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„Abends am Ufer des Meeres“

Tod des Thronfolgers

Diagnose der Pariser Ärzte – Telegramm an den Kaiser – Reise nach Nizza – Dagmar von Dänemark – Tod Nixas – Abschied von Nizza – Überführung des Leichnams nach St. Petersburg – Heiligenberg – Beisetzung Nixas – Eid des neuen Thronfolgers – Vorstellung Katja Dolgorukowas bei Hofe – Briefe an Ludwig II. – Heirat Anna Tjuttschewas – Gräfin Alexandra A. Tolstaja – Spaziergänge im Sommergarten – Alexanders Erziehung

1865

Ende Januar 1865 trafen Dr. Nélaton und Dr. Rayer, zwei bekannte Pariser Ärzte, die Napoleon III. zu Konsultationen geschickt hatte, in Nizza ein. Die beiden Professoren untersuchten Nixa und stellten nichts Gefährliches fest, bestätigten vielmehr die Rheumadiagnose ihrer russischen Kollegen und empfahlen warme Duschen und – im Sommer – Schwefelbäder. Maria war dem Kaiser der Franzosen dankbar.1 Nur zu gern glaubte sie auch den französischen Ärzten, an deren Kompetenz niemand zweifelte. Abends spielte Nixa mit seinen Begleitern Schach und diskutierte lebhaft mit ihnen über tagespolitische Fragen. Das körperliche Leiden schien keinen Einfluss auf sein Urteilsvermögen zu haben. Nikolaus Alexandrowitsch war ein außerordentlich kluger und wissbegieriger junger Mann. Seinem Vater schrieb er, dass er sich viel besser fühle.

„Am 20. Februar machte der Thronfolger seine erste Spazierfahrt in offener Equipage“, meldet die offiziöse Petersburger Zeitung Russkij inwalid am 22. Februar 1865 a.St. „Seither vergeht nicht ein Tag, an dem man ihm nicht mit seiner erhabenen Mutter oder einer Person seiner Suite begegnet. Dieser Tage geruhte die Kaiserin in Villefranche zu verweilen und die Fregatte Alexander Newskij zu besuchen.“2 Sie hatte an einem Essen mit Tanz an Deck teilgenommen, zu dem 300 Personen geladen waren. Nixa hätte sie am liebsten begleitet, weil er gern ein paar Stunden auf russischem Boden verbracht hätte. Er hatte Heimweh. Aber es ging ihm nicht gut genug, er sah mager und blass aus.

Hingegen fühlte er sich in der Butterwoche so wohl, dass er sich den Karnevalsumzug in Nizza ansehen konnte. Auch russische Seemannschöre nahmen daran teil, in den Restaurants wurden russische Spezialitäten serviert, und im städtischen Lyzeum begann man, Russisch zu unterrichten.3 Immerhin lebten in der Stadt ständig an die 150 russische Familien, die viel Geld ausgaben und Luxusvillen bewohnten.

Die Diagnose der französischen Ärzte hatte Maria wieder beruhigt. Als Professor Burci aus Florenz mitteilte, dass er die Ansicht seiner Pariser Kollegen nicht teile, sondern von einer „chronischen Entzündung der Wirbelsäule“ ausgehe, die möglicherweise von Nixas Sturz vom Pferd herrühre und die Muskeln angreife, wurde ihr der Brief nicht vorgelegt, obwohl Burci meinte, die Entzündung könne bei richtiger Behandlung geheilt werden. Allerdings befürchtete er die Bildung eines Geschwürs, die er für gefährlich hielt.4 Burcis Meinung teilte nur Professor Sdekauer, der kaiserliche Leibarzt, der in St. Petersburg geblieben war. Die behandelnden Doktoren vor Ort diagnostizierten „einfach Malaria, ein örtliches Fieber“ und verordneten weiter Chinin und passive Gymnastik.5 Die ständigen Rücken- und Kopfschmerzen und die Übelkeit ihres Patienten gaben ihnen nicht zu denken. Bei den Dehnübungen auf einem Brett schrie Nixa vor Schmerzen. Die Behandlung half nicht, und da es dem Thronfolger nicht besser ging, sondern schlechter, wurde sie von seiner Umgebung als falsch empfunden.

Anfang März verschlechterte sich Nixas Zustand wieder. Die Schmerzen in Kopf und Rücken wurden unerträglich, der Kranke erbrach sich ständig und konnte kaum noch schlafen. Er war nun schon so schwach, dass er nicht mehr aufstand. Seine Mutter, die täglich nach ihm sah, blieb auf Anraten der Ärzte nur Minuten bei ihm, weil die Herren ihr versichert hatten, dass längere Anwesenheit den Kranken ermüden könne. Sie fügte sich, wie sie sich immer fügte, und besuchte ihn nur einmal am Tag für ein paar Minuten. „Mamotschka, warum bist du nur so selten bei mir?“, fragt er sie einmal mit schwacher Stimme. Sie entschied sich, lieber auf die Ärzte zu hören.6 Ihre Umgebung verstand ihr gehorsames Leiden nicht, empfand ihr Verhalten als unnatürlich. Nachts hörte nur die Dienerschaft den Kranken stöhnen und weinen und kümmerte sich um ihn. Sonst verstand niemand, dass er sich allein gelassen fühlte, auch seine Mutter nicht.

Er konnte nun nicht mehr ausfahren, stattdessen wurde er im Sessel in den Garten getragen. Auch das strengte ihn über die Maßen an, während die Kopfschmerzen, das Erbrechen, die Reizbarkeit, das Fieber und die Schlaflosigkeit weiter zunahmen. Nur die Dienerschaft wusste, wie es wirklich um ihn stand, sein alter Kammerdiener Kostin und die Kammerfrau Makuschina, die auch nachts bei ihm waren. Alle anderen machten sich etwas vor.

Die Tage vergingen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Ende März wurde der Kranke aus der Villa Diesbach am Quai des Anglais in die Villa Bermond weiter landeinwärts verlegt, die in einem riesigen Park lag und schon früher von Mitgliedern der kaiserlichen Familie bewohnt worden war. Die Ärzte waren der Ansicht, dass das Rauschen des Meeres die Nerven des Kranken belastete und seine Schlaflosigkeit verursachte.

Es war Palmsonntag, der Tag, an dem Alexander II. in St. Petersburg in Vertretung seiner Frau offiziell das Fräuleinstift besuchte und die Dolgorukij-Schwestern wiedersah, Katharina und Maria, die zu außerordentlich hübschen jungen Damen herangewachsen waren. Besonders Katja, die Ältere, die ihm nach den Manövern bei Poltawa in Teplowka so kess entgegengetreten war, gefiel ihm sofort. Mittelgroß, schlank, elfenbeinfarbener Teint, große helle Mandelaugen, kastanienbraunes Haar. Im November war sie 17 Jahre alt geworden und im Begriff, ihre Schulbildung abzuschließen und das Institut zu verlassen. Niemand konnte ahnen, der Kaiser selbst nicht und schon gar nicht die Kaiserin im fernen Nizza, dass sich aus dieser Begegnung eine langjährige Liebesgeschichte zwischen dem Herrscher und der Fürstin entwickeln würde, die das Haus Romanow bis in die Grundfesten erschüttern sollte.

Fasten konnte Nixa in der Karwoche nicht, aber an warmen Tagen fuhr er wieder aus, und das Journal de Nice meldete, dass sich der Zustand des Thronfolgers, den man täglich in offener Kutsche auf den Boulevards sehe, unter dem Einfluss des Nizzaer Klimas entscheidend gebessert habe.7 Solche Nachrichten waren Balsam auf Marias Seele, obwohl es keinen Grund für Optimismus gab. Anfang April hatte Nixa Sehstörungen, er sah Doppelbilder. Ostern konnte er nicht am Gottesdienst in der orthodoxen Kirche an der Rue Longchamp teilnehmen, nicht einmal die Osterwünsche seiner Suite entgegennehmen. Der 4./16. April 1865 (Ostersonntag) war der 25. Verlobungstag seiner Eltern. „Diese Minute, die das Glück meines ganzen Lebens begründet hat“, schreibt der Kaiser seiner Frau, „ist mir in Erinnerung, als hätte ich sie gestern erlebt, und ich höre nicht auf, Gott aus der Tiefe meines Herzens Tag und Nacht für sie zu danken. Möge Gott Dich bewahren, mein geliebter Engel, und alle unsere lieben Kinder.“8

Maria war gerührt. In ihrem Gottvertrauen war sie unfähig, den Ernst der Lage zu erkennen. Die Blindheit sei allgemein gewesen, schreibt Anna Tjuttschewa, die natürlich auch in Nizza dabei war.9 Und sie hielt an. Maria konnte nicht einmal den Gedanken zulassen, dass sie den geliebten Sohn verlieren könnte. Im April lehnte sie ein erneutes Konsilium unter Teilnahme örtlicher Ärzte ab. Sie hasste Konsilien. Stattdessen bat sie ihren Bruder, nach Nizza zu kommen. Alexander von Hessen kam sofort und brachte seine Frau mit.

Am 5./17. April hatte Nixa eine Gehirnblutung, die zu einer halbseitigen Lähmung führte. Nun erst begriffen die Ärzte, dass sie sich geirrt hatten, dass der Thronfolger an einer Gehirnentzündung litt und dass die Krankheit ihr letztes Stadium erreicht hatte.10 „Das ist das Ende. Er muss das Heilige Abendmahl empfangen. Er selbst ist nicht mehr für sich verantwortlich“, zitiert die Tjuttschewa einen der Ärzte, Dr. Hartmann. „In diesem Augenblick kam die Herrscherin aus ihrem Zimmer. Hartmann hatte ihr schon mitgeteilt, dass es schlecht aussieht, aber sie machte sich noch keinen Begriff vom Ausmaß der Gefahr. ‚Was soll ich dem Herrscher im Telegramm schreiben‘, fragte sie. ‚Herrin‘, sagte er nach einer Minute Schweigen, ‚es ist eine Gehirnblutung!‘ Da schrie sie auf: ‚Sie haben mich betrogen, Sie haben nicht die ganze Wahrheit gesagt.‘ Sie griff sich ans Herz, aber nach einem Augenblick fasste sie sich wieder. ‚Ich muss ruhig sein, ich muss jetzt nur an den Herrscher denken.‘ Und ging in ihr Zimmer, um ein Telegramm aufzusetzen.“11 Es war dieses Telegramm, das Alexander II. veranlasste, sich umgehend auf den Weg nach Nizza zu machen. Er wusste nun von der Gehirnentzündung und war sich nicht sicher, ob er seinen Sohn noch lebend vorfinden würde. Auch plagte ihn sein Gewissen, weil er Nixa ständig angehalten hatte, mehr Sport zu treiben, vor allem zu reiten. War er nicht für seinen Sturz verantwortlich?

Auch Anna Tjuttschewa schickte Telegramme an Bekannte in Moskau und St. Petersburg, die in allen Kirchen der beiden Hauptstädte Gebete für die Gesundung des Thronfolgers bestellen sollten. Wenig später hörte sie aus Moskau, dass allein im Kreml 20.000 Menschen für Nikolaus Alexandrowitsch gebetet hatten. Das ganze Land betete für ihn. Wenn so viele Menschen für ihn beteten, wie sollte er da nicht gesund werden?

Die Frage war, ob Nixa das heilige Abendmahl empfangen sollte oder nicht. Wenn ihm das Sakrament vorgeschlagen wurde, würde ihm sein Zustand bewusst werden, würde er verstehen, dass er sterben musste. Das wollte ihm niemand zumuten. Schließlich überredete Alexander von Hessen seine Schwester, ihren Sohn kommunizieren zu lassen, solange er bei Bewusstsein war.

„Seit heute früh hat sich der Zustand des Großfürsten-Thronfolgers so sehr verschlimmert, dass wenig Hoffnung besteht, ihn noch zu retten“, schreibt Julie von Battenberg am 17. April ihrer Tochter Marie: „Welch entsetzlicher Schlag für die Kaiserin! Sie ist von bewunderungswürdiger Tapferkeit. Sie selbst, die arme, verzweifelte Mutter, hat es übernommen, ihren geliebten Sohn zur Feier des heiligen Abendmahles zu veranlassen, mit allen Vorsichtsmaßnahmen, um den Kranken nicht zu erschrecken. Papa ist immer bei der Kaiserin, ich meistens auch, oder im Nebenzimmer. Welch traurige Ostertage! – Seit einigen Tagen macht die ganze schöne Gegend einen melancholischen Eindruck, sogar das Meer. Man hat dem Kaiser telegraphiert, dass er abreisen soll, aber ich fürchte, er kommt zu spät! Was würde ich darum geben, um ihm dieses Leid zu ersparen! Gott gebe der armen Kaiserin Kraft! Wie furchtbar ist dieser Aufenthalt in Nizza! – Deine traurige Mama.“12

Schon Ostersonntag, den 4./16. April, war als erster Alexander Alexandrowitsch aufgebrochen, um dessen Besuch Maria gebeten hatte. Er kam am 8./20. April um 3 Uhr morgens in Nizza an und brachte Professor Dr. Sdekauer, den kaiserlichen Leibarzt, mit, der Carlo Burcis Diagnose richtig fand.

Auch den Großfürsten ließen die Ärzte zunächst nicht ins Krankenzimmer, weil sie befürchteten, dass seine Ankunft den Kranken zu stark aufregen würde. Als Nixa seinen Bruder dann wahrnahm, war seine Freude groß, er war sogar in der Lage, ihm den Verlauf seiner Krankheit Tag für Tag zu schildern. Saschas Anwesenheit beruhigte ihn. Dann untersuchte Sdekauer den Kranken gründlich. Das Ergebnis war niederschmetternd: Meningitis cerebro-spinalis. Hoffnung auf Rettung gebe es nicht, erklärte der Arzt der Kaiserin, „entweder der Tod oder Gehirnerweichung, d.h. völlige Verblödung.“ Darauf antwortete sie, starr vor Scheck: „Plutôt la mort!“A113 Nun bestand Sdekauer darauf, Dr. Oppolzer aus Wien und Dr. Pirogow aus Petersburg nach Nizza zu bitten.

Der Kaiser, Wladimir und Alexej verließen St. Petersburg am Dienstag, dem 18. April, abends um 23 Uhr. Wie vor jeder längeren Reise waren sie am Nachmittag zum Gebet in der Kasaner Kathedrale gewesen, und wie immer hatte eine riesige Menschenmenge auf den Herrscher gewartet. Als er aus der Kirche trat, hörte er Stimmen: „Hab keine Angst, Gebieter, wir beten ihn da raus!“14 Volkes Stimme, Gottes Stimme? Drei Tage und vier Nächte später, am Sonnabend, dem 22. April, um 5 Uhr morgens kamen sie in Nizza an. Sie hatten die Strecke in 85 Stunden zurückgelegt, unerhört schnell für damalige Verhältnisse. Auf dem Bahnhof in Berlin wartete Onkel Willy (Wilhelm I.), in Paris kam Napoleon III. an den Zug, und in Dijon wurde ein Zug mit der dänischen Königin Luise, ihrem Sohn, dem Kronprinzen, und ihrer Tochter Dagmar, der Verlobten des Kranken, an den kaiserlichen Zug angekoppelt.

Auf dem Bahnhof in Nizza wurden Alexander und seine Söhne von vielen Landsleuten mit verweinten und traurigen Gesichtern begrüßt. Niemand schrie Hurra, wie es sonst üblich war. Die Menge wartete schweigend. Auf dem Bahnsteig stand Alexander Alexandrowitsch mit verweintem Gesicht, blass und mager, neben ihm Fürst Wjasemskij, der Dichter, der nicht von der Seite der Kaiserin gewichen war und die dramatischen Apriltage in Nizza später in einem Prosatext unter dem Titel „Villa Bermont“ beschrieben hat.

Als Maria dem Kranken sagte, dass der Vater stündlich erwartet werde, erriet er sofort, dass er schon da war. „Papa ist hier, im anderen Zimmer – er soll hereinkommen.“ Mit dem Kaiser durfte nun auch Alexander Alexandrowitsch eintreten. Nixa war froh, seinen Vater und seinen Bruder zu sehen. Er fiel nun häufig in Ohnmacht, meistens war er jedoch bei Bewusstsein und bekam alles mit, was sich im Zimmer und nebenan tat. Wenn er phantasierte, waren anfangs alle erstaunt über das, was er sagte. Er hielt eine druckreife Rede vor imaginären Abgeordneten, stellte vollkommen vernünftige Fragen und kommandierte ganze Regimenter. Eine Zeitlang sprach er noch klar und im Zusammenhang, worauf wieder Hoffnung aufkam, doch je schwächer er wurde, desto weniger sprach er, bis er nur noch einzelne Worte herausbrachte.

Als Dagmar zu ihm ans Bett trat, strahlte er vor Freude, lachte laut, küsste ihr die Hand und fragte seinen Vater: „Ist sie nicht allerliebst, Papa?“ Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sein Herz, bedeckte sie mit Küssen. „Mein Engel, meine Liebe, Seelchen.“ Wieder keimte Hoffnung auf.

Doch in der Nacht vom 11./23. auf den 12./24. April verschlechterte sich sein Zustand so stark, dass auch Dagmar um 7 Uhr morgens an sein Bett gerufen wurde. Nixa erkannte die Anwesenden noch und begrüßte alle. Mittags erhielt er zum zweiten Mal das Heilige Abendmahl, danach verabschiedete er sich von seinem Gefolge, indem er zu jedem einzelnen zweimal „Lebewohl“ sagte. Im Zimmer blieb nur die Familie. Am rechten Kopfende stand Alexander, der geliebte Bruder, am linken Kopfende stand Dagmar, die geliebte Braut. Nixa hielt beide an der Hand. Wie oft hatte er Má gesagt, dass er nicht wisse, wen von beiden er mehr liebe, Sascha oder Dagmar. Die Eltern standen am Fußende. Nun bat er seinen Vater: „Papa, pass auf Sascha auf; das ist ein so ehrlicher, guter Mensch.“ Gegen 3 Uhr hob er noch einmal beide Hände und griff nach Alexander und Dagmar. Der Legende nach soll er ihre Hände ineinander gelegt haben, um ihnen zu zeigen, dass sie nun zusammengehörten. Seine letzten Worte richtete er gegen 4 Uhr in vollem Bewusstsein an Dr. Hartmann, sie galten seiner Mutter, deren Hand er noch ergreifen konnte. „Kümmern Sie sich gut um sie!“ Danach sagte er nichts mehr außer „Stopp, Maschine!“ Vor zehn Jahren waren das auch die letzten Worte Nikolaus’ I., seines Großvaters, gewesen …

Am Morgen dieses 23. April war doch noch Professor von Oppolzer, der Wiener Arzt, eingetroffen und hatte nach gründlicher Untersuchung des Kranken die Diagnose seiner Kollegen Sdekauer und Burci bestätigt: Meningitis cerebro-spinalis, aber noch hinzugefügt: tuberculosa. Das sei eine Krankheit, deren Symptome immer erst spät erkannt würden, wenn es schon keine Hoffnung auf Heilung mehr gebe.15 Ein schwacher Trost. So hatte Alexander von Hessen womöglich recht, als er in sein Tagebuch eintrug: „Also ist die ganze Behandlung seit Monaten eine grundfalsche.“16

Nixa starb am 24. April 1865 kurz vor 1.00 Uhr, nachdem ihm noch den ganzen Tag Moschus verabreicht worden war, den er absolut nicht vertrug und immer wieder erbrach. Er war 21 Jahre alt. Der Kaiser schloss ihm die Augen. Am lautesten weinte Wladimir, am wenigsten die Kaiserin, sie war sehr willensstark.17 Prinzessin Dagmar wurde mit Macht von ihrem toten Bräutigam weggezogen und aus dem Zimmer getragen. Bevor am nächsten Morgen die erste Totenmesse begann, wurde ein großer Korb mit weißen Rosen gebracht, die Maria sorgfältig um ihren toten Sohn legte. Der Geistliche und der Diakon waren so erschüttert, dass sie vor Tränen kaum beginnen konnten. Alle weinten und schluchzten laut. Während des Gottesdienstes fiel Maria in Ohnmacht. Die Großfürsten bestanden darauf, im Wechsel mit den Generaladjutanten die Totenwache zu halten, und auch Fürst Wjasemskij wachte eine Nacht lang neben dem Verstorbenen.

Alexander II. gab den Tod des Thronfolgers und die Ernennung seines zweiten Sohnes Alexander zum neuen Zesarewitsch per Manifest bekannt. Viele Zeitgenossen hielten Alexander für ungeeignet und hätten Wladimir vorgezogen. Doch nach dem Thronfolgegesetz seines Großvaters, des Kaisers Paul, aus dem Jahr 1797 konnte Alexander II. gar nicht anders handeln, auch wenn er gewollt hätte. Anders als sein Bruder war Alexander kräftig gebaut und strotzte vor Gesundheit. Er war groß und breitschultrig und sah älter aus, als er war. Aber es gibt kaum ein positives Urteil über den neuen Thronfolger, nur seine Mutter und sein Bruder Nixa lobten die trefflichen persönlichen Eigenschaften der „kleinen Bulldogge“. Zum Lernen hatten seine Lehrer ihn nicht bringen können. Im Wissen darum, was nun auf ihn zukam, bot er einen jämmerlichen Anblick.

Die Nachricht vom Tode des russischen Thronfolgers erschütterte ganz Europa. Noch nie war ein Thronerbe so jung und so qualvoll gestorben. Auch die Diplomaten in Petersburg waren fassungslos. „Großfürst Nikolaus wird seinen Zeitgenossen als anziehende und poetische Gestalt in Erinnerung bleiben“, schreibt Charles de Talleyrand-Périgord, der französische Botschafter in St. Petersburg, seinem Minister nach Paris. „Die von Natur lebhafte Einbildungskraft des russischen Volkes war tief beeindruckt von dem Tod dieses Prinzen, der fern der Heimat mit zwanzig Jahren gestorben ist und auf den es verfrüht so große Hoffnungen gesetzt hat. Ich muss hinzufügen, dass alle Gesellschaftsklassen einig in dem Vorwurf gegen die Umgebung des Großfürsten sind, weil sie nichts bemerken wollte, ebenso wie gegen die Ärzte, die den Ernst des Leidens, dem er erlegen ist, nicht zu erkennen wussten. Kurz, man ist entrüstet über diese neue Verschwörung des Schweigens, die sich abermals um den Kaiser gebildet hatte, den man in vollster Sorglosigkeit ließ.“18

Am Abend des 26. April wurde der Leichnam beim Schein von Fackeln und Kerzen in die kleine russische Kirche in der Rue Longchamp gebracht, die Alexandra Fjodorowna, Nixas Großmutter, Ende der 1850er Jahre hatte bauen lassen. Am 28. April wurde der Sarg nach Villefranche überführt, wo die Fregatte Alexander Newskij ihn an Bord nehmen sollte, die Nixa im Herbst aus Genua abgeholt und zu seiner Mutter gebracht hatte. Ganz Nizza folgte dem achtspännigen Leichenwagen, der von berittenen Gendarmen und Einheiten der französischen Armee begleitet wurde, und sah zu, wie er vorsichtig auf einer Tragbahre auf die Alexander Newskij gehievt wurde, die ihn nun nach Kronstadt bringen sollte. Abends am Ufer des Meeres überschrieb Fürst Wjasemskij sein Gedicht über die Heimkehr des Zesarewitsch, der „gleich einem Engel“ nur „ein flüchtiger Gast auf Erden, aber kein Erdenbewohner“ war.

Am 29. April verließ das Kaiserpaar mit Alexander, Wladimir und Alexej Nizza. Dagmar von Dänemark begleitete sie. Am 3. Mai nahmen sie in Darmstadt an einer Totenmesse im Alten Palais teil und kamen am 7. Mai wieder in Jugenheim bzw. auf dem Heiligenberg an, wo Olga Nikolajewna sie noch einmal sehen wollte. Eveline von Massenbach, ihre Hofdame, notiert: „6. Mai Abreise nach Ingelheim. Die Königin wollte den Kaiser und die Kaiserin treffen, während der Leichenzug die Reise über das Meer, von Villefranche bis Kronstadt, machte. – Wir steigen im Tal ab, im Haus van der HoopA2 mit unseren sehr bewunderten Pferden, damit Ihre Majestät leichter den Heiligenberg erreichen konnte. Den ersten Abend verbrachten wir mit der Prinzessin Dagmar, die mit uns gekommen war und über Rumpenheim nach Kopenhagen zurückreiste […] Der Großfürst Alexander ist mager geworden und macht den Eindruck, als könne er seine Aufgabe nicht in Angriff nehmen und sie sich doch manchmal selbst vor Augen zu führen. Was die Kaiserin betrifft, so merkt man auf den ersten Blick fast nichts außer vielleicht ihrer übergroßen Magerkeit, aber dann fühlt man, dass ihr mehr als gewöhnlicher Schmerz innewohnt. Sie macht den Eindruck, als lebe sie nur äußerlich.

Zu ihrer Umgebung ist sie lieb, geduldig, lächelnd und nimmt an allem teil, freilich nicht ohne einige Müdigkeit, doch versucht sie, wie immer zu sein. Trotzdem tut es einem weh, sie zu sehen, denkt man an all den Schmerz, der sich in ihr angesammelt hat und der sie verzehrt. Er wird gewiss so lange währen, wie ihr durch den Verlust dieses Lieblingssohnes gebrochenes Herz schlägt.“19

Allerdings konnte sich die Umgebung „über den Mangel an Pflege, Wachsamkeit, Fürsorge während der Krankheit des Großfürsten und wie man ihn unnötig hat leiden lassen, nicht beruhigen. Man gebraucht dabei die stärksten Ausdrücke und berichtet entsetzliche, traurige Einzelheiten. Die Familie will in dem, was geschehen ist, nur den göttlichen Willen sehen. Anna Tutscheff sagt unter Tränen, ‚dass man dem lieben Gott doch gar zu breite Schultern zumutet‘.“20 Dem konnte Frau von Massenbach nur beipflichten. Alle fühlten aufrichtig mit der Familie, auch diejenigen, die Nixa nicht gekannt hatten.

Doch an Ludwig II., der Nixa im Vorjahr auf dem Heiligenberg kennengelernt hatte, schreibt Maria: „Ich wusste, dass wenige unseren Schmerz so innig mitfühlen und theilen würden wie Du, lieber Ludwig, der unseren theuren Verklärten in Dein Herz geschlossen hattest, wofür ich Dir immer dankbar sein werde. Von meinem Schmerz versuche ich nicht einmal zu sprechen, Du weißt, was er für mein Mutterherz war u. wie innig unser Verhältnis war, so wie es wohl niemals mit einem meiner anderen Söhne wird sein können, obwohl sie alle u. besonders Sacha, mich tief gerührt haben, in dieser Schmerzenszeit. Armer Sacha, der in seinem Bruder nicht nur seinen besten Freund verloren hat, sondern ihn auch ersetzen muss, er ist tief ergriffen von dieser doppelten Prüfung u. thut mir in der Seele leid! Sein liebendes Herz u. sein bescheidener, demüthiger Sinn sind beide gleich getroffen. Der Kaiser dankt Dir herzlichst für Deine liebevolle Theilnahme, das Wiedersehen mit ihm u. mit Dagmar waren Nixas letzte Freude hienieden […] Dass er so viel leiden musste, war die schrecklichste Prüfung meines Mutterherzens! […] Gott segne Dich. Marie.“21

Doch dem Kaiserpaar stand noch ein schwerer Schritt bevor: die Beisetzung in der Peter-und-Paul-Festung. Editha von Rahden, die deutschbaltische Hofdame der Großfürstin Jelena Pawlowna, hat sie in einem Brief an Eveline von Massenbach beschrieben: „Die traurigen Tage der vergangenen Woche haben mehr als je die Schmerzen der kaiserlichen Familie und des ganzen Landes geweckt. Wie soll ich Ihnen die Überführung des Leichnams von Kronstadt zur Festung schildern? Die Ankunft des Dampfschiffes und die Landung am englischen Kai werden eines dieser unbeschreiblichen und rührenden Bilder bleiben, vor denen das Wort verstummt. Ich werde nie den Augenblick vergessen, da, angekündigt durch das zuerst verschleierte, dann immer lauter werdende Echo der Kanonen, das Schiff mit der sterblichen Hülle des Großfürsten langsam die Newa hinauffuhr. Ein goldener Baldachin erhob sich auf der Brücke, ganz umgeben von Blumen und Laubwerk. Der Sarg mit seiner Totenwache, seinen großen Kerzen und seiner Hermelindecke, nahm die Mitte ein. Der Kaiser und seine Söhne, aufrecht auf dem Deck, waren von tiefem Schmerz bewegt. Das Schiff glitt schweigend durch die stummen Wellen, es machte gewissermaßen einen ‚sagenhaften‘ Eindruck, poetisch und glänzend zugleich. Was soll ich Ihnen über die Haltung der Bevölkerung sagen? Niedergeschlagen, unbeweglich drängte sich die Menge an der Vorbeifahrt des Trauergeleits. Alle Häupter waren entblößt, alle Herzen ergriffen. Ein General der Garde erzählte mir, dass die Soldaten weinten, während sie präsentierten. Der Isaakplatz mit dem Monument Peters des Großen, die Kathedrale, das Totengeläute der Glocken, die Gesänge der Geistlichen und der Aufwand des Trauerzugs waren beeindruckend und prächtig. Nichts hat dieser Feierlichkeit gefehlt, weder der Glanz der Größe noch die Tränen, weder die Sympathien des Volkes noch der ideale und bewegende Reiz, der die begleitet, die Gott jung zu sich ruft und die viel gelitten haben. Während der Tage, die der Beisetzung vorausgingen, sprach man nur vom Großfürsten. Moskau hatte drei Deputationen entsandt, die Innenministerien waren durch die Marschälle des Adels und die Gouverneure vertreten. Bemerkenswert ist, dass all dies spontan, freiwillig erfolgte, diktiert vom aufrichtigsten Gefühl. Die Donkosaken hatten wie recht und billig eine zahlreiche Abordnung unter der Führung […] ihres Atamans entsandt. Wieviel ersticktes Schluchzen habe ich gehört, wieviel verstohlene Tränen hab ich diese Braven abwischen sehen: der Großfürst hatte bei ihnen eine unauslöschliche Erinnerung hinterlassen.

Die gestrige Feierlichkeit war herzzerreißend. Der Kaiser tat einem in der Seele weh. Am Rande der Gruft, in die man seinen heißgeliebten Sohn gebettet hatte, kniete er nieder, faltete die Hände und weinte bitterlich, als wollte ihm das Herz zerbrechen. Kein Auge blieb angesichts dieses großen Schmerzes trocken. Gott erhalte uns den Kaiser! Gott stütze ihn angesichts seiner Prüfungen! […]

Die Kaiserin hat den Trauerfeierlichkeiten nur einen Vormittag beiwohnen können, aber sie ist mehrmals allein zum Gebet am Sarg ihres Sohnes gekommen. Gegenwärtig ist alles vorüber, das Leben nimmt wieder seinen gewohnten Gang. Aber im Grund des Herzens ist ein Heiligtum, wo nichts, das stirbt, keinen Platz hätte und der Großfürst ruht so im Herzen Russlands selbst.“22

Natürlich erstatteten auch die Diplomaten ihren Ministern Bericht über die Beisetzung. Einen der Besuche Marias in der Festung hat Botschafter Charles de Talleyrand-Périgord beschrieben: „Die Kaiserin hat sich, vom Kaiser begleitet, am Dienstag sehr spät in der Nacht, in die Festung begeben, um an der Bahre ihres Sohnes zu beten. Man sah, wie sie sich über den offenen Sarg warf, die Leichentücher und die über das Antlitz ihres Sohnes gebreiteten Schleier entfernte und ihn mit Küssen bedeckt. Der Kaiser rang mit ihr, um sie dieser schmerzlichen Umarmung zu entziehen. Eine halbe Stunde hielt er sie in seine Arme geschlossen, um sie die sterblichen Überreste des Großfürsten betrachten zu lassen und seine Tränen und sein Schluchzen mit den ihren zu vereinigen.“23

Am Tag der eigentlichen Beisetzung schreibt Talleyrand – ähnlich Editha von Rahden – voller Mitgefühl: „Heute […] drohte der Mut Seine Majestät trotz seiner Seelenstärke mehr als einmal zu verlassen. Im Augenblick, da der Sarg geschlossen wurde, ließ er seinen Tränen freien Lauf und nahm den Großfürsten-Thronfolger Alexander leidenschaftlich in seine Arme. Die Rührung hatte übrigens alle Anwesenden ergriffen, und der Kaiser setzt den Leichnam seines Sohnes in der Gruft bei, unterstützt von allen seinen Familienmitgliedern und inmitten der aufrichtigen Äußerungen einer tiefen und ehrerbietigen Sympathie.“24

Am Morgen nach der Beisetzung wurde Innenminister Walujew in Zarskoje Selo zum Vortrag empfangen. „Der Herrscher ist traurig, hat abgenommen, sein gewohnter Gesichtsausdruck hat sich verändert“, notiert er. „Der allgemeine Eindruck ist, dass er tief trauert […]. Ich sah die Kaiserin, blieb ziemlich lange bei ihr. Sie hat sich stärker verändert als der Herrscher und ist stärker als er erfüllt vom Gegenstand der Trauer. Sie weint. Sie ist weicher geworden, aber früher war sie weniger empfänglich, nachgiebig und weich als der Herrscher. Sie redet fast ausschließlich von ihrem Sohn. Von ihr habe ich verschiedene Einzelheiten gehört, die mir zum Teil schon Sdekauer berichtet hat. Die letzten Worte des Zesarewitsch waren folgende: Stopp, Maschine! Das einzige Zeichen des Bewusstseins vom nahenden Tod war der Abschied von der Umgebung am Samstag, dem 10., und die Worte zu Dr. Hartmann: ‚Kümmern Sie sich um sie [die Mutter, M.B.]‘.“25

Aber wie konnte der Arzt sich um die verwaiste Mutter kümmern? Und wollte sie Anteilnahme oder Fürsorge überhaupt? „Der Tod ihres ältesten Sohnes, des Thronfolgers, dem ihre ganze Sorge gegolten hatte, gab ihr den letzten Schlag“, schreibt Olga Nikolajewna. „Von 1865 an war sie nicht mehr die Ehemalige: Jeder Klarsehende konnte bemerken, dass sie innerlich abgedankt hatte und nur mehr hinnahm, was ihr geschah. Wer möchte sagen, solches Brechen ihrer Kraft habe nur an den Umständen gelegen. Ihre Einstellung, ihre Schau der Welt, die wie bei jedem Menschen mehr oder weniger hart mit dem zusammentraf, was ihr begegnete, trug mit Schuld daran. Sie hatte ihre eigenen Ideen, ihre vorgefassten Meinungen vor allem in Dingen der Religion und des Glaubens.

Wie alle Convertiten war sie eifrig bestrebt, sich an die Dogmen zu halten, und hier war der Punkt, wo sie mit Sascha disharmonierte; denn er liebte, wie Mama, das Leichte und Freudige in Dingen des Glaubens. Wenn alles aus Pflicht und nicht mehr aus Freude heraus geschieht, wie glanzlos wird dann die Welt, wie traurig und trüb!“26

Aber so sah sie jetzt aus, die Welt ihrer Schwägerin: traurig und trüb. Maria lebte nur noch „aus Pflicht“, jeden Augenblick bemüht, Haltung zu wahren, verbraucht, verhärmt, verbittert. Sie trug nur noch dunkle Kleider, zog sich immer mehr zurück und verlor sich in endlosen Gesprächen mit dem Hofgeistlichen. Ihre Hofdamen, insbesondere Anna Tjuttschewa und die neu hinzugekommene Gräfin Antonina Bludowa, die seit 1863 Kammerhofdame war und „Gendarm der Orthodoxie“ genannt wurde, trugen ihren Teil dazu bei, dass sich ihr Gatte allmählich von ihr entfernte. Die frommen Freudinnen seiner Frau gingen ihm gehörig auf die Nerven, er mied ihre Gesellschaft.

Wie stark die Kaiserin nun schon dem kirchlichen Einfluss unterlag, zeigt auch eine von Minister Walujew zitierte Äußerung von ihr hinsichtlich der konfessionellen Mischehen in den überwiegend protestantischen Ostseeprovinzen mit ihrer rechtlichen Sonderstellung. Kinder aus solchen Ehen mussten, sofern ein Elternteil orthodox war, seit 1832 orthodox getauft und erzogen werden, eine Vorschrift, die aufzuheben Alexander II. im März 1965 befohlen hatte. Nun konnten die Eltern wieder selbst bestimmen, welcher Konfession ihre Kinder angehören sollten. Wenn sie in St. Petersburg gewesen wäre, zitiert Innenminister Walujew die Kaiserin, dann wäre dieses Problem nicht so gelöst worden, wie es ohne sie gelöst wurde.27 Zum Glück für den Religionsfrieden in den Ostseeprovinzen war sie in Nizza, als Alexander befahl, den Reversalzwang bei konfessionellen Mischehen aufzuheben.28 Nein, Maria Alexandrowna war keine Liberale, die Staatskirche, konservativ und allen Neuerungen abgeneigt, hatte in ihr eine gute Stütze.

Am 20. Juli leistete der neue Thronfolger den Eid im Thronsaal des Winterpalastes. „Eine schwere Aufgabe ohne die nötige Vorbereitung“, kommentiert Minister Walujew skeptisch. Gottfried Willewalde, ein Meister des Details, der schon Niksas Eidesleistung 1859 dargestellt hatte, stellt nun auch Alexanders Schwur dar. „Einen besonderen Eindruck machte auf mich die Kaiserin während des militärischen Eides“, notiert Minister Walujew. „Sie stand allein vor dem Thron, mit dem Gesicht zu uns. Der Herrscher kam die Stufen herab und stellte sich neben den Zesarewitsch. Die Kaiserin stand reglos, hob die Augen nicht und schwankte nur leicht von der Anstrengung, bis zum Ende durchzuhalten. […] Die Seele nach innen gekehrt. Äußerlich leblos. Wenn ich sicher sein könnte, dass keinerlei Bitterkeit dabei wäre, wünschte ich, mich vor ihr zu verneigen wie vor einer Ikone. Im starken und wortlosen Leid liegen Heiligkeit und ein gebieterischer Reiz.“29 Tags darauf nahm sie am Galaessen im Winterpalast nicht teil, ein Festakt, der eigentlich keiner war, und „an dem alle irgendwie gegen ihren Willen teilnahmen. Nicht nur kein einziges fröhliches Gesicht, nicht einmal ein zufriedenes. Man beeilte sich sehr, mit dieser erzwungenen Sache fertigzuwerden. Unser Hof glänzt jetzt nicht.“30

Ende Juli ging der Hof wie jedes Jahr nach Peterhof, und natürlich konnte Maria nicht anders, als sich an den vergangenen Sommer zu erinnern. Sie lebte nun ganz in der Erinnerung. „Gerade hier, in Peterhof, feierte ich zum letzten Mal meine beiden Feste [Namens- und Geburtstag, M.B.] mit meinen 7 Kindern vereint, ein Glück, das ich nie wieder genießen sollte“, schreibt sie dem bayerischen König. „Aber noch schwerer als diese beiden Tage war für uns der, an welchem Sacha den Eid als Thronfolger leistete, denselben Eid, den unser theurer Nixa vor 6 Jahren, an seinem 16.ten Geburtstag geleistet hatte. Eine Welt von schmerzlichen Gefühlen u. Erinnerungen stiegen [sic!] in uns auf, als wir in derselben Kirche, auf derselben Stelle, für diesen, nun unseren ältesten Sohn beteten, möge Gott ihn uns erhalten u. ihn würdig seines Berufes machen! Wohl hast Du Recht, es einen schweren u. ernsten Beruf zu nennen, in dessen Erfüllung man erst recht lernt, was es heißt, auf Gott vertrauen u. ihn allein hoffen. Dennoch glaube ich, dass gerade in unserer Stellung ein steter Umgang mit den Menschen, ein Austausch der Gedanken u. Meinungen unumgänglich nothwendig ist, weil sich das Leben, von Kind auf, so verschieden von dem der anderen für uns gestaltet und so isoliert u. dadurch uns um die so nöthige Menschenkenntnis bringt. Ich fürchte bei Dir diesen Hang zur Einsamkeit, zur Abschließung von Welt u. Menschen, ich begreife ihn, denn er liegt in meiner Natur, alleine ich glaube, wir müssten ihn bekämpfen, so wie Gott uns gestellt hat, haben wir kein Recht dazu. Du siehst, ich benütze das Recht, das mir Dein Vertrauen anerkennt, um Dir meine Meinung frei u. offen zu sagen. Du weißt, ich thue es aus Liebe zu Dir u. im Interesse Deiner Zukunft, so wie ich sie verstehe […].“31 Die Kaiserin und der König kämpften den gleichen Kampf, sie hatte viel Verständnis für den Neffen. Im zweiten Teil ihres Briefes kündigt sie ihm das letzte Foto von Nixa sowie Fotos von sich und den anderen Kindern an.

Im Juli 1865 wurde General von Schweinitz, der neue Preußische Militärbevollmächtigte, der Kaiserin in Peterhof vorgestellt. „Bei dieser Gelegenheit sah ich zum ersten Male die ganze kaiserliche Familie“, notiert Schweinitz, der bis 1869 auf seinem Posten bleiben und später als Botschafter wieder nach St. Petersburg kommen sollte. „Als die Majestäten aus der Kapelle heraustraten, gefolgt von fünf blühenden Söhnen und der eben zur Jungfrau sich entwickelnden Tochter, empfand ich den wohltuenden Eindruck, welchen die Vereinigung von Macht, Schönheit und Familienglück hervorzubringen geeignet ist. Im Nebenzimmer aber, auf einem kleinen Sofa, saß ein Mädchen voll jungfräulichen Reizes, weiß gekleidet, des Augenblicks harrend, in welchem sie den Majestäten vorgestellt werden sollte; betroffen von der zauberhaften Erscheinung fragte ich, wer das sei. Katharina Dolgoruki, antwortete man mir.“32

Der Tag, an dem die 17-jährige Schöne offiziell bei Hofe vorgestellt wurde, war ein Schicksalstag. Damit wurde das Interesse des Kaisers an der Fürstin gewissermaßen offiziös. Alexander war hingerissen.

Ende des Jahres verließ Anna Tjuttschewa den Hof, um den bekannten Moskauer Slawophilen Iwan S. Aksakow zu heiraten. Sie zog nach Moskau, behielt über ihre Schwestern aber Kontakt zum Hof. Ihre Nachfolgerin sollte die schon mehrfach zitierte Alexandra („Alexandrine“) A. Tolstaja werden, eine Großtante Leo N. Tolstojs, der gerade Das Jahr 1805, den ersten Teil seines monumentalen Romans Krieg und Frieden, im Russkij Westnik veröffentlicht hatte. Am 31. Dezember 1865 a.St. brachte ein Bote der Gräfin den Ukas über ihre Ernennung zur Erzieherin der kleinen Großfürstin Maria Alexandrowna sowie die Chiffre der Kaiserin, eine Anstecknadel mit den Initialen der Herrscherin, in den Marienpalast gegenüber der Isaak-Kathedrale, den Nikolaus I. einst für seine älteste Tochter Maria hatte bauen lassen. Die Gräfin war mehrere Jahre Erzieherin der Kinder der Großfürstin Maria Nikolajewna und des Herzogs von Leuchtenberg gewesen und empfahl sich nicht nur durch ihre Erfahrung und ihren Namen, sondern vor allem durch ihre außergewöhnliche Allgemeinbildung und hervorragenden pädagogischen Kenntnisse. Alexandrine Tolstaja kannte und schätzte den Reformpädagogen Konstantin D. Uschinskij, und sie war auch mit den pädagogischen Schriften ihres berühmten Neffen vertraut.

Nun bereitete sie sich auf den Umzug aus dem Marienpalast, in dem sie zwanzig Jahre verbracht hatte, in den Winterpalast vor, in dem sie eines der Hofdamenappartements unterm Dach beziehen sollte. Hier hatte auch Marianne de Grancy seinerzeit gelebt. Ab sofort gehörte die Gräfin zum engsten Kreis der Kaiserin, und wir können ihre „Aufzeichnungen“ als direkte Fortsetzung der „Erinnerungen“ Anna Tjuttschewas betrachten. Beide Damen sympathisierten mit den Slawophilen. Beide waren tief religiös, und beide hatten enormen Einfluss auf Maria. Tolstajas „Aufzeichnungen“ sind allerdings persönlicher, intimer, sehr moralisierend und sehr belehrend. Sie mochte und verehrte die Kaiserin, den gleichaltrigen Kaiser kannte sie seit Kindertagen, weil sie zu seinen ausgewählten Spielgefährten gehört hatte.

Kurz vor ihrem Dienstantritt hatte Alexander II. bei einem Spaziergang im Sommergarten zufällig oder nicht zufällig Katharina M. Dolgorukowa wieder getroffen. Man schrieb den 24. Dezember 1865. Von nun an gingen die beiden zusammen spazieren. Die Spaziergänge blieben nicht unbemerkt, aber was sich da anbahnte, war selbst für eine so erfahrene Beobachterin wie Gräfin Tolstaja nicht gleich zu erkennen. „Fürstin Dolgorukaja erschien nur sehr selten bei Hofe, nur aus Anlass großer Aufzüge und Hofbälle, deshalb war es schwer, etwas zu bemerken“, schreibt sie. „Aber ich bemerkte den Beginn einer neuen Leidenschaft sofort. Da der Herrscher ein Gefährte meiner Kindheit war, kannte ich ihn auswendig [Hervorhebung im Urtext, M.B.], wenn man sich so ausdrücken kann, und maß seinen Sympathiekundgebungen keinerlei Bedeutung bei, weil ich annahm, dass sich alles wie gewöhnlich auf einen unbedeutenden Flirt beschränkt. Wenn der Großfürst (und künftige Kaiser) verliebt war, konnte er das nicht verbergen, und seine Unvernunft zeugte von seiner großen Unschuld. Ich hatte nicht in Betracht gezogen, dass sein fortgeschrittenes Alter die Gefahr vergrößerte […], aber mehr als alles andere bedachte ich nicht, dass dieses Mädchen, auf das er seinen Blick gerichtet hatte, von ganz anderem Kaliber war als die, für die er sich früher begeisterte. Sie kam aus einer Familie, deren Mitglieder solche Begriffe wie Sittlichkeit und Ehre wenig schätzten.“33

Möglicherweise hat auch die Trauer um Nixa die kaiserliche Familie, insbesondere die älteren Söhne, daran gehindert, sofort „etwas zu bemerken“. Alexander, der neue Thronfolger, war außerdem vollauf damit beschäftigt, in seine schwierige Rolle hineinzuwachsen, die ihn überforderte, und Maria Meschtscherskaja, seine erste große Liebe, zu vergessen, die sein Vater nach Frankreich geschickt hatte, wo sie gegen ihren Willen verheiratet wurde und schon 1868 im Kindbett starb. „Saschka“ hatte sich immer zurückgesetzt gefühlt, sich aber damit abgefunden, weil er seinen Bruder, um den sich immer alles gedreht hatte, über alles liebte. Nun sollte er Dagmar, seine Braut, „übernehmen“. Man kann sich leicht vorstellen, wie unglücklich der junge Mann war. Aber er kannte seine Pflicht …

Leider wissen wir kaum etwas über das Verhältnis Marias zu ihrem zweiten Sohn, der sich nur mühsam an seine neue Rolle gewöhnte. Hat sie sich eingestanden, dass sie den Älteren mehr liebte, hat sie sich gefragt, warum Nixa sterben musste und nicht Saschka? Umgekehrt besitzen wir ein eindrucksvolles Zeugnis der Liebe und Verehrung, die Alexander Alexandrowitsch seiner Mutter entgegenbrachte. „Was an Liebe, Güte und Ehre in mir ist, verdanke ich einzig und allein unserer teuren lieben Mama“, schreibt Alexander III., der Sohn, den sie angeblich nicht mochte, kurz nach dem Tod seiner Eltern an seine Frau. „Keiner der Erzieher hat auf mich Einfluss ausgeübt, keinen von ihnen habe ich geliebt […], nichts konnten sie mir vermitteln, ich habe ihnen nicht zugehört und ihnen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, sie waren für mich einfach Marionetten – Mama hat sich ständig mit uns beschäftigt, auf die Beichte und das Fasten vorbereitet, durch ihr Beispiel und tiefen christlichen Glauben lehrte sie uns, den christlichen Glauben, wie sie ihn selbst verstanden hat, zu lieben und zu verstehen.

Dank Mama wurden und bleiben ich, meine Brüder und Maria wahre Christen und liebten den Glauben und die Kirche. – Wieviel sehr unterschiedliche und tiefgründige Gespräche haben wir geführt; Mama hat immer geduldig zugehört, ließ uns Zeit, alles zu sagen, und fand immer eine Antwort, um zu beruhigen, zu tadeln oder zu loben, und immer aus erhabener christlicher Sicht.

Außer Mama blieb mir nur mein lieber Bruder und Freund Niksa in unvergesslicher ewiger Erinnerung und hatte Einfluss auf mein Leben und meinen Charakter, alles andere huschte vor meinen Augen und an meinem Verstand vorbei, und nichts konnte meine Aufmerksamkeit erwecken. Papa haben wir sehr geliebt und verehrt, doch er konnte sich aufgrund seiner Aufgaben und der vielen Arbeit nicht so intensiv mit uns beschäftigen wie die liebe und teure Mama.

Ich wiederhole nochmals – alles, alles verdanke ich Mama, sowohl meinen Charakter als auch alles andere! Und nie hatte jemand Einfluss auf mich außer zwei teuren Wesen – Mama und Niksa.“34

Wir können diesem Brief entnehmen, dass Alexander III. seine Religiosität und seine ultrakonservative Weltsicht vor allem seiner Mutter verdankte. Seinen Vater hat er sicher geliebt und respektiert, doch die beiden sprachen politisch nicht dieselbe Sprache. Der „Zar-Befreier“ wusste, dass dieser Sohn sein Reformwerk nicht fortsetzen würde, und die Kaiserin wusste es auch.

 

 

 

 A1 „Dann lieber der Tod!“

 A2 Herrschaftliche Villa am Eingang des Dorfes