Iwan A. Gontscharow – Iwan D. Wyschnegradskij – Erstes Mädchengymnasium in St. Petersburg – Konstantin D. Uschinskij – Alexander Herzen und Die Glocke – Kritik an der Erziehung des Thronfolgers – Alexandre Dumas und David Dunglas Home in St. Petersburg – Ankunft Bismarcks – Volljährigkeit des Thronfolgers – Katja Dolgorukowa – Geburt Pauls (1860) – Marientheater – Tod der Kaiserinmutter – Livadia
1858–1860
In den ersten Januartagen des Jahres 1858 wurde ein neuer Russisch- und Literaturlehrer für den Thronfolger ernannt. Es war Iwan A. Gontscharow, der Schriftsteller, der nach einigem Zögern zugestimmt hatte, Nixa zu unterrichten. Gontscharow war durch den Roman Eine gewöhnliche Geschichte (1847) bekannt geworden und im Begriff, seinen Bericht über eine Schiffsreise nach Japan zu veröffentlichen, an der er 1852/54 als Expeditionssekretär teilgenommen hatte. Die Aufzeichnungen erschienen 1858 unter dem Titel Die Fregatte Pallas in zwei Bänden und zählen bis heute zu den schönsten Werken der russischen Reiseliteratur. Gontscharows Leser wussten aber, dass er seit zehn Jahren an seinem zweiten Roman arbeitete, der sich nach Aussage des Autors „langsam und schwer“ schrieb, aber seinen Helden unsterblich machen sollte: Oblomow (1859).
Ilja Iljitsch, für den das Herumliegen und Nichtstun weder eine Notwendigkeit wie für einen Kranken noch ein Genuss wie für einen Faulpelz, sondern sein „normaler Zustand“ war, verkörpert den Typ des russischen Adligen, der durch Herkunft und Erziehung nur zu Faulheit und Passivität fähig ist. Die „Oblomowschtschina“ (Oblomowerei) steht für den Niedergang der russischen Adelsgesellschaft, die untätig und gedankenlos aus dem Land lebte, aber auch für eine oft kritisierte russische Lebensart mit ihrem Schlendrian und ihrer Bequemlichkeit.
Die Lehrtätigkeit in der kaiserlichen Familie ist eine wenig bekannte Episode im Leben Gontscharows. Bekannter ist seine Tätigkeit als Zensor (1856–1860), die er auch als Lehrer des Thronfolgers beibehielt. Einen besseren Literaturlehrer als Gontscharow konnte sich Nixa natürlich nicht wünschen, und statt der beiden vorgesehenen Wochenstunden nahm er bald drei Stunden wöchentlich. Seine Mutter schätzte den Schriftsteller, Lehrer und Schüler verstanden sich gut. Allerdings fühlte sich Gontscharow beim Russischunterricht nicht wohl, weil ihm die theoretischen Grundlagen dafür fehlten. Schon im Frühjahr 1858 hörte er mit dem Sprachunterricht auf, wollte den Literaturunterricht aber fortsetzen. Doch bereits im Juli gab er seinen Posten mit der Begründung auf, dass die Arbeit als Zensor ihm keine Zeit für seine pädagogische Tätigkeit lasse.1 In Wahrheit gefiel ihm die Arbeit mit dem Thronfolger, und er hätte sie gern fortgesetzt. Doch er verstand sich nicht mit August Theodor Grimm, dem neuen Obererzieher Nixas, der Wladimir P. Titow im Mai 1858 abgelöst hatte und der es ihm gegenüber an elementarem Respekt fehlen ließ.
Der Thüringer, der von den russischen Historikern äußerst negativ beurteilt wird, hatte, als er sein Amt als Erzieher der Großfürsten Nikolaus, Alexander und Wladimir antrat, bereits als Aufseher und Lehrer für Schönschrift in einem privaten deutschen Gymnasium in Petersburg gearbeitet und war auch schon als Hilfslehrer der Kinder Nikolaus’ I. tätig gewesen. Er hatte St. Petersburg 1847 als Kaiserlichrussischer Staatsrat verlassen, einige Jahre von einer ansehnlichen Pension des russischen Staates in Dresden gelebt und mittelmäßige Romane und Bücher über Russland geschrieben, in denen er sich verächtlich über Land und Leute äußerte und ständig die große erzieherische Bedeutung der Deutschen in der Geschichte Russlands hervorhob. Kein Wunder daher, dass Nikolaus I. diesen Mann 1853 als Erzieher für seine Enkel entschieden ablehnte. Nach seinem Tod war es dann Maria Alexandrowna, die sich seiner erinnerte und ihn für Nixa, Saschka und Wladimir engagierte. Grimm sprach kein Russisch, kannte Russland nicht und legte den Schwerpunkt seiner Erziehung auf Mathematik und Musik. Russische Geschichte, Sprache und Literatur hielt er für zweitranging, weil Russland für ihn ein Land „ohne jegliche Kultur“ war. Die Geschichte des eigenen Landes brauchten die Großfürsten seiner Ansicht nach nicht zu kennen, weil es sich dabei lediglich um eine zufällige Verkettung von Ereignissen handele, ohne innere organische Beziehung. Die russische Literatur fand Grimm so armselig, dass sie nicht für den Unterricht taugte. Ästhetik und Geschmack konnten die Großfürsten seiner Ansicht nach am besten durch das Studium ausländischer Literatur erlernen. Statt russischer Sprache, Literatur und Geschichte, die er nicht kannte, unterrichtete er selbst allgemeine Geschichte und Geografie in deutscher Sprache.
Es bleibt ein Rätsel, warum Maria diesem „Pädagogen“, der Schukowskij, dem Erzieher ihres Mannes, nicht das Wasser reichen konnte, die Erziehung des Thronfolgers und seiner Brüder anvertraute und ihn lange gewähren ließ, so dass die Großfürsten nach Jahren in Grimms Händen wenig gelernt hatten und intellektuell geradezu vernachlässigt wirkten.2 Nur der Thronfolger schien im Alter von 16, 17 Jahren in der Lage, Vorlesungen zu folgen.3
Die Wahl Grimms ist umso unverständlicher, als der Thüringer in einer Zeit wieder nach St. Petersburg kam, als längst zwei bedeutende russische Reformpädagogen ins Blickfeld der Kaiserin getreten waren: Nikolaj A. Wyschnegradskij und Konstantin D. Uschinskij. Ganz im Geiste der Zeit verlangten beide eine Demokratisierung des Erziehungswesens.
Wischnegradskij gab seit 1857 das der Kaiserin gewidmete Russische Pädagogische Journal heraus. Das populäre Blatt hatte u.a. die Frage der Mädchenbildung aufgeworfen und allgemein zugängliche höhere Lehranstalten für Mädchen gefordert. Bis zu diesem Zeitpunkt existierten nur geschlossene Institute, die adligen Mädchen vorbehalten waren, wie das Fräulein-Stift (Smolnyj Institut) in St. Petersburg, das aus der von Katharina II. gegründeten Erziehungsgesellschaft für adlige Mädchen hervorgegangen war, und die Katharinenstifte der Kaiserin Maria Fjodorowna. Das Fräulein-Stift hatte eine Zeitlang auch eine Abteilung für nichtadlige Mädchen, aber die Erziehung zielte – fern der Familie – auf eine Stellung bei Hofe oder eine gehobene gesellschaftliche Position ab. All diese Institute galten Mitte des 19. Jahrhunderts als antiquiert und mussten dringend „entstaubt“ werden, die neue Zeit erforderte neue Methoden. Wyschnegradskij, der Anfang der 1850er Jahre im Smolnyj Institut unterrichtet hatte, kannte den weltfremden Unterricht und den Kasernengeist, der dort herrschte, aus eigener Erfahrung. Uschinskij, der Maria bei seiner Arbeit im Waisenhaus von Gattschina aufgefallen war, wurde zum Inspector ernannt und mit der Reform des Instituts beauftragt. Sie bestand darauf, die Kinder von mechanischen Arbeiten wie etwa dem ständigen Abschreiben von Texten zu befreien, mehr für ihre Gesundheit zu tun und die Familien stärker in die Erziehungsarbeit einzubeziehen. Zu diesem Zweck wurde den Mädchen erlaubt, die Ferien und Feiertage bei den Eltern zu verbringen. Bei der Durchführung der Neuerungen sollte Uschinskij auf erheblichen Widerstand und viel Kritik stoßen, und ohne Marias Schutz wäre es ihm schlecht ergangen. „Ihr freundschaftliches Verhältnis zu Uschinsky bewahrte diesen bedeutenden Pädagogen vor dem Geschick, das damals alle hervorragenden Männer in Russland traf, dem Exil“, schreibt Peter Kropotkin.4
Zunächst aber legte Maria dem Kaiser mit Wischnegradskijs Hilfe ein modernes Schulprojekt vor, das dieser billigte. Obwohl Alexander II. gebildete Frauen nicht leiden konnte, sah er doch ein, dass für die Mädchenbildung dringend etwas getan werden musste. Am 19. April 1858 fand in Anwesenheit der Kaiserin die Eröffnung des ersten Mädchengymnasiums an der Ecke Newskij Prospekt 45/Troizkaja (heute: Rubinsteinstraße) statt. Wyschnegradskij wurde der erste Direktor. Das war der Anfang.
Maria hatte eine Aufgabe gefunden: die Förderung der Mädchen- und Frauenbildung in Russland. Die neuen Schulen standen endlich Mädchen aus allen sozialen Schichten offen, soweit die Eltern das geringe Schulgeld bezahlen konnten. Sie wurden in das „Ressort der Einrichtungen der Kaiserin Maria“ eingegliedert, das der jeweils regierenden Kaiserin unterstand.5 Die Entwicklung dieser Schulen, die nach dem Urteil Peter Kropotkins „von Anfang an vorzüglich organisiert wurden und eine wirklich demokratische Einrichtung erhielten“, hat sie nicht nur gefördert und finanziell unterstützt, sondern sie hat auch die Schirmherrschaft über sie übernommen.6
Die Schulleiterinnen mussten von ihr bestätigt werden. Bis Ende der 1870er Jahre initiierte sie die Gründung von weiteren 32 Gymnasien im Rahmen des Ressorts der Einrichtungen der Kaiserin Maria. Gleichzeitig brachte das Volksbildungsministerium es auf 75 Gymnasien und 159 Progymnasien, die ebenfalls Mädchen aus allen Schichten und Nationalitäten des Vielvölkerreiches aufnahmen.7 Die Schulen wurden ihr zu Ehren Mariengymnasien genannt. Außerdem ließ Maria die ersten Bistumsschulen für Töchter von Geistlichen gründen.
In die Gymnasien wurden die Kinder mit acht Jahren aufgenommen, die Schulzeit dauerte sieben Jahre. Unterrichtsfächer waren Religion, russische Sprache, Geschichte und Erdkunde, Arithmetik, Geometrie, Schönschrift, Handarbeit, Gymnastik, Grundlagen der Naturkunde und Physik, Hauswirtschaft und Hygiene, Französisch und Deutsch, Tanz und Gesang. Zusätzlich wurde ein zunächst einjähriger, später zweijähriger Pädagogikkurs angeboten. Schülerinnen, die den pädagogischen Zusatzkurs absolviert hatten, erhielten ein Zeugnis als Hauslehrerinnen und konnten auf eigenen Füßen stehen. Hauslehrerinnen wurden immer gesucht.
Im Juni 1858 – der Hof war in Zarskoje – waren zwei Männer in St. Petersburg aufgetaucht, von denen man nicht sagen könnte, welcher von beiden der berühmtere war: Alexandre Dumas, der gefeierte Autor der Drei Musketiere und des Grafen von Monte Christo, oder Daniel Dunglas Home, der schottische Spiritist, der erst am Anfang seiner Karriere stand, aber mit seinen Levitationsexperimenten und Klopfgeistgeräuschen bereits in ganz Europa Aufsehen erregt hatte.
Was Dumas angeht, so war das Reisen bekanntlich eine seiner Leidenschaften, und Russland hätte er schon früher besucht, wenn er nicht nach Erscheinen seines Dekabristen-Romans Mémoires d’un maître d’armes (Paris 1840) in Russland zur persona non grata erklärt worden wäre. Nikolaus I. war empört über die positive Darstellung eines aufständischen Gardeoffiziers, dem seine französische Frau in die ewige Verbannung nach Sibirien folgt, und hatte den Roman verboten. Trotzdem wurde er überall heimlich gelesen, auch bei Hofe, und sogar die Kaiserin las ihn. Nach der Thronbesteigung Alexanders II. und dem „Beginn eines liberalen Kurses“ folgte Dumas der Einladung eines russischen Adligen und bekam ein Visum.8 Home befand sich bereits in der Reisegruppe des Grafen Kuschelow-Besborodko, der Dumas sich anschloss. In St. Petersburg gewann er viele neue Freunde und wurde in die großen Häuser eingeladen, sogar zu einem Strauß-Konzert nach Pawlowsk mitgenommen. Den ganzen Juni hindurch redete die Stadt nur von Dumas, jedermann wollte ihn sehen. Eine Einladung an den Hof blieb aus.
Doch Home trat am 10. Juli 1858 im Großen Palast in Peterhof auf, und Anna Tjuttschewa hat die Séance beschrieben. Anwesend waren zwölf Personen, darunter der Kaiser, die Kaiserin, die Kaiserinmutter, Großfürst Konstantin, Kronprinz Karl von Württemberg, Alexej Tolstoj und mehrere Höflinge. „Man setzte uns alle um einen runden Tisch herum, mit den Händen auf dem Tisch; der Zauberer saß zwischen der Kaiserin und dem Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch. Alsbald ertönten in verschiedenen Ecken des Zimmers Klopfgeräusche, die von den Geistern hervorgebracht wurden. Dann wurden Fragen gestellt, denen die Geräusche entsprechend den Buchstaben des Alphabets antworteten.“ Schließlich hob sich der Tisch, eine Hand griff nach der Kaiserinmutter und zog ihr den Ehering vom Finger, dann schüttelte und kniff die Hand alle Anwesenden. Das Entsetzen war allgemein. Kurzum, Anna „hatte keinen Zweifel daran, dass die Teufel selbst sich hier vergnügen“.9
Home und seine Geister hatten so viel Erfolg, dass die Séance tags darauf bei Großfürst Konstantin in seinem Palast in Strelna südwestlich von St. Petersburg wiederholt wurde. Dann folgten „noch viele Séancen, von denen der Herrscher restlos begeistert war“.10 Die Herrscherin war gar nicht begeistert, an den folgenden Sitzungen nahm sie nicht mehr teil, schließlich billigte die orthodoxe Kirche das Treiben der Spiritisten nicht.
Dumas reiste Ende Juli in den Kaukasus weiter, während Home noch in St. Petersburg blieb. Im November1858 und Anfang 1859 sollten die Séancen im Winterpalast stattfinden.11 Was der Schotte in der Zwischenzeit trieb, konnte unsere Chronistin nicht beschreiben, da sie das Herrscherpaar zum zweiten Jahrestag der Krönung nach Moskau begleiten musste.
Schon in Klin verließen Kaiser und Kaiserin den Zug und besuchten die altrussischen Städte des Goldenen Rings mit ihren Kirchen und Klöstern. In Jaroslawl sah Maria zum ersten Mal die Wolga. Sie war hingerissen und dies umso mehr, als es von Jaroslawl mit dem Schiff weiter ging nach Kostroma, wo 1613 der Bojar Michail Fjodorowitsch Romanow zum ersten Zaren gewählt worden war. In den Städten wurde das Kaiserpaar gefeiert, doch die Stimmung auf dem Land war angespannt. Die Bauern waren misstrauisch und unzufrieden. „Was können die Gutsbesitzer schon erwarten, deren Bauern Grund haben, unzufrieden zu sein?“, fragt Anna Tjuttschewa und bleibt eine Antwort schuldig.12 Am Abend des 6. September trafen die Majestäten in Moskau ein, nahmen am nächsten Morgen an einem Gottesdienst in der Uspenskij-Kathedrale teil und begaben sich für ein paar Tage wieder nach Ostankino. Der Ausflug nach Borodino aus Anlass des 46. Jahrestages der berühmten Schlacht von 1812 musste zu Marias größtem Bedauern ausfallen, weil die Straße nach mehrtägigem Regen unpassierbar war. Stattdessen fuhr sie allein – Alexander hatte nach Warschau reisen müssen – ins Kloster Neu-Jerusalem und ließ sich vor der dortigen Auferstehungskathedrale, einer Nachbildung der Grabeskirche in Jerusalem, von einem der Generaladjutanten, der in Jerusalem gewesen war, die Unterschiede erklären. Nach all diesen „touristischen Großtaten“ (Tjuttschewa) kam sie zum 15. Geburtstag des Thronfolgers am 8./20. September erschöpft wieder in Zarskoje selo an. Genau einen Monat später eröffnete sie ein zweites Mädchengymnasium in der Hauptstadt.13 Bis 1866 sollten es sieben werden.
Aber sie machte sich Sorgen über die Lage auf dem Land. Die Berichte ihrer Begleiter von der Stimmung auf den Gütern und in den Dörfern hatten ihr zu denken gegeben. „Die Angelegenheit der Befreiung geht sehr langsam vorwärts wegen der allgemeinen großen Unwissenheit und des passiven Widerstrebens der Hochgestellten“, schreibt sie ihrem Bruder Alex. „In den einzelnen Gouvernements streitet man viel darüber und die Mehrheit ist überall dagegen. Die Lage ist ernst und die Stellung des Kaisers sehr schwierig, da man dabei so wenig oder gar nicht mit ihm geht. Er verliert aber, Gott sei Dank, den Mut nicht.“14
Die Lage auf dem Land war nicht die einzige Sorge, die Maria beschäftigte. Denn am 11. November 1858 hatte der regimekritische Schriftsteller Alexander Herzen in seiner berühmten Zeitschrift Kolokol (Die Glocke), die er im Londoner Exil herausgab, einen Offenen Brief an sie veröffentlicht und eine Debatte darüber ausgelöst, von wem und wie der Thronfolger und seine Brüder erzogen werden sollten.
Nixa schien zu den schönsten Hoffnungen zu berechtigen. „Er machte den vorteilhaftesten Eindruck auf mich“, schreibt Professor Boris N. Tschitscherin, einer seiner Lehrer, über ihn. „Hochgewachsen, schlank, schön, dabei klug, lebhaft und freundlich, konnte er bezaubern und diejenigen für sich einnehmen, die an ihn herantraten. Die ganze Atmosphäre um ihn herum war herzlich und gehoben.“15 Nixa war die große Hoffnung der Liberalen, ein begabter junger Mann, der geeignet schien, das Reformwerk seines Vaters fortzusetzen. Die Zeitgenossen äußern sich jedenfalls nur lobend über ihn. Allein Peter Kropotkin, der ehemalige Page, der Nixa ein paar Jahre aus der Nähe beobachten konnte und keinen Grund hatte, ihm zu schmeicheln oder Rücksicht zu nehmen, sah auch negative Züge an ihm: „Der Thronerbe war von außerordentlicher Schönheit, die vielleicht etwas zu ausgesprochen Weibliches hatte. Er war ganz und gar nicht stolz und unterhielt sich während der Morgenempfänge mit den Kammerpagen in der kameradschaftlichsten Weise. Die ihn aber genau kannten, schilderten ihn als einen durchaus egoistischen, wirklicher Zuneigung zu einem anderen unfähigen Menschen. Dieser Charakterzug war bei ihm sogar noch mehr hervorstechend als bei seinem Vater.“16
Wir wissen nicht, wie Maria ihren Ältesten gesehen hat, wir wissen nur, dass sie ihn abgöttisch geliebt und ihren anderen Kindern vorgezogen hat. Und wahrscheinlich hat sie – wie alle Mütter es getan hätten – die negativen Seiten seines Charakters übersehen. Nun also dieser Brief von Herzen, der mit seiner Zeitschrift die öffentliche Meinung in Russland dominierte. Er war immer ein entschiedener Gegner Nikolaus’ I. und der Selbstherrschaft gewesen, hatte schon in Russland oppositionellen Zirkeln angehört und war 1847 emigriert. Seit 1857 gab er in London den Kolokol heraus, sein Pseudonym war „Iskander“.
„Von Ihnen sagt man, dass Sie klug sind“, schreibt Herzen der Kaiserin, „dass die zeitgenössische Ideenströmung nicht umsonst durch die doppelten Fensterrahmen des Winterpalastes gedrungen ist, von Ihnen sagt man, dass Sie die Bauernbefreiung wünschen. Das ist sehr viel.
Sie lieben Russland, das kann nicht anders sein. Wie sollten Sie dieses Land auch nicht lieben, das Sie mit allen Gütern umgeben und Ihnen den Kaisermantel umgelegt hat. Und das ist nicht alles; zwischen Ihnen und dem Volk hat sich ein anderes Band gebildet. Die Krone, die in der dunklen Zeit des Krieges und der inneren Verödung auf Ihr Haupt gesunken ist, war für das Volk der Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Es hat die neue Herrschaft mit kindlichem Glauben begrüßt. Sie haben mit dem Herrscher jene Ausbrüche der Volksbegeisterung geteilt, die man in Russland nicht mehr gehört hat, seit Alexander I., müde von seinem Triumph, im Jahre 1815 aus Paris in das abgebrannte Moskau zurückkehrte. Wie sollten Sie Russland also nicht lieben!“17
Sie, die Herrscherin, habe ja bereits den Versuch gemacht, ihren Sohn, den künftigen Zaren, vor der „schlimmsten Großfürstenerziehung, d.h. vor der soldatischen, von militärischer Disziplin und deutschem Klientelismus umgebenen Erziehung“, zu retten. „Ganz Russland freute sich, als es hörte, dass Männer von hoher und dabei ziviler Bildung von Ihnen berufen wurden. Viele dachten sogar, dass sie Ihren Sohn auf den Bänken der Moskauer Universität […] sehen werden. Und dass sie ihn dort ohne bereitstehende Generaladjutanten und ohne Deckung durch geheime und offene Polizei sehen, so, wie man in den Hörsälen den Sohn der Königin Victoria sieht. Und wir haben Sie aus der Ferne gesegnet …“
Aber das habe denjenigen nicht gefallen, „die wie ein Klotz jeden Fortschritt, Transparenz [glasnost] und öffentliche Gerichtsverfahren verhindern und sich der Bauernbefreiung in den Weg stellen. Wie konnten diese Leute gleichgültig zusehen, dass Ihr Sohn eine menschliche Ausbildung erhält?“
Aber dann habe sie ihre Meinung schnell geändert und sei beim ersten Schritt steckengeblieben. Aufgrund einer Intrige habe sie nicht nur zugelassen, dass Männer, denen Russland und sie selbst vertraut hatten, aus dem Unterrichtszimmer ihres Sohnes verdrängt wurden, sondern auch, dass „irgendein talentloser deutscher Schulmeister“ ihren Platz einnahm. Das war natürlich eine Anspielung auf Kawelins Entlassung, vielleicht auch auf Gontscharows Abschied.
Dieser Deutsche, der nichts von Russland wisse, nichts mit Russland zu tun habe, würde für ein gutes Gehalt auch den Sohn des Beys von Algier unterrichten. „Was wird dieser Fremde Ihrem russischen Sohn beibringen … oder kennen Sie den hochmütigen Hass der Deutschen auf alles Russische nicht, ihre Abneigung gegen uns, die sie unter der Maske des Klientelismus und der Kriecherei kaum verbergen können […]?“
Natürlich sei Deutscher nicht gleich Deutscher, aber sie habe doch keinen Schiller genommen, sondern August Theodor von Grimm! Einen Schmeichler und Speichellecker, für den Nikolaus I. ein großer Kaiser war, „in dem Russland seinen Stolz und seinen Ruhm fand und auf den das von Wirren erschütterte Europa schaute wie auf den unverrückbaren Polarstern“. Herzen konnte nicht fassen, dass ein Mann mit solchen Ansichten den Thronfolger erziehen sollte. „Ein armer Junge ist Ihr Sohn“, fährt er fort. „Ja, wenn er jemand anderer wäre, ginge er uns nichts an; wir wissen, dass ein großer Teil der adligen Kinder bei uns sehr schlecht erzogen wird. Aber mit seiner Entwicklung ist das Schicksal Russlands verbunden, und deshalb tut es uns in der Seele weh, wenn wir hören, dass ihm dieser Mensch zugeordnet ist […]. Was wäre, wenn Ihr Sohn glaubt, dass Nikolaus der größte Mann des 19. Jahrhunderts war, und ihn nachahmen möchte?“
Im Nachhinein bekam auch Generalmajor Sinowjew noch sein Fett weg. Wo der denn Pädagoge geworden sei, fragt Herzen, und warum der geeigneter gewesen sei als 50 oder 500 andere Divisions- und Sonst-was-für-Generäle, die mit krächzender Stimme kommandieren und Soldaten mit dem Stock erziehen. Hätte man statt seiner nicht gebildete Männer finden können, die keine Epauletten tragen?
„Der Rang eines russischen Zaren ist kein militärischer Dienstgrad“, belehrt Herzen die Kaiserin. „ […] Alles, was Russland fordert, gründet auf Frieden, ist möglich im Frieden. Russland dürstet nach inneren Veränderungen, es braucht eine neue zivile und ökonomische Entwicklung, aber ein Heer behindert das eine und das andere auch ohne Krieg. Ein Heer bedeutet Zerstörung, Gewalt und Unterdrückung; seine Grundlage ist schweigende Disziplin; der Soldat schadet der bürgerlichen Ordnung, weil er nicht urteilt, ihm wurde die Verantwortung abgenommen, die den Menschen vom Tier unterscheidet. „Bringen Sie Ihrem Sohn bei, einen Frack zu tragen, versetzen Sie ihn in den Zivildienst; Sie werden ihm einen riesigen Dienst erweisen. Beschäftigen Sie seinen Verstand mit etwas Edlerem als mit dem ewigen Soldat-Spielen; der Schulraum des Thronfolgers darf kein Wachtraum sein. Das ist eine Eigenart der preußischen Prinzen und anderer kleiner deutscher Fürstlein. Das englische Königshaus ist, so scheint es, nicht schlechter als andere; warum sitzt der Prinz von Wales […] hinter einem Mikroskop und beschäftigt sich mit Zoologie?“
Der russische Thronfolger aber spiele in den Sälen des Winterpalastes mit extra herbeibefohlenen Kadetten Krieg gegen kaukasische Völker. „Welche Leere, welche Armut der Interessen, welche Eintönigkeit … und dabei welch moralischer Schaden! Haben Sie denn nie daran gedacht, was dieses Spiel bedeutet, was es darstellt … – wozu Waffen, Bajonette, Säbel da sind […]?“ Natürlich müsse der Thronfolger das Kriegshandwerk kennenlernen, aber nur als Teil seiner Ausbildung. Finanzielle, zivile, rechtliche und soziale Fragen müsse er sehr viel besser kennen. Kurzum, die militärische Ausbildung der Großfürsten, wie sie bisher gehandhabt wurde, hielt Herzen für schädlich und sinnlos, er hatte sogar Mitleid mit den Großfürsten. „Sehen Sie doch, wie steril ihr Leben ist, wie unnütz ihr Herumirren in Russland … einer fährt Gestüte besichtigen, ein anderer die Wände irgendeiner Zitadelle, der dritte die militärische Haltung der fünften Division oder der fünfzehnten … Es ist schrecklich zu denken, wie weit die Leere der großfürstlichen Existenzen es bei uns gebracht hat.“
Der Brief endet mit einem Appell: „Gebieterin, retten Sie Ihre Kinder vor dieser Zukunft! Ich weiß sehr gut, dass meine Worte, wenn sie zu Ihnen dringen, Sie durch ihre Frechheit erstaunen werden: Die scharfe Sprache eines freien Menschen wird in den Sälen des Winterpalastes unnatürlich klingen. Aber überwinden Sie Ihre Entrüstung, dringen Sie in den Sinn meiner traurigen Worte ein, und Sie finden darin vielleicht Spuren eines großen Schmerzes, der das Herz zerfrisst, und mehr noch den reinen Wunsch nach Russlands Wohl […] als Kränkung und Frechheit.“
Wie Herzen später erfuhr und auch bekannt gab, hat die Kaiserin nach der Lektüre dieses Briefes geweint. Wir können annehmen, dass Maria dem „freien Mann“ in London insgeheim in vielem Recht gab. Aber was konnte sie ändern? Sie war nicht immer einer Meinung mit Alexander, aber sie ging nie gegen seinen Willen an. Sie hatte Kawelins Entlassung nicht verhindern können, und als sie Grimm engagierte, wusste sie nur, dass er der Erzieher ihrer Schwäger Michael und Nikolaus gewesen war, und Alexander hatte nichts gegen den Thüringer einzuwenden, obwohl sein Vater ihn so strikt abgelehnt hatte. Grimms Verhalten Gontscharow gegenüber hat sie offenbar nicht richtig eingeschätzt.
Welche Folgen – außer Tränen – Herzens Offener Brief letztlich hatte, wissen wir nicht. Sicher ist, dass Maria den Brief für Grimm übersetzen ließ, worauf der nur „gallig“ gelächelt haben soll.18 Möglicherweise war die Tatsache, dass die Attacke aus London kam, der Grund dafür, dass Grimm zunächst blieb, zumal bei der Kaiserinmutter gerade sein Roman „Die Fürstin der siebenten Werst“ gelesen wurde, so dass er weiter machen durfte, weil Alexandra Fjodorowna an ihm festhielt. Möglicherweise gab es wieder Streit mit Alexander, aber es ist wohl ausgeschlossen, dass der Kaiser erlaubte, den militärischen Teil der Erziehung seiner Söhne zu reduzieren. Ohnehin fand er seinen Ältesten irgendwie „weibisch“ und beschloss, ihn durch Sport abzuhärten.
Zu allem Überfluss veröffentlichte Herzen im November 1858 unter seinem Pseudonym „Iskander“ auch noch die in Russland geheimen Memoiren Katharinas II. Ihre Veröffentlichung hatte er bereits im September im Kolokol angekündigt. Das Original lag in Moskau im Staatsarchiv, in St. Petersburg kursierten offenbar Abschriften. „Fabelhaft interessant! Ich muss sie leider morgen schon wieder abliefern“, notiert jedenfalls Legationsrat Schlözer, fragt, wie Herzen wohl in den Besitz der Memoiren gelangt war, und stellt fest: „Hier wird mit Geld alles möglich.“19 Doch es war kein Geld im Spiel. Alexander Herzen wurde aus St. Petersburg bestens mit allen wichtigen Informationen versorgt, die in der zensierten Presse nicht erscheinen durften, er hatte zuverlässige Informanten, einer hatte ihm die Memoiren Katharinas nach London gebracht. Und da der Kolokol in ganz Russland gelesen wurde, auch bei Hofe, war man zunächst gespannt, dann verärgert und schließlich allerhöchst schockiert, als die Memoiren im französischen Original bei Trübner & Co in London erschienen. Sie wurden ein Bestseller. Bald folgten Übersetzungen ins Russische und andere europäische Sprachen, und ganz Europa verschlang das Buch. „Herzen tut uns so viel Leid als möglich an mit seinem Kolokol“, klagt Maria ihrem Bruder, „er hat die Memoiren der Kaiserin Katharina veröffentlicht und sagt in der Vorrede buchstäblich, dass die jetzige russische Dynastie nicht von Peter I., sondern von Sergius Soltikoff, dem Geliebten Katharinas, abstamme!“20
Damit könnte Herzen sogar Recht gehabt haben. Die Frage, ob der Kammerherr Sergej W. Saltykow oder Peter III., ihr Gatte, der Vater ihres Sohnes Paul war, wurde bisher jedoch nicht beantwortet. Sie ist längst auch ohne Belang. Aber 1858 war die Behauptung noch gewagt.
Wir können annehmen, dass Otto von Bismarck die Memoiren Katharinas gelesen hatte, als er im März 1859 seinen Dienst als Gesandter des Königs von Preußen in St. Petersburg antrat. Er wurde vom Kaiser und den beiden Kaiserinnen sehr gut empfangen. Alexander behandelte Bismarck fast wie einen guten Bekannten. Beim Essen saß der Gesandte zwischen Kaiser und Kaiserin. „Der Kaiser zeichnet mich in einer Weise aus, die mir die Stellung eines Familiengesandten, wie zur Zeit seines Vaters, gewährt; ich bin der einzige Diplomat, der intimeren Zutritt zu seiner Person hat“, schreibt Bismarck einem Diplomaten in Berlin.21 „Beide Majestäten sprachen mit mir deutsch; die Kaiserin stets, der Kaiser so lange, als nicht von Politik die Rede ist“, schreibt er seiner Frau.22 Aber natürlich konnte Maria, die Hessin, auf die Dauer die Lücke nicht füllen, die Alexandra, die Preußin, bald hinterlassen sollte.
Politisch hatte sich Bismarck schnell orientiert: „Die Große Angelegenheit der Bauernemanzipation bildet unausgesetzt den Gegenstand der Beratungen in den Conseilsitzungen, welche unter dem Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers abgehalten werden …“ schreibt er. „Man sagt mir, dass aus allen Teilen des Reiches die Nachrichten dahin übereinstimmen, dass die leibeigenen Bauern, weit entfernt, durch eine trotzige Haltung und durch ungeduldige Kundgebungen das Werk der Emanzipation zu erschweren, vielmehr in der jüngsten Zeit in einer gegen früher auffälligen Weise alle ihnen gesetzlich obliegenden Leistungen bereitwillig erfüllen und auch sonst die säumigen und passiv widerstrebenden unter ihren Genossen zu gleichem Verfahren freiwillig anhalten. Es sei, sagt man mir, als ob eine allgemeine Verabredung unter diesen Millionen stattfände, durch eine verständige Haltung und durch Kundgebung des vollsten Vertrauens in die Absichten des Kaisers sich das Wohlwollen Sr. Majestät zu sichern …“23
Natürlich ging es auch in diesem Sommer nach Zarskoje Selo und dann nach Peterhof, diesmal jedoch nicht für den ganzen Sommer. Wie das deutschbaltische Pernau’sche Wochenblatt am 1. August 1859 aus Petersburg meldete, waren Kaiser und Kaiserin am 15. Juli in Peterhof an Bord des Dampfers Standard gegangen, um sich, begleitet von den Söhnen Alexander und Wladimir, ins Ostseebad Hapsal im Gouvernement Estland zu begeben, wo der Thronfolger, Alexej und Maria sie bereits erwarteten: „Am darauf folgenden Tage, dem 16. Juli, um halb 2 Uhr Nachmittags, während des Vorbeifahrens an der Insel Worms, wurden Ihre Kaiserlichen Majestäten von I.I. K.K. H.H. dem Thronfolger Cäsarewitsch und dem Großfürsten Alexei Alexandrowitsch und der Großfürstin Maria Alexandrowna, welche Hapsal mit auf dem Dampfer ‚Onega‘ verlassen hatten, bewillkommnet; Ihre Majestäten langten, nach Einschiffung auf letzterem Dampfer um 4 Uhr Nachmittags wohlbehalten in Hapsal an. Im Hafen harrte der Ankunft der Erhabenen Reisenden eine zahlreich versammelte Menge, welche Hochdieselben mit freudigen Hurras empfing.“24
Die Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland, die seit 1721 bzw. 1795 zu Russland gehörten, genossen das Privileg, sich selbst zu verwalten, und viele Angehörige der deutschen Oberschicht machten in St. Petersburg Karriere, so auch Alexander Graf Keyserling, der berühmte Geologe und Paläontologe, der seit 1857 Ritterschaftshauptmann in Estland war. Die kaiserliche Familie verbrachte ihre Ferien gern in den Ostseeprovinzen, weil sie dort immer willkommen war und herzlich begrüßt wurde – der deutschbaltische Adel war für seine besondere Loyalität dem Kaiserhaus gegenüber bekannt.
„Mit freudiger Erregung sahen wir der Ankunft Ihrer Majestäten entgegen“, schreibt Keyserlings Tochter Helene. „Eine Anzahl junger Mädchen aus dem Landesadel in weißen Kleidern und mit Kornblumenkränzen im Haar sollte die hohen Gäste vor dem Schloss empfangen, und auch ich war dazu auserlesen. Unsere Herzen klopften, als wir auf der Schlosstreppe Aufstellung nahmen; […] Auf dem Schlosshof war ein Theil der Gardetruppen in ihren von Gold und Silber glänzenden Rüstungen aufgestellt. Nun nahte die Kaiserin; […] in ihrem Wesen lag etwas so Anziehendes und Vertrauenerweckendes, dass jede Befangenheit vor ihrer einfachen und doch so vornehmen Güte schwand. Nun folgte der Kaiser; er war abgespannt und müde und wollte rasch grüßend vorübereilen, doch die Kaiserin sagt zu ihm: ‚Es ist hier eine Tochter von Keyserling.‘ Ich vergesse nie den Blick, den er auf mich richtete; es lag solch eine schwere Melancholie in seinen großen dunkelblauen Augen, man hätte ihren Ausdruck fast düster nennen können, wenn nicht das wohlwollende Lächeln im Gegensatz zu der Schwermuth des Blicks gestanden hätte. Es war, als ob die Ereignisse ihren Schatten voraus würfen.“25
Nach der Rückkehr aus Hapsal wurde Nixa volljährig, obwohl er am 8./20. September 1859 erst 16 Jahre alt wurde. Aber so wollte es die Tradition: Der Thronfolger wurde mit 16 volljährig erklärt, seine jüngeren Brüder mit 21. Am Tag der Volljährigkeit musste Nixa einen zivilen und einen kirchlichen Eid ablegen, und genau betrachtet wurde er erst dadurch offiziell Thronfolger bzw. Zesarewitsch. Der Eid des Thronfolgers war ein wichtiges öffentliches Ereignis, ein Staatsakt. Den zivilen Eid leistete Nixa in der Großen Palastkirche, den militärischen anschließend im Großen Thronsaal (St.-Georg-Saal), wo er neben dem Thron unter der Fahne seines Kosakenregiments dem Herrscher und dem Vaterland Treue schwor. Auf Befehl des Kaisers musste der Maler Gottfried (Bogdan P.) Willewalde diesen Augenblick im Bild festhalten.
Nach dem Eid reiste Alexander, der seinem Sohn dringend empfohlen hatte, mehr Sport zu treiben, in die südwestlichen Gouvernements, besichtigte Truppen und nahm an Manövern in der Nähe von Poltawa im Zentrum der heutigen Ukraine teil, die er zur Erinnerung an den Sieg Peters I. über den Schwedenkönig Karl XII. in einer der blutigsten Schlachten des Nordischen Krieges im Juli 1709 angeordnet hatte. Während der Manöver folgte er einer Einladung des Fürsten Michail M. Dolgorukow auf sein Gut Tjeplowka in der Nähe Poltawas. Die Idee, Seine Majestät einzuladen, hatte vermutlich Fürstin Wera, die hoffte, in der Suite des Kaisers einen Bräutigam für eine ihrer beiden Töchter zu finden, aber auch der Fürst konnte auf Gnaden hoffen. Die Tochter Katharina („Katja“), eine selbstbewusste Zwölfjährige, schwärmte schon damals für den Kaiser. Die Familie war vollkommen verarmt, weil der Fürst allzu sorglos mit seinem Geld umgegangen war. Als er 1862 starb, sollte Fürstin Wera mit ihren sechs Kindern nach St. Petersburg ziehen, wo sie eine bescheidene Wohnung am Stadtrand mietete und der Kaiser dafür sorgte, dass Katja und ihre Schwester Maria ins Fräulein-Stift aufgenommen wurden, während ihre Brüder ins Pagenkorps kamen.
Wir können annehmen, dass Alexander seiner Frau von der Familie erzählt hat, schließlich gehörten die Dolgorukows zu den ältesten Adelsgeschlechtern Russlands, führten sich sogar auf Rjurik, den legendären Warägerfürsten, zurück. Ganz Petersburg redete von ihrem Unglück. Die Dolgorukows fallenzulassen, konnte sich der Kaiser jedenfalls nicht erlauben. So ging das Jahr 1859 ruhig zu Ende.
Das wichtigste Ereignis des Jahres war natürlich der Eid des Thronfolgers gewesen, aber schon gleich im Januar war der hölzerne Zirkus am (heutigen) Theaterplatz abgebrannt, den der bekannte Architekt Alberto Cavos, ein Sohn des aus Venedig eingewanderten Komponisten Catterino Cavos, Ende der 1840er Jahre gebaut hatte. Der Zirkus war zugleich Theater. An seiner Stelle errichtete Cavos, der nach dem großen Feuerschaden von 1853 das Bolschoj Theater in Moskau wieder aufgebaut hatte, so dass es rechtzeitig zur Krönung Alexanders II. neueröffnet werden konnte, relativ schnell ein neues Theatergebäude, dessen Zuschauersaal architektonisch eine Sensation war. Aus der Zirkusarena hatte Cavos eine hufeisenförmige „italienische“ Opernhalle gemacht, und zum ersten Mal war die Bühne von allen Plätzen aus gut zu sehen, auch von den billigsten.26 Das neue Theater, das zu Ehren der Kaiserin „Marientheater“ (Mariinskij teatr) genannt wurde, eröffnete am 2./14. Oktober 1860 mit Glinkas Oper Ein Leben für den Zaren, und auch danach wurde jede Saison mit dieser Oper eröffnet. Die dem Kaiserlichen Marientheater angeschlossene Ballettschule (heute: Waganowa-Ballettakademie) wurde zur Pflanzstätte des klassischen russischen Balletts. Maria Alexandrowna hat die Schule nach Kräften unterstützt und finanziert.
Zur Eröffnung war die kaiserliche Namensgeberin jedoch nicht erschienen, weil sie gerade ihr achtes Kind entbunden hatte. Paul Alexandrowitsch, der spätere Kavalleriegeneral, kam nach gutem Schwangerschaftsverlauf am 3. Oktober 1860 in Peterhof zur Welt. Paul sah seiner Mutter ähnlich und kam auch sonst nach ihr, er war sehr religiös. In der Familie hieß er Pitz. Politisch nicht sonderlich interessiert, galt er später als der „demokratischste“ der Söhne Alexanders II. und Maria Alexandrownas. Er liebte das sorglose Leben eines glänzenden Offiziers, einen verantwortlichen Posten hat er nie bekleidet.27
Nach Pauls Geburt verboten die Ärzte der Kaiserin angeblich den ehelichen Verkehr, worüber sie wahrscheinlich nicht einmal unglücklich war, denn nach der achten Geburt fühlte sie sich weiteren Schwangerschaften nicht mehr gewachsen.
Im Spätherbst hatte sich der Zustand der Kaiserinmutter so verschlechtert, dass ihre Tochter Olga, die württembergische Kronprinzessin, aus Stuttgart herbeieilte. Am 3. November 1860 starb Alexandra Fjodorowna im Alexander-Palast in Zarskoje Selo. Sie war nicht herz- und lungenkrank, wie die Ärzte jahrzehntelang vermutet hatten, sondern magenkrank und Zeit ihres Lebens falsch behandelt worden. Alexander, der früher als geplant aus Warschau heimkehrte, war ganz elend, er hatte seine Mutter über alles geliebt. „Kaiserin Marie erschien kaum zu den Beisetzungsfeierlichkeiten, da sie eben ihren Sohn Paul geboren hatte …“, schreibt Eveline von Massenbach und fügt hinzu: „Gegen den Rat der Ärzte ist Kaiserin Marie noch erschienen, Abschied zu nehmen von dem Leichnam vor seiner Überführung in die Festung […].“28 Sie hat ihrer preußischen Schwiegermutter nie vergessen, wie warm und verständnisvoll sie sie einst aufgenommen und wie sehr sie ihr in der ersten Zeit in St. Petersburg beigestanden hatte.
Anders als Maria, die sich längst als Russin fühlte, war Alexandra im Grunde ihres Herzens immer Preußin geblieben und hatte Zeit ihres Lebens für das Wohl ihrer beiden Vaterländer, Preußen und Russland, gewirkt. Ihre Rolle als Garantin guter preußisch-russischer Beziehungen ist nicht zu überschätzen. „Der Slawe freut sich, dass nun endlich die ‚deutsche Wirtschaft‘ aufhört“, notiert Kurd von Schlözer an ihrem Todestag. „Die Herren Preußen sind jetzt unten durch.“29 Zehn Tage später schreibt er: „Die kaiserliche Familie wird nun ganz auseinanderfallen, da sie nur noch durch Alexandra Feodorowna zusammengehalten war. Die regierende Kaiserin ist in der Familie so wenig beliebt, dass Großfürsten und Großfürstinnen schon seit Jahren sich immer darum herumgedrückt haben, zu ihr zu gehen. Und der Kaiser selbst ist auch nicht der Mann, um einen Mittelpunkt zu bilden.
Der deutsche Einfluss schmilzt dahin und kann nur noch künstlich aufrechterhalten werden. Das russische Nationalgefühl fängt an, Mode zu werden. Und da das Kaiserhaus bereits als ‚fremdes‘ bezeichnet wird, so mischen sich slawische und antimonarchische Tendenzen. Der Boden des Reiches wird auch in dieser Richtung langsam unterhöhlt. Preußen wird in den Hintergrund treten.“30
Die Entlassung Grimms gleich nach dem Tod der Kaiserinmutter bestätigte Kurd von Schlözer in seiner Sicht der Dinge. „Grimm ist vollständig vom NassljednikA1 entfernt und wird auch wohl bald das Weite suchen müssen: das Slawentum will einen Reinigungsprozess mit sich vornehmen, schmutzig genug ist es. Unbegreiflich, wie man in Russland von Reformieren sprechen kann“, notiert er.31 Grimm habe die Großfürsten im „europäischen Sinn“ erzogen und sei dadurch in Konflikt mit der „nationalistischen Hofpartei“ geraten, glaubte Schlözer. So einfach war es nicht, und Herzen hatte recht: An keinem anderen europäischen Hof wurde der Thronfolger von einem Ausländer erzogen, der sein Gastland verachtete und die Landessprache nicht beherrschte. Über ihr eigenes Land hatte Grimm den jungen Großfürsten wenig beigebracht. Wohl versehen mit einer Pension von 12.000 bis 14.000 Rubel kehrte er nach Deutschland zurück und schrieb eine Biografie Alexandra Fjodorownas, die er Wilhelm I. von Preußen, ihrem Bruder, widmete.
Dass Preußen nicht in den Hintergrund trat, wie Schlözer befürchtete, dafür sorgte eine Zeitlang noch der Gesandte Bismarck, der bis Anfang 1862 auf seinem Posten blieb. Er verstand sich gut mit Gortschakow, und die Freundschaft der beiden war einer der Gründe dafür, dass Russland die deutsche Einigung hinnahm, jedenfalls nicht versuchte, sie zu verhindern.
Kronprinzessin Olga blieb noch in St. Petersburg, bis alle Erbschaftsangelegenheiten geregelt waren.32 Und so hatte Eveline von Massenbach die Zeit, Olgas Neffen und Nichten zu beobachten. „Die kaiserlichen Kinder können so skizziert werden: Nina [sic! statt Nixa, M.B.], der Erbe: angenehmes Äußere, begabt, ein wenig überfein und gekünstelt, eine fast zu empfindsame Natur. Sascha (Alexander III.) [geb. 1845]: ehrlich wie Gold, ein mürrischer Wohltäter mit weitem Herz, noch ohne viel Interessen. Wladimir [geb. 1847]: ein Mann von Geschmack mit sehr entwickelten künstlerischen und kulinarischen Neigungen und einem sehr getreuen Herzen. Marie [geb. 1853]: ähnelt niemand, ist ehrlich, guten, geraden Sinnes und ganz rundlich. Alexis [geb. 1850]: ist schon ganz auf Tanz und Vergnügen aus. Sergius [geb. 1857]: kenntnisreich, zartfühlend, schlau. Paul [geb. 1860]: noch in den Windeln, blieb lange Zeit ein kleiner unergründlicher Mann, jetzt nennt er sich Pitz.“33
Auf die Kaiserin aber warteten neue Aufgaben. Denn ihr unterstand nun das „Ressort der Einrichtungen der Kaiserin Maria“. Dessen praktische Leitung hatte Alexander seinem Cousin Peter von Oldenburg übertragen, einem tüchtigen Verwalter, der die Kaiserliche Schule für Rechtskunde gegründet und schon viele wichtige Ämter bekleidet hatte. Im letzten Herrschaftsjahr Nikolaus’ I. umfasste das Netzwerk seiner Mutter, der Kaiserin Maria Fjodorowna, 365 Bildungs- und Sozialeinrichtungen. Man kann sich leicht vorstellen, dass Maria sich ohne den Prinzen von Oldenburg vollkommen überfordert gefühlt hätte.
Unter dem Eindruck der umfangreichen Wohltätigkeit der tüchtigen Württembergerin scheint sie dann beschlossen zu haben, es ihr nachzutun. Ab 1860 widmet sich Maria Alexandrowna der Bildungsarbeit und der Wohltätigkeit, insbesondere aber der Frauenbildung und der Sorge um Kriegsverwundete. Der Krimkrieg lag noch nicht lange zurück, noch trauerten viele Familien um ihre Toten. Die segensreiche pflegerische Tätigkeit der Florence Nightingale während des Krimkrieges war in Europa bekannt. Es war auch bekannt, dass Nightingale begonnen hatte, das englische Sanitätswesen zu reformieren, und dass sie eine Krankenpflegeschule gegründet hatte. Auch die Aktivitäten Henry Dunants waren am Petersburger Hof bekannt. Wir können annehmen, dass Maria sein berühmtes Buch Un Souvenir de Solferino (1862) gelesen hat, eine Erinnerung an jene verlustreiche Schlacht in der Lombardei im Juni 1859, an der auch ihr Bruder Alex teilgenommen hatte. Dunants Beschreibung des Schlachtfeldes mit Zehntausenden verwundeten und sterbenden Soldaten, die medizinisch unversorgt zurückgeblieben waren, führte 1863 zur Gründung des Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege in Genf, aus dem später das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hervorgehen sollte. All das war auch in Russland nötig. Aber wo sollte sie anfangen? Wer würde ihr helfen?
Sie ahnte nicht, dass zwei tüchtige Helferinnen längst in ihrer Nähe waren: Marfa S. Sabinina, die Musiklehrerin ihrer Kinder Maria und Sergej, und ihre Freundin Maria Frederiks, eine ihrer Hofdamen. Marfa Stepanowna war eine Tochter des Geistlichen Stepan K. Sabinin, der an der russischen Botschaft in Kopenhagen und in Weimar gedient hatte und 1859 mit seiner Familie nach Russland zurückgekehrt war. Seine 1831 in Kopenhagen geborene und in Weimar aufgewachsene Tochter Marfa war eine hochbegabte Pianistin, die bei Clara Schumann und Franz Liszt Unterricht genommen und in Deutschland bereits konzertiert hatte. Sie war auch in Russland schon aufgetreten und hatte Konzerte im Winterpalast gegeben. Dabei war die junge Frau der Kaiserin aufgefallen und zur Musiklehrerin Marias und Sergejs ernannt worden. So hatte Maria noch jemanden um sich, der viele Jahre in Deutschland gelebt hatte. Marfa Sabinina, die ihren Dienst im Oktober 1860 antrat, sollte acht Jahre in ihrer Stellung bleiben. Im Herbst 1866 überzeugte sie den Kaiser von der Notwendigkeit, auch in Russland eine Rotkreuzgesellschaft zu gründen, wie sie seit 1863 in vielen europäischen Staaten entstanden war. Die Kaiserin unterstützte die Idee sofort und versprach, die Schirmherrschaft zu übernehmen. Sabinina und Frederiks machten sich an die Arbeit. Die Gründung der „Gesellschaft zur Versorgung der verwundeten und kranken Soldaten“, der Vorläuferin der russischen Rotkreuzgesellschaft, fand im Mai 1867 statt. Im selben Jahr trat Russland der ersten Genfer Konvention bei.
Doch 1860 dachte noch niemand so weit, auch Maria nicht. Heiligabend wurde für jedes Mitglied der kaiserlichen Familie wieder ein eigener Tannenbaum, eine „Jolka“, geschmückt. An Marias Jolka hingen diesmal Papiere. Es war ein Vertrag über den Erwerb eines Landhauses in Livadia auf der Krim, das Alexander den Erben des Grafen Sewerin Potocki, eines polnischen Adligen, abgekauft hatte, ein Geschenk für seine Frau. Nun sollte der italienische Architekt Ippolit A. Monigetti, der sich schon in Zarskoje Selo bewährt hatte, das Haus zur Sommerresidenz ausbauen. Die Arbeiten dauerten bis Mitte der 1860er Jahre. Natürlich kannte Maria die Krimskizzen von Alexej K. Tolstoj, die er nach einem Aufenthalt auf der Krim im Frühjahr 1856 verfasst hatte, und wir können annehmen, dass sie sich auf die erste Reise auf die Krim gefreut hat.
Aber sie sorgte sich um Nixa, der im Sommer bei einem Ausritt mit seinem Cousin in Zarskoje Selo schwer gestürzt war und sich eine Rückenverletzung zugezogen hatte, die ihn seit Monaten nahezu bewegungsunfähig machte. Sie sah wohl, dass er große Schmerzen hatte. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, so dass es schwer war, den Ernst der Verletzung zu erkennen. Die Ärzte vermuteten Rheuma.
A1 Thronfolger