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„Eine neue Familie, eine neue Heimat“

Großfürstin von Russland

Berlin – Tod Friedrich Wilhelms III. – Nikolaus I. in Frankfurt – Vorstellung Maries – Schukowskijs Tagebuch – Russisch-Unterricht in Darmstadt – Ems – Reise nach Russland – Fischbach – Warschau – Zarskoje Selo – Amalia Utermark – Einzug in St. Petersburg – Die Romanows – Firmung und orthodoxe Verlobung – Hochzeit – Moskau – Peterhof

1840/1841

Im Sommer 1840 wollte Kaiserin Alexandra endlich einen seit längerem geplanten Kuraufenthalt in Ems antreten. Als im Mai die Nachricht aus Berlin kam, dass der Gesundheitszustand ihres Vaters sich weiter verschlechtert hatte und er sich wohl nicht mehr erholen werde, beschleunigte sie ihre Abreise. Ihre Tochter Olga („Olly“) begleitete sie. Die beiden trafen am 3. Juni in Berlin ein, der Kaiser kam nach. Friedrich Wilhelm III. starb am 7. Juni 1840 im Kreise seiner Familie, Friedrich Wilhelm IV. folgte ihm auf den Thron.1 Eine Woche später reisten Nikolaus und Alexandra mit Sascha und Olly über Weimar, wo Nikolaus’ ältere Schwester Maria Pawlowna bemüht war, die große Tradition der Stadt als „Deutschlands literarischer Olymp“ (Olga) aufrechtzuerhalten, weiter nach Frankfurt am Main, wo sie im Hotel de Russie abstiegen.2 Dort sollte ihnen Marie vorgestellt werden, die mit Vater und Brüdern im Darmstädter Hof auf der Zeil wohnte.

Schukowskij war schon am 16. Juni in Frankfurt eingetroffen und privat in einer Dachkammer untergekommen. Die Russen erzählten einander vom Tod des Königs, ihres verehrten alten Verbündeten aus den Koalitionskriegen gegen Napoleon. „Langes Warten auf den Kaiser“, notiert Schukowskij. „Er kam kurz nach fünf zusammen mit der Kaiserin. Sofort zur Prinzessin. Sie dann zur Kaiserin zusammen mit den Ihrigen.“3 Die kaiserliche Familie war aufgeregt. „Das Herz klopfte uns in Erwartung auf die Familie Hessen“, schreibt Olga. „Wir wechselten unsere schwarzen Kleider mit weißen Trauergewändern nach russischem Brauch. Ich entsinne mich genau, und es ist mir unvergesslich, wie nach der ersten offiziellen Begrüßung und dem Austausch von Glückwünschen anlässlich der Verlobung Marie Darmstadt mich umarmte und als Schwester begrüßte, die sie mir blieb bis zum Tode.“4

Nikolaus war begeistert von der künftigen Schwiegertochter, die älter wirkte als fünfzehn, und „wurde nicht müde, sie anzusehen“. Er habe Saschas und Russlands Zukunft in ihr gesehen, schreibt Olga, und ihr versichert, in seinem Herzen seien sie „eines“.5 Auch Ludwig II., der Großherzogvater, wurde dem russischen Herrscherpaar vorstellt, doch Olga fand ihn „ziemlich unbedeutend“. Von seinen drei Söhnen erwähnt sie nur Alexander, „ein Jahr älter als Marie und unzertrennlich von ihr“, „dünn und schmächtig, mit kleinen, aber gescheiten Augen“.6 Schon in Frankfurt forderte Nikolaus den knapp Siebzehnjährigen auf, in seine Dienste zu treten, „um den Geschwistern das Glück des Zusammenseins auch für die Zukunft zu bewahren“.7 Alexander nahm an und wurde im Range eines Rittmeisters in das Eliteregiment der Chevaliers gardes aufgenommen, deren Chef die Kaiserin war. Es bestand nur aus Adligen. Marie dürfte erleichtert gewesen sein.

Dann ging es weiter nach Ems. „Man vertraute uns Marie für den Aufenthalt in Ems an“, schreibt Olga. „Wir schliefen im gleichen Zimmer. Noch heute sehe ich sie vor mir in ihrem Bett, die schönen Arme nackt, im Nachtkleid, das Hals und Schultern frei ließ, das reiche, braune Haar gelöst. ‚Gute Nacht, schlaf gut!‘, sagten wir uns zu verschiedenen Malen, und immer wieder begannen wir von neuem zu plaudern statt zu schlafen, so viel hatte sie zu fragen, so viel ich ihr zu berichten. Vom ersten Tag an war nichts als Neigung und Vertrauen zwischen uns. Auch für mich war sie ja ein besonderes Wesen als zukünftige Frau meines vielgeliebten Bruders; nun kam die sanfte, ja bezaubernde Gewissheit hinzu, dass sie über alles Erwarten hinaus lieb und reizend war.“8 Marie aber wusste nun schon, dass sie in Olga eine Freundin gefunden hatte, die ihr das Einleben in Russland erleichtern und immer zur Seite stehen würde.

Auch Schukowskij reiste weiter nach Ems, wo er am 19. Juni eintraf. Seinem Tagebuch können wir entnehmen, wie es weiter ging:

„7.(19.), Freitag. Ankunft um ½ 7. Spaziergang. […] Bei Mlle Grancy. […] Ausritt des Herrschers und der Herrscherin auf Eseln. […] Am Abend zu Hause. Brief an den Herrscher.

9.(21.), Sonntag. Morgens Brief beendet. Gegessen. Brief noch mal geschrieben. Zum Großfürsten. […] Zum Herrscher. Ritt auf Eseln nach Jägersdorf. Gespräch mit dem Herrscher. […] Abreise des Herrschers.

10.(22.), Montag. […] Am Abend bei der Kaiserin, Essen bei ihr im großen Saal. 100 Taler verloren.

11.(23.), Dienstag. Am Morgen Abreise der Prinzessin. Beim Herzog. Bei Olga Nikolajewna, Zeichnungen gezeigt. Bei der Kaiserin, Essen bei ihr. Abschied. […] Abreise nach Koblenz. […]

12.(24.), Mittwoch. Fahrt auf dem Rhein. Französischer Maler. Zeichnen. Nach Mainz. Blick auf den Gutenberg-Platz. Abreise. Statt nach Frankfurt nach Darmstadt. […]

13.(25.), Donnerstag. Ankunft des Großfürsten, Visiten bei den Prinzessinnen. Kein Unterricht. Gespräch mit dem Geistlichen. […]

14.(26.), Freitag. Morgens zu Hause. Unterricht. Übersetzung des „Vaterunsers“. Essen beim Großherzog. […]

15.(27.), Samstag. Heute ist der Großfürst nach Ems abgereist. […]. Speiste bei mir, nach dem Essen bei der Prinzessin. Langweilige und ärgerliche Stunde. Sie ist ein unterentwickeltes und etwas verwöhntes Kind. Schrecklich, sollte unsere Erziehung ihre dummen Eigenschaften verstärken und die guten lähmen. Der Nachmittag war ganz verdorben, aber der Abendspaziergang hat alles gerichtet.

17.(29.), Montag. Kein Unterricht. Verlor den Morgen zu Hause mit Plänen. Fahrt nach Seeheim, wo wir aßen. […] Nach dem Essen mit Grancy nach Jugenheim. Wunderschöner Ort und wunderschöner Spaziergang, aber seine Erzählung über die Großherzogin und ihr zurückgezogenes Landleben war seltsam zu hören.

18.(30.), Dienstag. Wieder einen Vormittag mit Plänen verloren. Ankunft des Großfürsten. Unterricht und angenehmes Gespräch mit aufrichtigem Herzausschütten. […]

19. Juni (1. Juli), Mittwoch. Morgens zu Hause mit der Abrechnung. Unterricht. Lektüre meiner Gedichte. Allein bei mir gegessen. […]“9

Am 2./14. Juli verließ Alexander abends um 23 Uhr Ems, um nach Russland zurückzukehren. Sein Vater erwartete ihn in Zarskoje Selo, um ihn zur großen Truppeninspektion und zu Manövern in den westlichen Gouvernements mitzunehmen. Von dort sollte er nach Fischbach in Schlesien reisen, um seine Mutter und seine Verlobte abzuholen und sie über Warschau nach St. Petersburg zu geleiten.

Schukowskij verließ Ems am 3. Juli und fuhr über Frankfurt wieder nach Darmstadt, wo er der Prinzessin weitere Russisch-Stunden gab, mit Pastor Zimmermann zusammentraf, beim Großherzog im Gartenhaus speiste und mehrfach mit Baron Grancy nach Jugenheim fuhr, wo er viel zeichnete. Er blieb noch bis Ende Oktober in Deutschland.

In den ersten Augusttagen machte sich auch die Kaiserin mit Olga und Marie auf den Heimweg nach St. Petersburg, wo der Kaiser den am 22. Juli von den Bevollmächtigen unterzeichneten HeiratsvertragA1 am 25. Juli, „im 15. Jahr unserer Herrschaft“, ratifiziert hatte.10 Sie reisten in kurzen Etappen mit dem Wagen bis Leipzig, nahmen dort die erst 1839 eröffnete erste deutsche Ferneisenbahn nach Dresden, wo Marie Verwandte hatte, und fuhren von dort aus weiter nach Fischbach im Riesengebirge, wo sie in der malerisch gelegenen Sommerresidenz des Prinzen Wilhelm von Preußen auf Sascha warten wollten.11 Wir können annehmen, dass Alexandra der zukünftigen Schwiegertochter während der langen Fahrt erzählt hat, wie sie ihre Rolle an der Seite des Kaisers verstand, nämlich vor allem als „liebende Ehefrau“, wie wir von ihrer Tochter Olga wissen: „Ihr Gatte war ihr Lenker und Beschützer, besaß ihr ganzes Vertrauen, und sie hatte nur einen Ehrgeiz, ihn glücklich zu machen.“12 Das kannte Marie von ihren Eltern nicht, aber das war ein Vorbild, dem sie nacheifern konnte.

Wir können auch annehmen, dass Alexandra der Sechzehnjährigen erzählt hat, wie sie selbst im Sommer 1817 durch Ostpreußen, das Memelland und die russischen Ostseeprovinzen Kurland, Livland und Estland nach St. Petersburg gereist war, wie Großfürst Nikolaus, ihr Bräutigam, ihr bis Memel entgegengekommen war und wie er mit ihr zusammen die Reichsgrenze bei Polangen (Palanga) überquert hatte.13 Und nun würde auch Sascha seine Marie über die Grenze geleiten. Vielleicht hat Alexandra ihrer zukünftigen Schwiegertochter auch vorgeschlagen, ihrem Vater noch einmal zu schreiben, so wie sie selbst damals ihrem Vater geschrieben hatte. „Mein lieber, mein teurer Vater“, schreibt Marie jedenfalls am 8. September aus Kalisz, wo im September 1835 die berühmte preußisch-russische Große Revue stattgefunden hatte, nach Darmstadt. „Das sind meine ersten Zeilen aus dem Land, das nun mein zweites Vaterland werden soll. (Dass es mir so teuer wie das erste werden wird, bezweifle ich und möchte ich auch nicht hoffen, denn mir scheint, dass wir immer dem Land, in dem wir geboren wurden, den Vorzug geben sollen.) Dennoch empfinde ich für Russland eine außerordentliche Zuneigung. An der Grenze begrüßten uns Kosaken; wir warteten ungefähr eine halbe Stunde auf Sascha; die Herrscherin wünschte nicht, dass ich die russische Grenze ohne ihn überschreite. Ich nutzte die Zeit, um noch einen letzten Blick auf mein liebes Deutschland zu werfen und mich nochmals an die freudigen und glücklichen Tage, die ich in ihm erlebt habe, zu erinnern. Ich habe allen Grund, an Gott zu denken.

Mein zweiter Blick fiel auf das russische Land, und ich dachte, dass nun der schwerste Teil meines Lebens beginnt, und bat Gott um seine gnädige Hilfe. […]“14

Wahrscheinlich war Marie nicht bewusst, dass sie noch gar nicht in Russland selbst angekommen war, sondern erst in Kongresspolen, dem russischen Teil des dreigeteilten Landes, der seit dem Wiener Kongress 1815 ein mit Russland in Personalunion verbundenes Königreich war. Doch Alexandra mag sich daran erinnert haben, wie Nikolaus und sie im Mai 1829 im Senatssaal des Warschauer Königsschlosses zum König und zur Königin von Polen gekrönt worden waren, aber auch daran, wie brutal der Kaiser den Aufstand von 1830/31 hatte niederschlagen und die Aufständischen bestrafen lassen. Jetzt, zehn Jahre später, war der Einzug der Kaiserin und der Braut des Thronfolgers in Warschau ein großartiges freudiges Ereignis, und Marie wunderte sich, wie gut ihr Bräutigam auch Polnisch sprach.

Am 15. September kamen die Damen in Gattschina an, der Lieblingsresidenz Pauls I., wo der Kaiser seine Gäste aus Westeuropa zu begrüßen pflegte und wo nun ein Galaessen im Prioratspalast für die Kaiserin, die Braut, Olga und ihre „kleine “ Schwester Alexandra („Adini“) stattfand, die ihnen entgegen gekommen war.15 Zwei Stunden später, bei der Ankunft in Zarskoje Selo, der berühmten Sommerresidenz Katharinas II. südlich von St. Petersburg, goss es in Strömen. Der Kaiser und der Thronfolger erwarteten ihre Damen vor dem Paradeeingang des Großen Palastes, der auch Katharinenpalast genannt wurde. Auf der Freitreppe standen die höchsten Würdenträger des Reiches, im Korridor die Zöglinge des Alexander-Lyzeums, und in der Kirche warteten die Hofdamen. Nach einem Gottesdienst fuhr man hinüber in den Alexander-Palast, wo Nikolaus und Alexandra im Sommer mit den jüngeren Kindern lebten. Die Kaiserin führte Marie in die für sie vorbereiteten Räume im ersten Stock, wo die Kammerjungfer Amalia Utermark auf ihre Herrin wartete.

Amalia hatte gerade, im April 1840, das Petersburger Elisabeth-Institut beendet und war auch erst 16 Jahre alt. Sie war die Tochter eines Moskauer Architekten, der die modernen runden Eisenöfen erfunden hatte, die auch in den kaiserlichen Palästen standen, und jeder kannte die Utermark-Öfen. Ihre Mutter war Musiklehrerin. Vor Maries Eintreffen hatte sie eine Art Praktikum bei Alexandra Nikolajewna absolviert. Ihren Erinnerungen, die sie Ende der 1880er Jahre unter ihrem Familiennamen Jakowlewa veröffentlichte, verdanken wir einen Eindruck von den ersten Tagen, Wochen und Monaten Maries in St. Petersburg. Da Amalia auch nach ihrer Heirat Zutritt zur kaiserlichen Familie behielt und ihre Verbindungen zum Hof nicht abrissen, reichen ihre niedergeschriebenen Erinnerungen bis zum Jahr 1881.

Als erstes bat die Kaiserin die Kammerjungfer, mit der Prinzessin immer Russisch zu sprechen, das sie selbst auch nach mehr als zwanzig Jahren in Russland nur notdürftig beherrschte. Dann erteilte sie Amalia eine erste Lektion. Alexandra, die auch als Kaiserin von Russland immer Preußin geblieben war, hatte Maries Zimmer inspiziert, rief Amalia nun zu sich und flüsterte auf Russisch, damit die Darmstädter Kammerfrauen sie nicht verstanden: „Ich sehe, dass hier noch deutsch aufgeräumt wird; das dürfen Sie nicht zulassen: auf dem Bett darf außer den Bleuel nichts liegen, Plumeau und Kissen gehören weggeräumt in den Korb.“ Amalia fand dann auch, dass das Bett der Prinzessin, voll bepackt mit Kissen, Wäschebleuel und Plumeau, darüber eine Decke, wellenförmig aussah, und das „war nicht schön“. Die Darmstädter Kammerjungfern waren jedenfalls überrascht vom „Pedantismus unserer Ordnung“.16 Am Petersburger Hof waren die Plumeaus durch weite, warme Mäntel ersetzt worden, und ein solcher Mantel, eine „Salope“, gehörte zu den ersten Geschenken, die Marie erhielt.

Drei Tage später war der feierliche Einzug in St. Petersburg, dieser sagenhaften, jungen Stadt, die von ihrem Gründer so großzügig geplant worden war und nun an die 400.000 Einwohner zählte. Russlands „nördliche Hauptstadt“, die in Westeuropa auch „Venedig des Nordens“ oder „Russisches Amsterdam“ genannt wurde, war nun schon ein beliebtes Reiseziel, eine faszinierende multikulturelle Metropole, die in Europa nicht ihresgleichen hatte. Marie mochte gar nicht mehr glauben, was in Darmstadt über die Stadt erzählt wurde: dass dort Wölfe auf der Straße herumlaufen und dass die Petersburger im Winter pelzgefütterte Masken tragen.17

Natürlich wusste sie nicht, dass die russische Literatur soeben ihren Höhenflug begonnen hatte und dass St. Petersburg ihr „Startplatz“ (Joseph Brodsky) war. Aber wir können annehmen, dass sie Puschkins Ehernen Reiter, Gogols Petersburger Geschichten, vor allem seine Erzählungen Newskij Prospekt oder Der Mantel, die ersten Komponenten des „Petersburger Textes“, gelesen hat, sobald sie genug Russisch konnte. Nicht umsonst war Wassilij A. Schukowskij ihr Lehrer. Er hatte sie die Sprache und die Literatur ihrer neuen Heimat schon in Darmstadt lieben gelehrt und sie auch in die Landesgeschichte eingeführt.

Das Wetter konnte nicht besser sein. Die goldene Karosse mit ihren acht Glasfenstern, in der die Kaiserin mit Marie und ihren Töchtern saß, glänzte und glitzerte in der Sonne. Die Damen hatten sich umgezogen und trugen nun russische Kleider aus silberdurchwirktem rosa Brokat. Der Kaiser folgte der Karosse zu Pferde, der Thronfolger befehligte die Eskorte.18 Vom Stadtrand bis zum Winterpalast säumten Garderegimenter in ihren prächtigen Uniformen den Weg, und wahrscheinlich hat Marie noch nie so viel Militär auf einmal gesehen. Ein endloses Hurra ertönte vom Straßenrand, alle Kirchenglocken läuteten, und aus der Festung auf der Haseninsel schossen die Kanonen Salut. Auf dem Palastplatz wartete eine große Menschenmenge auf die goldene Karosse, die nicht wie sonst vor dem Seiteneingang des Winterpalastes hielt, sondern gegenüber der Alexander-Säule durch die Großen Tore mit dem goldenen Doppeladler in den Großen Palasthof fuhr. Der Kaiser, der Bräutigam und der Hof erwarteten die Kaiserin, die beiden Großfürstinnen und die Braut vorm Paradeeingang. „Wir traten auf den Balkon hinaus, damit das Volk die Braut sehe“, schreibt Olga, „dann folgten die Zeremonien in der Kirche, das Te Deum und schließlich der große Empfang bei Hof. Alle Damen und Herren der Stadt, auch die Kaufleute und ihre Frauen, hatten das Recht, der Braut vorgestellt zu werden. Die prächtigen Säle waren überfüllt.“19 Marie war eher erschrocken als geblendet von der ungewohnten Pracht und unendlich erleichtert, dass zwei liebe Menschen aus der Heimat um sie waren: Bruder Alex und Marianne de Grancy. Zwischen Alexander von Hessen und Alexander von Russland sollte sich eine enge Freundschaft entwickeln.

Fürs erste hatte Marie ein Appartement neben den Räumen Olgas und Alexandras im Erdgeschoss des Winterpalastes zur Newa-Seite hin bezogen, „schön, gemütlich, wenngleich es nach Norden lag“, wie Olga schreibt.20 Marie war angenehm überrascht: „Meine Zimmer sind reizend, gar nicht groß und mit sehr schönen Möbeln eingerichtet“, schreibt sie ihrem Bruder Karl im ersten Brief, „mir scheint, dass sie immer bewohnt waren, aber es zeigte sich, dass sie nur für mich vorbereitet wurden.“21 Jedenfalls waren sie gemütlich, und das gefiel Marie. Zur Erinnerung an den Tag der Ankunft fand sie in ihrem Zimmer „vom Herrscher eine wunderschöne Türkisbrosche mit Brillanten und von Sascha ein Armband mit Brillanten und einem Rubin“.22

In den Zimmern wartete die Kammerjungfer Amalia Utermark auf die Prinzessin, um ihr den kostbaren Kopf- und Halsschmuck abzunehmen. So viele Brillanten auf einmal hatte Amalia noch nie gesehen. „Die Prinzessin trug eine blaue Schleppe, die ganz mit Silber durchwirkt war, und einen seidenen Sarafan, dessen Vorderteil ebenfalls silberdurchwirkt war, aber statt Knöpfen waren Brillanten mit Rubinen angenäht worden; das Kopfband aus dunkelhimbeerfarbenem Samt war mit Brillanten besetzt, vom Kopf fiel ein silberdurchwirkter Schleier.“23 Die schüchterne kleine Prinzessin aus Darmstadt, die den größeren Teil ihres Lebens auf dem ruhigen Heiligenberg verbracht hatte, war am reichsten und glanzvollsten Hof Europas angekommen und fand sich vom ersten Tag an erdrückt von einer ihr fremden Pracht und eingebunden in ein ermüdendes Zeremoniell.

Von ihrer neuen Familie hatte sie bisher nur die Schwiegereltern und die Schwägerinnen Olga und Alexandra kennengelernt. Nun lernte sie Saschas älteste Schwester Maria Nikolajewna („Mary“), die stolze Herzogin von Leuchtenberg, und ihren charmanten bayerischen Mann Maximilian („Max“) kennen, der ein Enkel Joséphines, der Kaiserin der Franzosen, war, und sie lernte Saschas Brüder kennen: Konstantin („Kosty“), den General-Admiral, und die Kadetten Nikolaus („Nisi“) und Michael („Mischa“), die sog. „kleinen Brüder“, die viel jünger als sie waren und immer alles gemeinsam machten. Da in der Familie alle einen kurzen Kosenamen hatten, wurde aus Maria Alexandrowna privat wieder „Marie“ oder auch „Mascha“.

Und dann waren da natürlich noch Großfürst Michael Pawlowitsch, der jüngere Bruder des Kaisers, der die Deutschen nicht mochte, und seine kluge Frau Jelena Pawlowna, eine gebürtige Württembergerin, die Nikolaus einmal die „Wissenschaftlerin“ der Familie genannt hatte. Von ihren fünf Töchtern hatten Michael und Jelena bereits früh Alexandra und Anna verloren, Maria, Elisabeth und Katharina, 15, 14 und 13 Jahre alt, waren als nächste zu verheiraten. Jelena und Michael waren ein kurioses Paar und sicher nicht glücklich miteinander. Er interessierte sich nur für Militärisches und war für seine Witze in ganz Russland berühmt, ihr Salon im eleganten Michael-PalastA2 am Platz der Künste war eines der geistigen Zentren der Hauptstadt, in dem angesehene Intellektuelle, Künstler, Musiker und Schriftsteller verkehrten, unter ihnen auch solche, deren Werke verboten waren. Nach der Hochzeit nahm das junge Paar später gern an den berühmten literarischmusikalischen Soireen der Großfürstin teil; beide konnten so auch ihre Bildung vervollständigen.

Von St. Petersburg hatte Marie außer dem Newskij Prospekt noch nicht viel gesehen, aber ihrem Bruder Karl schreibt sie schon in ihrem ersten Brief: „Petersburg ist viel schöner, als ich dachte. Dazu trägt die Newa viel bei; das ist ein wunderbarer Fluss; ich denke, es ist schwer, eine majestätischere Stadt zu finden: dabei ist sie belebt; der Blick aus dem Winterpalast auf die Newa ist außergewöhnlich schön.“24

Dann ging es auch schon wieder nach Zarskoje Selo, wo die kaiserliche Familie den Rest des Herbstes verbrachte – bei „großen Vergnügungen“, wie Amalia Utermark schreibt. „Jeden Sonntag war ein Festessen bei der Kaiserin; die Toiletten waren nahezu Balltoiletten: elegante Kleider mit offenen Miedern und kurzen Ärmeln, weiße Schuhe, Blumen und Brillanten. Im kleinen Zarskoselsker Theater, das sich im Garten des Alexander-Palastes befand, wurden französische Stücke aufgeführt. […] Gelegentlich fuhr man nach Petersburg in die Oper oder ins Ballett.“25

In Zarskoje Selo erhielt Marie weiteren Religionsunterricht. Den Russischunterricht erteilte ihr nun eine Hofdame, denn Schukowskij weilte noch in Deutschland. Sie lernte schnell. „In unserer Familie sprachen wir vier älteren Geschwister untereinander wie auch mit den Eltern immer französisch“, schreibt Olga Nikolajewna. „Die drei jüngeren Brüder hingegen sprachen russisch. Dies entsprach der wachsenden nationalen Bewegung unter Papas Regierung, die nach und nach alles Fremdländische, das bisher die Kultur bestimmte, zurückdrängte und versinken ließ“.26 Eines Morgens betrat ein Mann den Dienstraum der Hofdamen, den Amalia als „hochgewachsen, ziemlich beleibt, mit kleinem Kopf, glatt frisiertem Haar und Stern auf der Brust“ schildert.27 Der Mann verbeugte sich sehr höflich und sagte: „Darf ich Sie bitten, der Prinzessin zu melden, dass Schukowskij, ihr Lehrer, sich ihr vorzustellen wünscht.“ Die „Darmstädter“, d.h. Marie und Sascha, hätten „lange Gesichter“ gemacht, als Schukowskij bei ihnen eintrat.28 „Die Prinzessin ist hübscher geworden“, trägt dieser in sein Tagebuch ein.29 Dem Dichter blieb nicht viel Zeit für weiteren Unterricht, denn er wollte nach Deutschland heiraten, und alle warteten darauf, dass er Elisabeth von Reutern, seine sehr viel jüngere Braut, vorstellte, was er aber nicht tat.

Wie Amalia berichtet, erschien in der ersten Zeit „eine große Zahl Bittsteller“ aus Hessen in Zarskoje Selo. „Die Großfürstin half allen, nur sehr wenige kamen, um sich in Russland niederzulassen und Arbeit zu finden; sie kamen eher in der Hoffnung, dass die Großfürstin ihren Landsleuten Hilfe nicht abschlägt. Schließlich wurden Maßnahmen gegen sie ergriffen … man gab ihnen das Geld für den Rückweg, und so wies man sie in Massen aus; es blieben nur diejenigen, die Arbeit fanden.“30

Im Spätherbst ging der Hof traditionell nach Gattschina. Hier musste Marie erst einmal den Palast besichtigen, den der italienische Architekt Antonio Rinaldi Mitte des 18. Jahrhunderts für den Fürsten Grigorij G. Orlow gebaut hatte, einen Favoriten Katharinas II., der sie bei ihrem Staatsstreich 1762 unterstützt hatte. Dann folgte eine zweistündige Ausfahrt der Majestäten und Hoheiten in die Menagerie des Parks, des ersten englischen Landschaftsparks in Russland, wo man aus den Equipagen auf Hirsche schoss.31 Auch am nächsten Morgen ging der Kaiser mit den beiden Alexander und mehreren Herren seiner Suite auf Hirschjagd, und Marie begriff, dass ihr Zukünftiger ein leidenschaftlicher Jäger war. Sie mochte die Jagd nicht, nahm auch in Zukunft nie daran teil.

Mitte November kehrte der Hof nach St. Petersburg zurück, und dann begann auch schon die Wintersaison, und all die Feste, Bälle, Empfänge und Theateraufführungen, die immer auch die Anwesenheit des Thronfolgers und seiner Braut erforderten, wurden Marie schnell zu viel. Bald bildete sich auf einer Wange ein roter Fleck, groß wie ein Taubenei, der nicht wieder verschwand. Sie selbst war nicht beunruhigt, doch die Ärzte rieten ihr, bei Frost nicht auszufahren. Wenn sie erhitzt war, wurde der Fleck noch röter. Sie ging dann nicht mehr an die frische Luft, sondern zog es vor, in ihren Räumen zu bleiben.

Am 4./16. Dezember leistete Prinzessin Marie gemäß dem Brauch des Hauses Hessen und den grundgesetzlichen Bestimmungen des Großherzogtums Verzicht auf ihre Ansprüche. Tags darauf fand ihre Firmung (Myronsalbung) in der Kleinen Kirche des Winterpalastes in Anwesenheit der kaiserlichen Familie und des diplomatischen Corps statt. Sie trug einen weißen Atlassarafan mit Schleppe und als einzigen Schmuck das Taufkreuz. Ihre Haare waren nach vorn gekämmt und umrahmten ihr Gesicht in zwei langen Locken. Amalia Utermark fand, dass diese Frisur ihr sehr gut stand.32 Die Patinnen waren Großherzogin Maria Pawlowna von Sachsen-Weimar-Eisenach, und Mutter Maria, die Gründerin und Äbtissin des Erlöser-Klosters von Borodino,A3 eine hochgewachsene strenge, asketische Frau, die in ihrem schwarzen Habit neben Marie im weißen Sarafan nahezu bedrohlich wirkte.

„Mit großem Ernst hatte sie sich den Vorbereitungen hingegeben, wie allem, was sie zu erfüllen hatte und was dessen wert war“, schreibt Olga Nikolajewna. „So nahm sie nicht nur die äußere Form des neuen Glaubens auf, sie versuchte, in die Wahrheit seines Bekenntnisses einzudringen und in den Sinn der Worte, die sie als Katechumenin am Tor der Kirche vor allem Volk zu lesen hatte, der Kirche, als deren Kind sie dann eintreten sollte. – Sie sprach die ersten Worte: ‚Ich glaube und will …‚ leise und zaghaft, dann aber festigte sich ihre Stimme und tönte laut und klar bis zum Schluss des Gebetes […]. Als sie die heilige Kommunion empfing, strahlte ihr Antlitz in freudiger Ergebenheit. Beim Te Deum wurde ihr Name als der einer Rechtgläubigen zum erstenmal genannt.“33

Ihr Name war nun Maria Alexandrowna, den Vatersnamen hatte sie zu Ehren Alexanders I., des „Gesegneten“, erhalten. Nach dem Übertritt erhob Nikolaus I. die nunmehr rechtgläubige Prinzessin per Manifest zur Großfürstin Maria Alexandrowna von Russland, erst als solche konnte sie mit dem Thronfolger verlobt und verheiratet werden.

Die Verlobung fand am 6./18. Dezember, dem Namenstag des Kaisers, in der Großen Palastkirche statt. „Die Verlobungsringe waren früher gebracht und auf goldenen Tellern auf den Altartisch gelegt worden; zur gebotenen Zeit brachte der Beichtvater des Herrschers den Ring für den Zesarewitsch, und der Obergeistliche der Armee und der Flotte den für die Großfürstin. Der Metropolit steckte dem Thronfolger und der Großfürstin die Ringe während des bekannten Gebets an die Finger, worauf die Herrscherin herantrat und ihnen die Ringe wechselte. Am Ende der Zeremonie beglückwünschten alle den Kaiser, die Kaiserin und die Verlobten. Nach dem Gebet mit Kniefall entfernte sich die Zarenfamilie in die inneren Gemächer, und die anwesenden Gäste verließen den Palast. Am selben Tag fand ein Galaessen statt und am Abend ein großer Ball.“34 Auf diesem Ball mussten die Damen nun Kleider im russischen Stil tragen, denn der Kaiser hatte befohlen, dass auf Hofbällen russische Kleider samt Kokoschnik zu tragen waren. Maria kannte das Wort nicht und erfuhr, dass die traditionelle Haube der Russinnen so hieß. Beim Hofball mussten alle Kokoschniks die gleiche Form haben. Doch einige Damen trugen statt der Haube aus Samt und Gold eine aus Blumen. Nikolaus, der Ungehorsam nicht ertrug, ließ die Damen polizeilich verwarnen.35

Die Konversion der Prinzessin, ihre Rangerhöhung und die Verlobung mit dem Thronfolger gab Nikolaus I. noch am Verlobungstag per Manifest bekannt.36

Tags darauf nahmen die Verlobten im Alexander-Saal (Ermitage-Saal 282) die Glückwünsche der Geistlichkeit, des Staatsrats, des Dirigierenden Senats, der Hofwürdenträger und der hohen Petersburger Gesellschaft entgegen, eine Prozedur, die viele Stunden dauerte. Zur Gratulation erschien auch das Diplomatische Corps, und das war wichtig, „denn von den Berichten, den Eindrücken der Vertreter aller Länder an ihre Höfe hing der Ruf der jungen Großfürstin ab“.37

Als Großfürstin bekam Marie nun einen eigenen Hofstaat, der aus einer Staatsdame, zwei Hofdamen, dem Hofmarschall und einem Stallmeister bestand. Die Kammerjungfer Amalia Utermark blieb in ihren Diensten. Über die Zeit bis zur Hochzeit schreibt sie: „Gewöhnlich kam Prinz Alexander, um den Abend mit dem Zesarewitsch und seiner Braut zu verbringen. Er spielte hervorragend Klavier, die Hofdame Grancy handarbeitete, und der Bräutigam und die Braut verbrachten die Zeit mit fröhlichen Gesprächen und Scherzen. Zur üblichen abendlichen Zusammenkunft gegen 9 Uhr musste der Zesarewitsch unbedingt bei der Kaiserin erscheinen, auch wenn die Großfürstin zu Hause blieb. Wenn sie gesund war, holte der Zesarewitsch sie ab, um mit ihr in Begleitung der Hofdame Grancy zur Kaiserin zu gehen.“38 Die Räume der Kaiserin lagen im ersten Stock des nordwestlichen Risalits des Winterpalastes. Von hier aus war die Aussicht auf die Newa, die Haseninsel mit der Peter-und-Paul-Kathedrale und die Wassilij-Insel mit der Börse und der Kunstkammer noch grandioser.

Zu Weihnachten erhielt die Braut vom Bräutigam ihr Lieblingsgemälde Hagar und Ismael in der Wüste von Julie Egloffstein, das er aus Darmstadt mitgebracht hatte. Sie war zu Tränen gerührt. Außerdem gab es Tische in Boullemarketerie und eine Toilettengarnitur aus Porzellan im „gotischen“ Stil, der immer noch „in“ war. Olga Nikolajewna berichtet in ihren Memoiren, dass Marie Ende Dezember an Gesichtsrose erkrankte und sie selbst an einem heftigen Husten. Zu diesem Zeitpunkt habe man erkannt, dass die Luft im Winterpalast zu trocken war, und an den Öfen Wasserbehälter aufgestellt.

Alle freuten sich, dass es bald wieder in den gemütlichen Anitschkow-Palast am Newskij Prospekt gehen würde, in dem die Familie sich wohler fühlte als im Winterpalast. „Während des Großen Fastens [in den sieben Wochen vor Ostern, M.B.] zog die kaiserliche Familie für ein paar Tage in den Anitschkow-Palast“, schreibt Amalia, „in dieser Zeit wurden die Wohnräume im Winterpalast durchlüftet und gereinigt. Natürlich wurden diese Umzüge von einem großen Durcheinander begleitet: nicht alle Sachen und Kleider wurden für diese kurze Zeit mitgenommen. Aber nicht selten geschah es, dass die Großfürstin kurz vor dem Ankleiden unbedingt etwas haben wollte, was nicht aus dem Winterpalast mitgenommen worden war; also musste sofort ein Garderobier nach den verlangten Sachen geschickt werden. Es gab Tage, an denen der Garderobier und sein Gehilfe buchstäblich den ganzen Tag zwischen dem Anitschkow-Palast und dem Winterpalast hin und her fuhren, und manchmal mussten sie dabei noch in die Geschäfte oder zu einer Modistin.“39

Zur Hochzeit kamen Onkel Emil und Bruder Ludwig, der Erbgroßherzog, sowie mehrere Hohenzollern-Prinzen nach Petersburg. Marie weinte vor Rührung. Sie war so erschüttert von dem Wiedersehen mit ihren engsten Verwandten, dass ihr Gesicht sich wieder krankhaft rötete. Olga war auch ratlos, hörte aber auf die alte preußische Kammerfrau ihrer Mutter, die empfahl, eine Fuchszunge unter Maries Bett zu legen. Schon am nächsten Morgen war die Rötung verschwunden.40

Die Hochzeit fand am 28. April 1841 statt, einen Tag vor dem 23. Geburtstag des Bräutigams. Sie wurde den Petersburgern um 8 Uhr morgens mit fünf Kanonenschüssen aus der Festung angekündigt. Nach der Messe erfolgte um 13 Uhr zunächst das offizielle Ankleiden der Braut in Gegenwart der gesamten kaiserlichen Familie, der neuernannten Hofdamen und dreier Kammerfräulein. Das Ankleiden der Braut fand nun nicht mehr, wie früher, im Brillantsaal statt, wo die Reichsinsignien aufbewahrt wurden, sondern im eleganten neugestalteten Malachitsalon der Kaiserin (Ermitage-Saal 189), der ihre Privaträume praktisch von den Galasälen der Newa-Enfilade trennte und von dem aus traditionell der offizielle Auszug der kaiserlichen Familie in die große Palastkirche oder in einen der Paradesäle, z.B. den Thronsaal, erfolgte. Die Braut war wieder in einen weißen Sarafan gekleidet. „Marie trug zwei lange Locken, die zu beiden Seiten herabfielen; auf die Stirn wurde die kleine Krone gesetzt, ein Diadem aus Brillanten und Perlentropfen, darunter der Spitzenschleier befestigt, der über die Schultern reichte“, schreibt Olga. „Jede von uns Schwestern musste eine Nadel reichen, ihn festzustecken. Dann wurde der karmoisinrote, mit Hermelin besetzte Mantel mit einer Goldspirale an die Schultern geheftet, dieser Mantel, der so schwer war, dass fünf Kammerherrn ihn halten mussten. Mama befestigte zum Schluss einen kleinen Strauß von Myrthen und Orangeblüten unter dem Schleier. Wie groß und majestätisch Marie in ihrem Gewand wirkte, so angemessen war es ihrer schönen Gestalt und dem Ausdruck von feierlichem Ernst auf ihrem Antlitz, das doch jugendlich strahlte.“41 Amalia Utermark, die Kammerjungfer, hielt fest, dass die Kaiserin kleine Pomeranzenzweige bringen ließ, um sie zwischen den Brillanten des Diadems zu befestigen, da sie erkannt habe, „dass nicht kostbare Edelsteine an diesem Tag die unschuldige und reine Stirn der jungen Prinzessin schmücken durften“, sondern nur eine Blume, „die als Emblem der Reinheit und der Unschuld dient“.42

Zur festgesetzten Stunde begab sich die kaiserliche Familie dann aus dem Malachitsalon in einen Saal der Newa-Enfilade, „wo der gesamte Hofstaat auf sie wartete. In dem Maße, in dem sich der Zug durch die Säle vorwärts bewegte, schlossen sich die Höflinge paarweise an. In der Kirche hatten die geladenen ausländischen Gäste, die Gesandten und Vertreter ausländischer Höfe in glänzenden Hofanzügen, die Damen in reichen Paradehofkleidern ihrer Höfe, bereits ihre Plätze eingenommen. Auf den Chören der Säle, durch die der Zug schreiten musste, drängte sich eine Menge Publikum. Hier kam alles zusammen, was nur die Möglichkeit gehabt hatte, ein Billett zu erhalten, alle wollten die Ehre und das Glück haben, bei der heiligen Eheschließung des Erben des allrussischen Thrones anwesend zu sein.“43

Die Trauung vollzog der Obergeistliche Nikolaj W. Musowskij, der ehemalige Religionslehrer der Prinzessin Charlotte. Die Krone über dem Kopf der Braut hielt während der ganzen Zeremonie Alexander von Hessen, die Krone über dem Haupt des Bräutigams hielt Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, Saschas Cousin. Nach der Trauung kehrte die Großfürstin in die Zimmer der Kaiserin zurück, um den schweren Mantel abzulegen und sich vor dem Festbankett ein wenig auszuruhen. Sie trug jetzt zusätzlich den Titel „Zesarewna“, denn zur Hochzeit seines Sohnes hatte Nikolaus I. den Artikel 101 des Familiengesetzes Pauls I. dahingehend ergänzt, dass die Frau des Zesarewitsch „Großfürstin und Zesarewna“ zu nennen sei.44 Nach der Trauung trat Nikolaus mit den Neuvermählten auf den Balkon zur Admiralitätseite. Er und der Thronfolger waren in Kosakenuniform. Eine begeisterte Menge ließ den Kaiser und das junge Paar hochleben.

„Gegen drei Uhr war großes Festbankett für die drei ersten Hofrangklassen, etwa vierhundert Personen, an drei riesigen Tischen des Nikolaussaales im Winterpalais“, schreibt Olga Nikolajewna. „In der Mitte die kaiserliche Familie und die Geistlichkeit, die mit Gebet und Segen das Mahl einleitete, ehe man sich setzte. Am Tisch rechter Hand saßen die Damen, links die Herren. Man trank auf die Gesundheit der Neuvermählten, der Majestäten, der Eltern der Zarewna [sic! Gemeint ist: Zesarewna, M.B.] sowie aller treuen Untertanen, und jeder Toast wurde von Kanonenschüssen begleitet. Die ranghöchsten Herren des Hofes boten den Majestäten den Champagner dar, wir anderen Mitglieder der kaiserlichen Familie wurden von unseren Kammerherren bedient. Auf dem Chor spielte die Militärmusik, und die ersten Sängerinnen der Hofoper […] sangen, dass die Wände zitterten. Um acht Uhr war Polonaise im Sankt Georgsaal, die Papa mit Marie anführte, um neun Uhr kehrte man in die eigenen Gemächer zurück, wo die engste Familie bei den Neuvermählten speiste.“45 Nach dem Nachtmahl geleiteten Nikolaus und Alexandra das junge Paar in seine Gemächer.

Am nächsten Morgen, Saschas Geburtstag, kam die Familie zum Gratulieren in den Räumen der Neuvermählten zusammen. Glückwünsche, Umarmungen, Küsse. Dann wurden im Paradekabinett Kaffee und Tee serviert, um 11 Uhr fand ein Gottesdienst aus Anlass des Geburtstages statt. Am 30. April stand nach weiteren Gratulationen eine Spazierfahrt in Equipagen in der Stadt an. Überall Applaus.46 Am 1. Mai folgte eine Galaaufführung des halb vergessenen Balletts Zephyr und Flora des französischen Choreographen und Tänzers Charles-Louis Didelot im Großen Steintheater, das die Zeitgenossen ermüdend und langweilig fanden, das auf Befehl des Kaisers aber aufgeführt werden musste, weil es zu seiner eigenen Hochzeit 1817 aufgeführt worden war.47

„Die Zesarewna selbst gab uns ein Billet für die Loge und drängte uns, schneller zu fahren, damit wir zum Augenblick ihres Erscheinens in der Loge nicht zu spät kommen“, schreibt Amalia. „Sobald sich die kaiserliche Familie und das junge Paar in der Loge zeigten, erhob sich das Publikum im Parterre und in den Logen, und es ertönten lauter Applaus und ein einmütiges Hurra, das einige Minuten andauerte; die kaiserliche Familie verneigte sich nach allen Seiten, dann wurde plötzlich alles still, und auf der Bühne und im Saal sangen einige Tausende Stimmen die Nationalhymne in Begleitung des Orchesters; dann begrüßte man die kaiserliche Familie noch einmal. Als alles wieder still war, hob sich der Vorhang, und die Vorstellung begann. Während der ganzen Ovation nahm die Zarenfamilie nicht Platz.“48 Auch der Petersburger Adel ehrte die Neuvermählten um die Wette mit einer Vielzahl von Bällen, Essen und anderen Festlichkeiten. Zur Hochzeit erhielt Alexander von seinem Vater den Anitschkow-Palast am Newskij Prospekt geschenkt, in dem seine Eltern zu Beginn ihrer Ehe gelebt hatten und so glücklich gewesen waren, und in dem er groß geworden war.49

„[…] Ach, Karl!“, schreibt Marie dem Bruder eine Woche nach der Trauung. „Wenn ich mit Dir spreche, kann ich irgendwie nicht glauben, dass ich nun verheiratet bin und wir dadurch noch mehr voneinander getrennt sind. Eine neue Familie, eine neue Heimat, anderer Umgang, andere Pflichten, überall ist hier etwas, was mich hier immer mehr bindet und von Euch trennt – natürlich nicht meine Liebe, sondern nur mein äußeres Leben. Und dennoch bin ich unendlich glücklich mit Sascha und überzeugt, dass der Segen der lieben Mutter auf uns ruht. Möge ihn Gott der Herr über uns noch lange, lange bewahren. Besonders am Tag der Hochzeit musste ich oft an sie denken. Am Vortag haben uns der Herrscher und die Herrscherin ihren Segen gegeben; wir waren alle sehr gerührt, und die Herrscherin sagte leise, als sie mich segnete: ‚Ich segne dich im Namen deiner Mutter, die jetzt sicherlich vom Himmel herab auf dich schaut und dich segnet.‘ Ich kann Dir nicht sagen, lieber Karl, wie sehr mich dies rührte, und mir schien, dass ich sie besonders lieben muss, lieben dafür, dass sie unserer verstorbenen Mutter gedachte.“50 Kein Zweifel, Alexandra hatte sich daran erinnert, dass sie ihre Mutter, die Königin Luise, im gleichen Alter verloren hatte wie Marie ihre Mutter, die Großherzogin Wilhelmine, und dass zu ihrer Hochzeit im Juli 1817 auch nur der Vater und die Brüder nach St. Petersburg gekommen waren. Das Verhältnis der beiden Frauen war von Anfang an herzlich, Marie konnte sich keine liebevollere Schwiegermutter wünschen als die Kaiserin.

Beide waren traurig, als Wassilij A. Schukowskij, ihr verehrter Lehrer, St. Petersburg im Mai verließ. Es war ihm gelungen, nach der Preußin auch die Hessin für die russische Literatur und für Land und Leute zu begeistern. Nach seiner Heirat mit Elisabeth von Reutern ließ er sich zunächst in Düsseldorf nieder, und Alexander wünschte ihm „das Familienglück, das ich jetzt mit meinem Engel Marie wertschätzen kann“.51 Die kaiserliche Familie blieb mit dem Dichter, der sich in Deutschland an die Übersetzung der Odyssee ins Russische machte, in engem Kontakt. Er konnte nicht ahnen, dass seine Tochter Alexandra einmal Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna werden und ihr manche Aufregung bereiten würde.

Erst nach der Maiparade (11. Mai), die Alexander kommandierte, konnte sich das junge Paar in die Flitterwochen nach Zarskoje Selo zurückziehen, wo fürs erste der Alexander-Palast für sie vorbereitet worden war.52 Es gelang ihnen jedoch nicht, sich von den Hochzeitsstrapazen zu erholen, denn der Kaiser hatte beschlossen, das junge Paar der Ersten Residenzstadt vorzustellen. Die Fahrt nach Moskau dauerte noch immer fünf Tage. Es war eine der letzten Fahrten mit der Kutsche. Am 26. Mai 1841 zogen sie feierlich ein.

Der junge Emil Karl zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Sohn des Fürsten August und Patensohn des Prinzen Emil von Hessen und bei Rhein, der mit der hessischen Hochzeitsdelegation ins „Land des Schnees und des Polareises“ gekommen war, reiste auch mit nach Moskau und beschrieb den starken Eindruck, den die Stadt auf ihn gemacht hatte, in einem Brief an seine Mutter. „Es war angenehm, die Begeisterung des Volkes zu sehen, als der Zesarewitsch und die Zesarewna in Moskau einzogen“, schreibt Wittgenstein. „Ich sah, wie ein Mann aus dem einfachen Volke, der wünschte, sich der Kutsche zu nähern und so laut ‚Hurra‘ zu schreien, dass der Thronfolger ihn auch hörte, dafür mit seinem Leben bezahlte, als er unter die Pferde der Suite fiel. Ein anderer, ein Mann ehrwürdigen Alters, der den Kaiser erblickt hatte, weinte vor Freude und schrie ‚Hurra‘ aus allen Kräften. Die Frauen knieten nieder und küssten die Erde. Andere bekreuzigten sich und ungeachtet der Schläge, die die Kosaken mit der Nagaika nach rechts und links austeilten, obwohl das streng verboten war vom Kaiser, war der Druck so groß, dass ich und andere Offiziere, die zu Pferde waren, sich kaum bewegen konnten […]. Ich habe nie eine höflichere Menge gesehen; die vorne Stehenden fielen unter die Hufe unserer Pferde, weil die hinter ihnen Stehenden sie drängten, und dabei entschuldigten sie sich. Prinz Emil überritt zwei Männer; ich hätte fast einen erdrückt, aber ich schaffte es gerade noch, das Pferd zurückzuhalten, als er unter seine Hufe fiel. Man kann sich nichts Feierlicheres als den Klang der tausend Glocken vorstellen, die von den Rufen der Menge, Kanonensalven und den Tönen der Volkshymne begleitet wurden.“53 Gott schütze den Zaren! Nikolaus I. persönlich geleitete seine Schwiegertochter in die Uspenskij-Kathedrale, die Krönungskirche der Moskauer Zaren und der Petersburger Kaiser, in der auch Sascha und sie dereinst gekrönt werden würden. Vom ersten Augenblick an mochte Maria das altehrwürdige Moskau mit seinen „40 mal 40 Kirchen“ lieber als das kühle St. Petersburg mit seinen Palästen und Kasernen. Bei Alexander war es umgekehrt.

Aus der Ersten Residenzstadt kehrte der Hof zunächst nach Peterhof zurück, ins „russische Versailles“ am Finnischen Meerbusen. Nach Peter dem Großen hat keiner der Petersburger Kaiser so viel für die Verschönerung Peterhofs getan wie Nikolaus I., wobei er keine Kosten scheute. Viele Reisende haben die unerhörte Pracht der Palastanlage mit ihren Wasserspielen beschrieben. Maria aber gefiel vor allem „Ihrer Majestät Datscha Alexandria“, ein hübsches Landhaus im englischen Stil im gleichnamigen Park, das Nikolaus Ende der 1820er Jahre als privates Refugium für seine Frau hatte bauen lassen und das die ganze Familie liebte. Es hieß „Cottage“, und im „Cottage“ fanden alle das, was keiner der großen Paläste bot, Ruhe und Gemütlichkeit, dazu einen einmaligen Blick vom Balkon auf den Finnischen Meerbusen. Alexander besaß nicht weit vom „Cottage“ ebenfalls ein Landhaus, das „Farm“ genannt wurde, weil es früher einmal ein Strohdachhäuschen war, in dem eine kleine Milchwirtschaft mit englischen Kühen betrieben wurde.54 Auch der „Farmerpalast“ gefiel Maria. In der pastoralen Idylle Alexandrias fühlte sie sich gleich wohler als in den großen Palästen der Hauptstadt. Angenehm überrascht war sie ebenso von der neogotischen Alexander-Newskij-Kapelle mit ihren vier Pyramidentürmen, die zu Beginn der 1830er Jahre nach einem Entwurf Karl Friedrich Schinkels als Hauskirche für das „Cottage“ gebaut worden war.55

Peterhof sei noch nie so belebt gewesen wie nach der Hochzeit des Zesarewitsch, schreibt Amalia Utermark. Der Grund waren die vielen noblen Gratulanten aus der Stadt, die von der kaiserlichen Familie aufmerksam empfangen und unterhalten wurden.56 Von den Missernten, die Russland in diesem Jahr heimsuchten und Nikolaus veranlassten, die ersten Getreidekäufe im Ausland zu tätigen, und von den Bauernunruhen im ganzen Land war in Peterhof nichts zu spüren, und es ist fraglich, ob die Zesarewna davon erfahren hat.

Anfang August übersiedelte der Hof wieder nach Zarskoje Selo. Dort unterzeichnete Nikolaus I., der zu Manövern nach Kowno (Kaunas) und Warschau reisen wollte, ein Reskript, demzufolge er, der Autokrat (!), seinem Sohn und Nachfolger die Entscheidungsgewalt über die Fragen übertrug, die im Ministerkomitee während seiner Abwesenheit behandelt wurden.57 Damit installierte Nikolaus, der selbst nicht auf die Regierung vorbereitet worden war und seine mangelnden Kenntnisse stets bedauert hatte, faktisch nicht nur eine Art Co-Herrschaft, sondern bezog den Thronfolger, der bereits an allen Sitzungen des Staatsrates und des Ministerkomitees teilnahm und Einsicht in alle Akten seines Vaters erhielt, in die Regierungsarbeit ein. Offenbar wollte Nikolaus I. es besser machen als sein Bruder Alexander I., der ihn zwar früh als Nachfolger vorgesehen, ihn aber nicht auf sein Amt vorbereitet und auch nicht offiziell zum Nachfolger ernannt hatte.58

Im Oktober ging der Hof für eine Woche zur Jagd nach Gattschina, wo auch Manöver stattfanden. Bei einem Theaterabend im dortigen Arsenal erlebte Maria ihren Schwiegervater und ihren Mann zum ersten Mal als Schauspieler. In einem französischen Stück gab Nikolaus I. einen „Kwartalnyj“, also einen Polizisten, der für ein Stadtviertel (Quartal, russ.: kwartal) zuständig war, eine Rolle, die er fast 30 Jahre zuvor auch schon einmal gespielt hatte und die ihm auf den Leib geschrieben war. Alexander spielte einen Nachtwächter.59 Glaubt man Amalia Utermark, so war das Publikum entzückt von den kaiserlichen Darbietungen.60 Nikolaus I. war ein begabter Schauspieler.

Gegen Jahresende verließ Maria den Gottesdienst einmal vorzeitig, weil ihr übel geworden war. Ihre Schwägerin, die Herzogin von Leuchtenberg, verstand das Zeichen auf Anhieb und rief den Hofdamen lachend zu: „Gratuliere, gratuliere, nähen Sie die Kleider um!“61 Maria war schwanger und ging nun seltener aus. Ihr Bruder und Marianne de Grancy leisteten ihr öfter „zu Hause“ Gesellschaft, und Amalia Utermark beobachtete, dass die Hofdame die Großfürstin weiter mit „Prinzessin“ anredete, während diese ihre ehemalige Gouvernante „Marianne“ nannte.

Maria wusste nun schon, dass ihr Leben einem seit Jahrzehnten eingespielten Rhythmus folgen würde: Im Mai ging der Hof nach Zarskoje Selo, im Juli nach Peterhof, von da noch einmal nach Zarskoje und im Herbst nach Gattschina, um Ende November in die Stadt zurückzukehren – in diesen feuchten Riesenpalast an der Newa, der Winterpalast hieß, weil die kaiserliche Familie nur im Winter darin lebte, und der ein Labyrinth war, in dem man sich verlaufen konnte.

 

 

 

 A1 Das Pergamentlibell in Samteinband mit der Unterschrift des Kaisers wird im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt aufbewahrt.

 A2 In diesem Palast wurde im März 1898 das Russische Museum offiziell eröffnet.

 A3 Margarita Michajlowna Tutschkowa, geb. Naryschkina (1780–1852), Witwe eines 1812 bei Borodino gefallenenOffiziers, gründete das Erlöser-Kloster zum Andenken an ihren Mann.