Am 21. Juli 2022 starb Uwe Seeler , in Norderstedt, einer Stadt von 80000 Einwohnern, die an Hamburg angrenzt. Dort hatte er, zusammen mit seiner Frau Ilka , 63 Jahre lang gewohnt. Seeler war berühmt geworden als Mittelstürmer beim Traditionsverein HSV , die Stadt Hamburg hatte ihn 2003 zum Ehrenbürger ernannt. Legendär ist Seeler nicht nur wegen seiner fußballerischen Erfolge, sondern auch wegen seiner »Normalität«. Er selbst hielt es, wie er in einem Film von Reinhold Beckmann sagt, »für das Schönste, normal zu sein«, und dazu gehörte auch, 1961 ein für die damalige Zeit ungewöhnlich hoch dotiertes Angebot von Inter Mailand abzulehnen, obwohl dessen Trainer Helenio Herrera persönlich nach Hamburg gekommen war, um ihn abzuwerben.
Nach drei Tagen Verhandlungen entschied Seeler, in Hamburg zu bleiben. Das Geld interessierte ihn nicht, schließlich hatte er neben dem Fußball seine Arbeit als Sportartikelvertreter und: »Ich könnte ja nicht öfter als dreimal am Tag ein Steak essen.« Seine Frau Ilka erzählte, dass die Italiener einen Fehler gemacht hätten: Sie hätten nur mit ihm gesprochen, nicht mit ihr, das gehöre sich nicht – ein weiterer Grund für die Ablehnung des Angebots. Auch nach seiner aktiven Zeit blieb Uwe Seeler seinem Verein und Hamburg eng verbunden, wurde kurzzeitig und nicht ganz glücklich auch Präsident des HSV , gründete eine Stiftung, die Menschen mit Einschränkungen unterstützt, trat gelegentlich im Fernsehen auf und verkörperte bis zum Schluss – Normalität.
Wenn es einen Gegentyp zum Angeber gibt, dann war es dieser weltberühmte Fußballer, der gern Autogramme gab, mit den Leuten schnackte, nie selbst zu empfinden schien, dass er – wie man heute sagen würde – prominent war. Er sprach, wie der Sportsoziologe Gunter Gebauer über ihn sagte, immer in der ersten Person Plural. Seine Rolle im Westdeutschland der Nachkriegszeit beschrieb die Frankfurter Rundschau in einem Nachruf so: »Uwe Seeler wirkte auf andere Weise als durch die Liste an Erfolgen. Er stand für Werte, in ihm spiegelte sich eine aufstrebende Nation, die sich vorgenommen hatte, im Wirtschaftswunder nicht abzuheben, weil schließlich noch die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs auf ihr lastete.«
Da ist etwas dran. Die Werte der westlichen Nachkriegszeit hatten – uneingestanden und eingestanden – die Verbrechen der Nazizeit und die Schuld am Zweiten Weltkrieg im Rücken, das bedeutete Vorsicht gegenüber allem, was zu groß und ambitioniert erschien. Noch nie, schreibt der Historiker Ulrich Herbert mit Bezug auf die Entstehung der Bundesrepublik, sei »ein deutscher Staat mit so gebremster Emphase und Zukunftsgewissheit ins Werk gesetzt worden wie dieser. […] die nüchterne, von der Katastrophe der Nazizeit und der Kargheit der Nachkriegsjahre geprägte, ganz aufs Vorläufige gestimmte Gründung des westlichen Teilstaats litt auch nicht, wie die deutsche Republik von 1919, unter dem Druck überspannter, unerfüllbarer Erwartungen.« [1]
Daher gehörte es zum Wertekorsett der frühen Bundesrepublik, eben nicht abzuheben, »normal« zu bleiben, selbst wenn man sehr erfolgreich war. »Maßhalten« war denn auch die Parole, die der damalige Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard 1962 in einer Radioansprache ausgab: »Noch ist es Zeit, aber es ist höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen, als ob es einem Volk möglich sein könnte, für alle öffentlichen und privaten Zwecke in allen Lebensbereichen des einzelnen und der Nation mehr verbrauchen zu wollen, als das gleiche Volk an realen Werten erzeugen kann oder zu erzeugen gewillt ist.« Wirtschaftswunder und Konsumgesellschaft waren auch damals schon Schlagworte, aber Ludwig Erhard hatte bereits in seinem Bestseller »Wohlstand für alle« die Ökonomik aufgefordert, sich rechtzeitig darauf vorzubereiten, dass es eine Zeit nach dem Güterwachstum geben würde – eine Aufforderung, der die etablierten Wirtschaftswissenschaften bis heute nicht nachgekommen sind.
Sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack hatte für das Wirtschaftsmodell der Nachkriegszeit den Begriff »Soziale Marktwirtschaft « erfunden – jenen, wie man damals sagte, »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der mittels der ordnungspolitischen Begrenzung der reinen Marktkräfte eine allgemeine Steigerung des Wohlstands und damit vor allem auch Systemzustimmung zur jungen Demokratie versprach. Und tatsächlich auch lange Zeit realisierte. [2] Der Fortschrittsbegriff der westlichen Nachkriegszeit umfasste weit mehr als jene permanente Steigerung von Konsummöglichkeiten, auf die er heute zusammengeschnurrt zu sein scheint.
Denn vom heutigen Hyperkonsum war die Welt Seelers und Erhards trotz aller »Maßhalte«-Mahnungen noch weit entfernt – die durchschnittlich in Anspruch genommene Wohnfläche pro Kopf lag 1960 bei 20 Quadratmetern [3] (heute 55), auf 1000 Einwohner gab es 81 Autos [4] (heute rund 580), der durchschnittliche Urlaub dauerte fünf Tage und führte nicht zum Helikopterskiing nach Kanada, sondern mit dem Zelt an die Ostsee, und wenn es hochkam und man etwas mehr Zeit hatte, ging es mit der NSU -Lambretta oder dem Käfer nach Italien. [5] In dieser Welt, die trotz aller Begeisterung über Motorräder, Autos, Stabmixer, Waschmaschinen und Weltraumflüge erheblich nachhaltiger war als die heutige, [6] genossen die Bergarbeiter im Ruhrgebiet und im Saarland hohes Ansehen, schaffte man »beim Daimler« oder stand bei Edeka hinter dem Tresen.
Fast zwei Drittel der Jugendlichen gingen 1960 in die Hauptschule, 12,5 Prozent in die Realschule, nur sechs Prozent machten Abitur. [7] Der Soziologe Helmut Schelsky hatte schon 1953 den Begriff von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« geprägt, die Westdeutschland kennzeichne – aus heutiger Perspektive eine erstaunliche Diagnose, wo doch Menschen mit »niedrigen« oder gar überhaupt keinen Bildungsabschlüssen heute gewiss nur in Ausnahmefällen in die Mittelschicht aufsteigen. Aber die Arbeiterschicht galt damals auch nicht als gesellschaftliche Restkategorie, auf die man herabblickte, sondern hatte gerade in einer Gesellschaft, in der Kategorien wie »Aufbau« und »Aufstieg« und schließlich » Wirtschaftswunder « für das Selbstbild wichtig waren, ein eigenes Selbst- und ein durchaus positives Klassenbewusstsein. Und nicht zuletzt mit der SPD eine eigene Partei, mit der Mitbestimmung einen für kapitalistische Gesellschaften ungewöhnlichen Teilhabestatus und mit starken Gewerkschaften Durchsetzungsmöglichkeiten für ihre Interessen.
Vor diesem Hintergrund wird man, auch wenn Mentalitätsgeschichte eine schwierige Sache ist, diese Gesellschaft im Vergleich zur heutigen insgesamt als deutlich integrierter beschreiben können. Sicher, es gab Jugendkrawalle, eine zahlenmäßig nicht kleine NPD , die Deutsche National-Zeitung mit einer Auflage von 100000 Exemplaren und eine starke Ausgrenzung der ab 1961 ins Land geholten »Gastarbeiter«, aber gleichwohl gab es so etwas wie ein Gefühl der nicht voraussetzungslosen, aber erreichbaren Zugehörigkeit zur Normalgesellschaft. Man war nicht nur »wieder wer«, sondern man war auch wer ohne Abitur, ja sogar ohne Schulabschluss und als »Angelernter« – was es nicht zuletzt wegen des Krieges nicht selten gab und was keineswegs als Deklassierungsmerkmal galt.
Das ist die Welt von Uwe Seeler , der aus einer Arbeiterfamilie kam und einen Hauptschulabschluss hatte. Mich hat sein Tod im vergangenen Jahr auch deshalb betroffen, weil er die letzte öffentliche Person in Deutschland war, die »nur« einen Hauptschulabschluss hatte. Ich beginne dieses Buch mit ihm, weil Menschen ohne Abitur, ohne akademischen Abschluss, ohne den selbstverständlichen Habitus des gehobenen Mittelstands, heute in der Öffentlichkeit dieses Landes nicht mehr vorkommen. Uwe Seeler war der Letzte seiner Art.
Stimmt nicht ganz: Natürlich kommen auch Menschen mit abgebrochener Schulkarriere, ohne Studium oder mit einem scheinbar einfachen Weltbild in der Öffentlichkeit noch vor – aber nur in genau zwei Erscheinungsformen: erstens im Trashfernsehen von RTL als Figuren, die einem sich besser dünkenden Publikum vorgeführt werden, und zweitens als Problemfälle einer Gesellschaft, wenn etwa über die »Tafeln« berichtet wird oder über Unterstützungsempfänger, früher von »Hartz IV «, heute von »Bürgergeld«. Die Tagesschau beliebte, wenn es um Hartz IV ging, die Rückenansicht einer Familie in Joggingklamotten einzublenden, die durch einen Park spazierte. In dieser Illustration steckte schon das komplette Selbstbild des auf die Unterschichten herabblickenden Mittelstands – auf »die anderen«. Und eben das Fremdbild von passiv und unambitioniert durch den Sozialstaat schlurfenden schlechtangezogenen Menschen, deren Kinder – wen wundert’s – genauso sind und bleiben werden wie sie selbst.
In den Redaktionen fiel offenbar niemandem auf, wie denunziatorisch solche Darstellungen sind – als würden die allermeisten derjenigen, die auf die Unterstützung des Sozialstaats angewiesen sind, sich nicht nach Kräften darum bemühen, gerade nicht »anders« auszusehen, sich gut zu kleiden, zu wohnen, ihre Kinder zu unterstützen, ihnen die Teilnahme am Klassenausflug zu ermöglichen, einen Job zu finden usw. Man bezeichnet sie routiniert als »bildungsfern«, diese Leute, so als würde nicht den allermeisten alles daran gelegen sein, dass ihre Kinder gut in der Schule sind, genau um dem Leben am Rand der Mittelstandsgesellschaft zu entkommen. Dass Bildung dafür ein Ticket ist, wissen sie. Dass dieses Ticket allein noch lange nicht reicht, um dazugehören zu dürfen, nicht.
An der Theke kam ich unlängst mit einem Lastwagenfahrer ins Gespräch: »Ich höre den ganzen Tag Radio. Und immer höre ich: ›Hallo, ihr da draußen jetzt auf dem Weg ins Büro, für euch haben wir jetzt…‹ Ich bin aber nicht auf dem Weg ins Büro. Ich bin überhaupt nie in einem Büro. Ich sitze auf dem Bock und bringe Sachen irgendwohin.« Genauso wie fast zwei Drittel der arbeitenden Menschen in diesem Land niemals in einem Büro sind. Denn die fahren Paketautos, putzen U-Bahn-Stationen, versorgen Menschen auf Intensivstationen oder in Pflegeheimen, bändigen Kinder in Tagesstätten, schrauben Autos am Fließband zusammen, graben Gräber auf Friedhöfen, verputzen Wände auf Baustellen, heften Strafzettel unter Scheibenwischer oder schneiden anderen Menschen die Haare oder Fußnägel. [8]
Diese Menschen, die oft erheblich weniger verdienen als die in den Büros, sind in der medialen Öffentlichkeit nicht existent. In den Drehbüchern der Massenware von »SOKO irgendwas«, »Tatort« und »Polizeiruf« kommen sie entweder in der Rolle der Ausstattungskomparsen von eben Baustellen, Fabriken oder Krankenhäusern vor oder gern auch als Leute, die Probleme machen. Günter Wallraff mit seinen Reportagen wie »Ganz unten«, in der er in die Rolle eines türkischstämmigen Arbeiters namens Ali Levent Sinirlioğlu schlüpfte und über die Arbeitsbedingungen unter Tage oder bei McDonalds berichtete, ist ziemlich aus der Mode gekommen; die Bücher von Julia Friedrichs , die die Lebenssituation von Kassiererinnen und Reinigungskräften beschreibt , sind eine Ausnahme auf einem Buchmarkt, in dem solche Menschen eher nicht vorkommen.
Aber da ist der Buchmarkt nur genauso wie die Parlamente. Mehr als neunzig Prozent der heutigen Bundestagsabgeordneten haben Abitur oder Fachhochschulreife, im Bevölkerungsdurchschnitt haben das nur etwas mehr als ein Drittel. 87 Prozent der Abgeordneten verfügen über eine abgeschlossene Hochschulausbildung – im Vergleich zu etwa einem Fünftel in der Gesamtbevölkerung. 16 Prozent der Politikerinnen und Politiker führen einen Doktortitel, aber nur 1,2 Prozent der Menschen im Bundesdurchschnitt. Lediglich sechs Prozent der Abgeordneten haben als höchsten Bildungsabschluss eine Lehre, in der Gesamtbevölkerung gilt das für die Hälfte. In den Landtagen sieht es ähnlich aus, desgleichen in den Wirtschaftsunternehmen und nicht zuletzt in den Medienhäusern.
Der Elitenforscher Michael Hartmann schreibt: »Am exklusivsten präsentiert sich die Wirtschaftselite. Nicht einmal jeder Vierte ist ein sozialer Aufsteiger. Arbeiterkinder bekleiden sogar weniger als sechs Prozent der Spitzenpositionen.« [9]
83 Prozent dieser Positionen sind von Menschen besetzt, die dem Bürger- oder Großbürgertum entstammen, in Justiz und Verwaltung sind es etwa zwei Drittel. In den privaten Medienanstalten und Printverlagen gilt dasselbe für drei Viertel der Spitzenpositionen, im öffentlich-rechtlichen Sektor etwa für die Hälfte der Intendanten und Programmdirektoren.
Vor diesem Hintergrund wird das Verschwinden der größten Teile der Bevölkerung aus der öffentlichen Wahrnehmung erklärlich: Die politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten rekrutieren sich mehrheitlich aus gehobenen sozialen Milieus, und sie kennen die Lebenswelten der Bevölkerungsmehrheit kaum aus eigener Anschauung und Erfahrung. Wer zu diesen vielfältigen Welten gehört, tritt vielleicht als Angestellte oder Arbeiter, als Reinigungsfrau oder als Supermarktkassierer in die Optik der Eliten, nicht aber als Mitbewohnerinnen und Mitbewohner derselben Gesellschaft. Dieser Befund ist betrüblich für die Demokratie, denn er bedeutet eine gesellschaftliche Verarmung.