würde, während sich Nikolaus I. in Petersburg immer noch für die „Londoner Schönheiten“ interessierte. Ob sie „Darmstadt nicht geschadet hätten“, will er von seinem Sohn wissen. „Das ist ein guter Test. Ich hoffe, Du hast durchgehalten“, schreibt er ihm.21 Am 4. Juni 1839 kam Alexander wieder in Ems an. Hier hatte gerade ein französischer Schriftsteller Halt gemacht, der auf dem Weg nach St. Petersburg war. Es war der Marquis de Custine, ein Legitimist, der nach Russland reiste, „um Argumente gegen die repräsentative Regierung zu suchen“, und als „Anhänger der Constitutionen“ zurückkommen sollte. Sein Buch „Russland im Jahre 1839“ wurde ein europäischer Bestseller. Aber soweit war es noch nicht. Einstweilen beobachtete der Marquis die Ankunft des Großfürsten-Thronfolgers „mit zehn oder zwölf Wagen und einem zahlreichen Gefolge“. Er fand den hochgewachsenen jungen Mann „etwas zu dick“, sein Gesicht „zu voll“, sah darin aber auch „eine milde und wohlwollende Gemüthsstimmung“. Der junge Prinz schien „die Güte selbst“, sein Gang und seine Haltung waren „anmuthig, leicht und edel“. Kurzum, er war „wahrhaft ein Prinz“.22Tags darauf betrachtete der Franzose den Großfürsten noch etwas genauer: „Das Gesicht des Prinzen hat trotz seiner Jugend nicht eben so Gefälliges als sein Wuchs; die Farbe ist nicht mehr frisch; man sieht es ihm an, dass er sich unwohl fühlt; das Augenlid senkt sich über den äußeren Augenwinkel mit einer Melancholie herab, welche bereits die Sorgen eines höheren Alters verräth; sein anmuthiger Mund ist nicht ohne Sanftmuth; sein griechisches Profil erinnert an die antiken Münzen oder an die Porträts der Kaiserin Katharina; aber durch dieses gutmüthige Aussehen hindurch […] bemerkt man hier eine Kraft der Verstellung, die an einem so jungen Manne erschreckt. Dieser Zug ist ohne Zweifel der Stempel des Geschickes; er leitet mich zu dem Glauben, dass der Prinz berufen sei, den Thron zu besteigen. Seine Stimme hat einen melodischen Klang – eine Seltenheit in seiner Familie […]. Er glänzt unter den jungen Leuten seiner Gesellschaft, ohne dass man weiß, worin der Unterschied liegt, den man unter ihnen bemerkt, wenn es nicht die vollendete Anmuth seiner Persönlichkeit ist. Die Anmuth verräth immer eine liebenswürdige Gemüthsstimmung; es liegt ja so viel Seele in dem Gange, so viel Ausdruck in der Gesichtsbildung und der Haltung eines Menschen! Der Großfürst ist zugleich imponirend und gefällig.“ Kurzum, Custine hielt Alexander Nikolajewitsch für „eines der schönsten Musterbilder eines Fürsten“, die er jemals gesehen hatte.23
Von Ems aus fuhr Alexander noch einmal nach Darmstadt, und da Schukowskij immer noch dabei war, können wir einen Blick in sein Tagebuch werfen und ihm entnehmen, dass er diesmal nicht in der „Traube“ abstieg, sondern im Schloss. „28. Mai (9. Juni). […] Ball in der Orangerie. Die Erbprinzessin, Prinzessin Elisabeth und Prinz Emil. Wittgenstein. Prinzessin Marie. Gewandtheit und Würde […]“, notiert der Dichter.24 Seinem Vater schreibt Sascha: „Da bin ich also in Darmstadt. Ich bin direkt in den Palast des Großherzogs gefahren. Zusammen begaben wir uns zur Prinzessin. Maria hat gerade erst angefangen, sich von der Krankheit zu erholen. In diesen zwei Monaten ist sie gewachsen und hat abgenommen […]. Mir hat sie genauso gut wie beim ersten Mal, wenn nicht besser gefallen.“25 Dem Grafen Orlow vertraut er nun an, dass sie diejenige sei, um deren Hand er den Kaiser bitten wolle.26 Nikolaus und Alexandra waren hochzufrieden.
Noch in Ems hatte Orlow einen weiteren Brief des Kaisers erhalten, aus dem hervorgeht, dass seine Berliner Verwandten die Heiratspläne Alexanders mit der Hessin nicht billigten. „[…] möge Gott meinen Sohn inspirieren und ihm die nötige Klarsicht gewähren, damit er sich erst dann entscheidet, wenn er die Gewissheit hat, sein zukünftiges Glück und das Glück des Reiches zu sichern. Derweil hört die infame Spielhölle in Berlin mit meinem Schwager Carl [Carl von Preußen, M.B.] an der Spitze nicht auf, die arme Marie zu diffamieren, en criant au scandale d’un marriage avec elle et à la mésalliance.A3 Das ist bedauernswert, und Sie verstehen vollkommen, dass wir dieses Geschwätz verachten, aber Sascha wird schlechte Augenblicke in Berlin haben, während er mit der größten Ruhe antworten, aber auch beweisen muss, dass niemand außer uns das Recht hat, seine Wahl zu billigen oder abzulehnen und noch weniger zu wagen, sich da einzumischen.“27 Wie immer die Preußen sich in der Heiratsangelegenheit verhalten haben, während der Woche, die Alexander noch in Darmstadt verbrachte, lernten er und Marie sich ein bisschen besser kennen, und Victoria war schnell wieder vergessen. Schließlich erklärte Alexander sich dem Großherzog und bat ihn, mit seiner Tochter zu sprechen. „Er hat sie gefragt: wenn ich mit der Zeit um ihre Hand bitte, wird sie einverstanden sein?“, teilt er seinem Vater mit. „Sie ist in Tränen ausgebrochen und hat ihr Einverständnis gegeben. Wegzufahren, ohne mich erklärt zu haben, wäre unmöglich gewesen. Ich fühle die ganze Bedeutung der moralischen Verpflichtung, die ich eingegangen bin.“28 Von einem Verlobungs- oder Hochzeitstermin war noch keine Rede, da Marie immer noch zu jung war. Aber eines Tages vertraute Sascha dem Grafen Orlow an, am liebsten würde er gar nicht herrschen, sondern es vorziehen, mit seiner Frau das höchste Glück auf Erden zu genießen, nämlich das Glück der Elternschaft. Einen ähnlichen Wunsch hatte auch Alexander I., sein berühmter Onkel, der „Befreier Europas“, einst seinem Erzieher anvertraut. Er hätte sich am liebsten mit Elisabeth am Rhein niedergelassen.
Schukowskij verließ Darmstadt am 16. Juni 1839, verbrachte noch ein paar Tage in Frankfurt und kehrte nach Russland zurück. Am Freitag, dem 5. Juli, kam er in Peterhof an und wurde von der kaiserlichen Familie herzlich begrüßt.
Inzwischen hatte sich auch Alexander auf den Heimweg gemacht, noch einmal seinen Großvater Friedrich Wilhelm III. in Berlin besucht und sich in Stettin an Bord eines Kriegsschiffes begeben, das ihn nach Kronstadt brachte. Eine Woche vor der Vermählung seiner Schwester Maria mit Maximilian de Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg, am 14. Juli traf er zu Hause ein. Am Tag nach der Vermählung schreibt Nikolaus I. seinem Schwiegervater Friedrich Wilhelm III., die Zukunft des Großfürsten-Thronfolgers sei gesichert. Der Großherzog von Hessen-Darmstadt [sic!] habe seine vorläufige Zustimmung zur Verlobung seiner Tochter und zu einem Besuch Alexanders im Sommer 1840 gegeben, „damit er sie besser kennenlernt“.29
Doch kaum war Alexander wieder zu Hause, flammte die Liebe zu Olga Kalinowska wieder auf. Die Familie war entsetzt. „Er äußerte mehrfach, dass er bereit sei, ihretwegen auf alles zu verzichten […]“, schreibt seine Schwester Olga. „Papa war von tiefstem Unwillen erfüllt über Saschas Schwäche. Im März hatte er die Absicht geäußert, die Prinzessin von Darmstadt zur Frau zu nehmen, nur um vier Monate später wieder mit ihr zu brechen? Es waren schlimme Tage.“30
Die schlimmen Tage endeten am 22. August mit einer erregten Auseinandersetzung zwischen Nikolaus und seinem Sohn, in deren Verlauf Sascha erklärt, dass er nicht von Olga lassen könne, dass er sie heiraten und das Verhältnis mit Hessen-Darmstadt wieder lösen wolle. Ratlos notiert die Kaiserin in ihrem Tagebuch: „[…] que deviendra un jour la Russie en ces mains d’un homme qui ne sait pas se vaincre lui-même, qui se laisse dominer par sa passion sans y résister le moins du monde.“A431
Alexandra konnte nicht ahnen, dass sich ihr Sohn ein Vierteljahrhundert später tatsächlich von seiner Leidenschaft überwältigen lassen und die Dynastie in eine ernste Krise stürzen würde. Am Ende musste Olga Kalinowska gehen. Polnische Verwandte nahmen sie auf, und bei Hofe sah man sie erst als verheiratete Gräfin Oginska wieder.
„Er bereute seine Verirrung und reiste im Frühling nach Deutschland“, schreibt seine Schwester.32 Die Abreise erfolgte am 17. März 1840. Schukowskij, der am Tag der Abreise zum Russischlehrer der Prinzessin Marie ernannt worden war, begleitete den Thronfolger wieder. Sie reisten über Warschau, Breslau, Berlin, Wittenberg, Weimar, Fulda und Frankfurt und kamen am 12. April in Darmstadt an. Es war Palmsonntag, und das Wetter war schön. Auf dem Platz vor dem Schloss wartete viel Volk, in den Sälen hatten sich die Höflinge versammelt. „Auf diese Weise stellte sich der Großfürst seiner Braut vor: staubbedeckt und nicht festlich gekleidet […]“, vermerkt Schukowskij in seinem Tagebuch.33 Aber das sei nicht weiter schlimm gewesen. „Um vier Uhr war ein Essen im Schloss“, notiert der Dichter weiter. „Ich sah bekannte Gesichter, aber die Namen waren alle aus dem Gedächtnis getilgt. […] Die Braut ist gewachsen und aufgeblüht. Sie konnte sich nicht entschließen, an einen von uns heranzutreten, und als sie an uns allen vorbeigehen musste, errötete sie wie eine Rose. Langes, ovales Köpfchen, große Augen […], die zur Seite schauen, geschmeidiger Hals, wunderbar geformte Schultern; schlanke Gestalt, leichter, luftiger, gewandter Gang. Weder Hände noch Füße gesehen. Kastanienbraune weiche Haare. Etwas verlegen, aber nicht linkisch; Schüchternheit, sehr passend in ihrer Lage. Nach dem Essen sagten wir einander ein paar Worte; ich bemerkte, dass sie frischer geworden und gewachsen war.“ Der Abend im Schloss war langweilig.34 Marie hatte sich wirklich gut entwickelt. Sie war nun fünfzehn Jahre alt, kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen.
Anderntags erschien Fürst Wittgenstein, der Generaladjutant des Großherzogs, bei Schukowskij, und wie sich aus der etwas sibyllinischen Eintragung vom 1./13. April ergibt, haben die beiden Herren noch einmal über Maries Herkunft gesprochen. „Morgens war Fürst Adolf Wittgenstein bei mir. Das Gespräch neigte sich endlich unserer Hauptsache zu. Ich sagte, und er stimmt mit mir überein, dass alles, was vom Herrscher abhängt, getan wurde, und dass jetzt niemandem außer dem Großfürsten und der Prinzessin etwas zu tun bliebe. Was das Herz des einen und der anderen sagt, muss geschehen. Die Hauptsache besteht darin, dass der eine und die andere glauben, dass sie zusammen glücklich werden und einer sich das vom anderen wünscht. Er stimmt zu, dass die Sache nicht als vollkommen abgeschlossen angesehen werden könne und man nicht fordern dürfe, sie unverzüglich zu ihren Gunsten abzuschließen, dass man das nur wünschen könne und man niemanden beschuldigen dürfe, wenn der Erfolg ausbleibt.“35
Die „Sache“ war tatsächlich noch nicht endgültig entschieden. Am 2./14. April sah Schukowskij, wie Alexander und Marie von einem Spaziergang zurückkehrten, und überlegt: „Ob die Sache klappt?“36 Am gleichen Tag fragte Graf Orlow, der Vertraute des Kaisers, der auch wieder mitgereist war, den Großfürsten direkt, ob sein Herz denn wirklich frei sei: „Betrügen Sie sich selbst und die anderen in dieser wichtigen Sache nicht. Hier ist Betrug ein leichtsinniges Vergehen.“37 Schukowskij schien aber, als sei der Großfürst nun „voll eines neuen lebendigen Gefühls“. Er kenne ja keine starken Leidenschaften, und dass Leidenschaften in ihm kämpften, brauche man nicht zu erwarten. „Er ist kaum zu starken Gefühlen fähig. Eine reine Seele wird eine Stütze seines Charakters oder seiner Charakterlosigkeit sein. Es ist nur wichtig, dass seine Frau Charakter hat, dass sie versteht, ihn zu erobern und ohne Zwang seine Herrschaft zu unterstützen. Über die Prinzessin Marie sagen alle einstimmig viel Gutes. Besonders lobt man ihre bescheidene Wohltätigkeit, die keine Geldverschwendung ohne Teilnahme ist, sondern Teilnahme, die auch kleine Arbeiten nicht scheut …“38
Am 16. April trägt Schukowskij in sein Tagebuch ein: „Heute ist der entscheidende Tag im Leben des Großfürsten und des Russischen Reiches. Möge mit ihm der höchste Segen sein. Um 11 Uhr kam der Großfürst mich abholen und erklärte mir, dass er sich entschlossen habe und in einer Stunde mit dem Großherzog sprechen werde. So geschah es.“39
Das Gespräch verlief positiv. „Nachdem ich um 8 Uhr aufgestanden war und aufrichtig zu Gott gebetet hatte“, trägt Sascha seinerseits an diesem Abend in sein Tagebuch ein, „entschloss ich mich zu dem wichtigsten Schritt meines Lebens. […] Um halb 12 ging ich in der Uniform des Preobraschensker Regiments (Maria war gerade aus der Kirche gekommen, während wir Frühmesse auf unseren Zimmern hielten) nach unten zum Großherzog, der mich überhaupt nicht erwartete (noch im Morgenrock). Nachdem ich ihm meine Absicht erklärt und ihm gesagt hatte, dass ich dazu die vorherige Zustimmung meiner Eltern habe, bat ich ihn um seinen Segen für den ewigen Bund mit Prinzessin Marie von Darmstadt. Er ließ sie sofort kommen und ging ihr entgegen. Er erteilte uns hier unten in seinen Räumen seinen Segen. Ich kann nicht sagen, was ich in dieser Minute fühlte, als ich zum ersten Mal meine Marie umarmte. Ich werde nie im Leben den engelhaften Ausdruck in ihren Augen in dieser für uns so wichtigen Minute vergessen.“40 Noch am selben Tag, Gründonnerstag 1840, wurde die Verlobung in Darmstadt bekannt gegeben, und eine Flut von Glückwünschen, Gedichten und Lobpreisungen ergoss sich über das junge Paar, das „Nordlicht“ und die „Rose“.
„Beim Großfürsten traf ich Prinz Emil und Alexander, den Bruder der Prinzessin; wir gratulierten einander und umarmten uns“, notiert Schukowskij. „Bei Tisch war mein Großfürst ziemlich kindisch und fröhlich; aber die Braut war nachdenklich und schaute manchmal auf mich. Er hat ihr bereits ein Geschenk gemacht, der Besuch bei der Kaiserin wurde festgelegt; ich würde damit nicht eilen; darin liegt etwas Taktloses, aber unsere Formalisten wollen das Befohlene ‚à la lettre‘ ausführen. Nach dem Essen gingen wir spazieren und fingen an zu frieren, obwohl die Sonne hell und klar schien. Ich kam mit einem Schnupfen nach Hause.“41 Freilich fand der Dichter das „hiesige“ Essen „tödlich schlecht“: „Pfeffer und Dreck“.42
Später erfuhren die Petersburger noch aus anderen Quellen, dass am Hofe des Großherzogs nicht gerade exquisit gespeist wurde. Dort wurde zweimal in der Woche ein Galaessen veranstaltet, zu dem unbedingt Stockfisch mit Kartoffeln, Rührei und Buttersoße serviert wurde. Bei Tisch bedienten Frauen, denn der Großherzog habe gesagt: „Die Männer brauche ich als Soldaten.“ Einmal habe der Großfürst den Großherzog zum russischen Essen eingeladen, aber Schtschi und Kascha hätten ihm nicht gefallen. Das eine wie das andere sei aber gut genug für seine Soldaten, habe er gemeint.43 Ein paar Tage später wurden die Petersburger durch 101 Schuss Salut aus der Peter-und-Paul-Festung von dem freudigen Ereignis, der Verlobung in Darmstadt, in Kenntnis gesetzt.44
Der Russisch-Unterricht begann am 6. Mai. „Heute Morgen um 9 Uhr rief mich der Großfürst zu sich und erklärte, dass die Prinzessin mich um 2 Uhr erwartet“, notiert Schukowskij. „Gleichzeitig sagte er, dass Prinz Alexander wünscht, bei dem Unterricht dabei zu sein und daran teilzunehmen. Das erschreckte mich: ich ging zu ihm und überarbeitete die Sache, obwohl es doppelte Arbeit sein wird. Um zwei Uhr zu meiner Schülerin. Netter Anfang. Der Großfürst half und störte. Die Stunde verging fröhlich. Das gleiche wie vor 22 Jahren mit der Kaiserin. Mit einem Wort, der Anfang ist gelungen. Die Sache wird klappen.“ Der Eintrag endet mit den Worten: „Sascha. Mascha. Die Jugend. Jetzt liegt eine neue Welt vor mir.“45 An den folgenden Tagen hält Schukowskij fest:
„25. April (7. Mai), Donnerstag. […] Zweite Stunde. Überblick über die philosophische Grammatik. Reizende Aufmerksamkeit. […]
26.(8.), Freitag. Vorstellung bei Hofe. Der gesamte Hof, Militärs, Minister, Abgeordnete, das Diplomatische Corps, die Prinzen des Hauses. Zuerst letztere, dann die russische Suite; dann die Militärs, die Damen und der Hof. Unsere Prinzessin benahm sich, wie es sich gehört, aber der Großfürst vermag nicht, sich zu verbeugen; sehr unangenehme, ärgerliche und kühle Zerstreutheit. Morgens Zimmermann, der Geistliche der Prinzessin, bei mir, gute Einzelheiten. […]
27.(9.), Samstag. […] Großes Festbankett im Schloss. Bei Tisch neben Fürst Wittgenstein. Abends bei mir zu Hause.
29.(10.), Montag. […] Vierte Stunde: Bildung der ersten Sätze. Große Schwierigkeiten bei der Aussprache. […]
30.(11.), Dienstag. Morgens bis zwei Uhr zu Hause. Fünfte Stunde für die Prinzessin. Wir übersetzten „Gott schütze den Zaren“ und lasen „Undine“. Essen im Schloss. […]
Mai
2.(14.), Donnerstag. Morgens zu Hause. Zimmermann eine Minute bei mir, dann zur Prinzessin. Sechste Stunde. Wir übersetzten „Tri putnika“.A5
3.(15.), Freitag. […] Siebente Stunde, Übersetzung der „Tri putnika“.
4.(16.), Samstag. Morgens gearbeitet. Unterricht wie gewöhnlich.
6.(18.), Montag. Unterricht wie gewöhnlich. Es wird kompliziert. Ob meine Prinzessin mit der Langweile fertig wird, weiß ich nicht. Dass unser nettes far niente sie bloß nicht vereinnahmt?
7.(19.), Dienstag. Morgens zu Hause. Verben diktiert. Zusammenstellung eines Systems der Verben. Unterricht. Bildung einfacher Sätze. Essen im Schloss. […]
8.(20.), Mittwoch. Unterricht, Satzbildung. Zerstreutheit. Gespräch über die Kaiserin Elisabeth. […]
9.(21.), Donnerstag. […] Zwölfte Stunde. Gespräch über die Kaiserin und den Großfürsten. Essen im Schloss. Ich neben Mlle Grancy […] Pastor Zimmermann bei mir. […] Schlimme Nachrichten vom preußischen König. […]
10.(22.), Freitag. Dreizehnte Unterrichtsstunde. Lektüre der wunderbaren Briefe des Kaisers und der Kaiserin an Prinzessin Marie. Im Theater die dumme Oper „Lumpaci Vagabundus“.
11.(23.), Samstag. […] Um 12 Uhr Großherzogin Stephanie von Baden mit Tochter. Unser alter Großherzog ist in letztere verliebt, erzählt man sich. […] Heute war kein Unterricht
13.(25.), Montag. Heute war kein Unterricht
14.(26.), Dienstag. Schlechte Stunde. Fahrt des Großfürsten nach Aschaffenburg. […]
15.(27.), Mittwoch. Ganz schlechte Stunde. […] Schlimme Nachrichten vom König. […] Essen im Schloss. „Norma“ hervorragend. Abschied.
16.(28.), Donnerstag. Morgens um 10 Uhr fuhr der Großfürst nach Biberach, die Prinzessin nach München, wohin Prinz Karl sie begleitet. Der Abschied war herzlich. Was erwartet den Großfürsten auf seinem Weg? Ich blieb bis 8 Uhr nach dem Essen in Darmstadt […] Um 10 Uhr war ich in Frankfurt und fand die Unsrigen, wie es sein muss, beim Kartenspiel. Beim Großfürsten der Herzog von Nassau.“46
Parallel zum Russisch-Unterricht sollte auch der Religionsunterricht beginnen, den Schukowskij seltsamerweise nicht erwähnt. Schon Anfang Mai war Gawriil T. Meglizkij, der Frankfurter Botschaftsgeistliche, in Darmstadt eingetroffen. Er sollte Marie in die Lehre der orthodoxen Kirche einführen. Vater Gawriil war ein kluger Mann. Bevor er Marie vorgestellt wurde, verlangte er den Hofprediger Karl Zimmermann zu sehen, Maries Religionslehrer, der „Aufzeichnungen über die Religion“ für sie verfasst hatte. Die beiden Geistlichen führten ein langes Gespräch, und Vater Gawriil sah die „Aufzeichnungen“ durch. So konnte er sich besser in die Gedankenwelt der Braut versetzen. Während die Vorstellung bei Marie auf sich warten ließ, wurde Vater Gawriil vom Bräutigam empfangen. „Diese engelhafte Sanftmut, dieses himmlische Lächeln, diese Aufmerksamkeit für jeden, der das Glück hat, dem Großfürsten vorgestellt zu werden, sind unerklärlich und nur dem erstgeborenen Sohn des Zaren eigen. Seine Hoheit geruhte, die Aufmerksamkeit auf Ihre Hoheit zu lenken und zu sagen, dass ich in ihr die unschuldigste Seele finde, bereit, alles Gute anzunehmen.“47 Erst nach einem orthodoxen Gottesdienst, an dem auch Marie bereits teilnahm, wurde er ihr endlich vorgestellt. Seine Worte über ihre hohe Bestimmung hätten sie „zu Tränen gerührt“, schreibt er.48 Mit dem Unterricht sollte er dann aber doch erst drei Wochen später in Ems beginnen, wo Kaiserin Alexandra erwartet wurde. Bereits in Darmstadt hatte Vater Gawriil den Eindruck gewonnen, dass es in Maries Fall nicht reichen würde, nur einen „leichten Blick auf die Religion zu werfen und sie nur in einigen wichtigen Zügen zu beschreiben“, und dass die junge Braut über „ungewöhnliche Qualitäten des Verstandes und des Herzens“ verfügte. Er war sicher, dass der Thronfolger keine bessere Wahl hätte treffen können.49
Alexander aber eilte nach Berlin, um an der Grundsteinlegung für das monumentale Reiterstandbild Friedrichs II. am 1. Juni 1840 Unter den Linden teilzunehmen und Friedrich Wilhelm III. zu besuchen, seinen Großvater, der ernsthaft erkrankt war. Als der alte König sich einmal besser fühlte, verlangte er seinen Enkel zu sehen, gratulierte ihm zur Verlobung und fügte seinem Glückwunsch hinzu: „Auch meine Mutter war aus Darmstadt.“50 Königin Friederike von Preußen, von Friedrich Wilhelm II., ihrem Mann, „das hessische Lieschen“ genannt, war auch eine Tochter der Großen Landgräfin und eine Schwester Ludewigs I., somit Maries Großtante.
A1 „Das sind nicht nur Worte, das versichere ich Ihnen, Madame.“
A2 „Mir fehlen die Worte, um Ihnen all das auszudrücken, was ich fühle.“
A3 indem sie wegen der Heirat mit ihr „Skandal“ und „Mesalliance“ schreien
A4 „… was wird eines Tages aus Russland in den Händen eines Mannes werden, der sich selbst nicht zu besiegen weiß, der sich von seiner Leidenschaft beherrschen lässt, ohne ihr auch nur im Geringsten zu widerstehen.“
A5 Drei Wanderer, Poem Schukowskijs (1820), d.h. freie Nachdichtung von Ludwig Uhlands Der Wirthin Töchterlein (1815)