Vorbeben

Aus meiner Sicht sind dies alles keine zufällig in der gegenwärtigen Verdichtung auftretende »Krisen«, sondern sie zeigen jede auf ihre Weise das Ende eines historischen Modells an, das sein Verfallsdatum schon eine Weile überschritten hat. Systeme brechen, anders als Hollywood-Blockbuster suggerieren, nicht in einem bombastischen Inferno zusammen, wenn sie am Ende sind, sondern sie laufen mit Hilfe ihrer Institutionen, ihrer Infrastrukturen, ihrer Traditionen und Verkehrsformen noch eine Weile weiter. Sie gleichen einem Haus, das langsam von Termiten ausgehöhlt wird und lange stehen bleibt, als sei gar nichts geschehen. Dann implodieren sie, wie die Sowjetunion 1989, »not with a bang but a whimper« (wie es in dem unheimlichen Gedicht von T.S.Eliot heißt). Kollabierende komplexe Systeme sind wie der Koyote im Zeichentrickfilm, der über den Abgrund hinausrennt und erst viel später merkt, dass er lange schon keinen Boden mehr unter den Füßen hat. So Wissing-mäßig.

Denn solange die Systeme zu funktionieren scheinen, funktionieren die Menschen in ihnen wie gewohnt. Im Kommunismus hat man unverdrossen Plattenspieler produziert, für die es keine Abnehmer gab; man mietete Scheunen an, um sie zu lagern, und produzierte weiter. Dieser Modus noch funktionierender Systeme erzeugt auch ein gesellschaftliches Unbewusstes, das es den Menschen lange Zeit ermöglicht, nicht zu sehen, was hinter der Fassade geschieht, was die seismischen Störungen als Vorbeben andeuten. Im Fall der ökologischen Unterminierung unseres Gesellschaftsmodells geht die erstaunliche Fähigkeit zum Wegsehen auch darauf zurück, dass die Vorstellung lange Zeit absurd erschien, dieses bisschen menschliche Aktivität würde gravierenden Einfluss nehmen auf den physikalischen und biologischen Stoffwechsel des scheinbar unermesslich großen Planeten und seines noch viel größeren Himmels.

Erst mit dem »Earthrise«-Foto der Astronauten von Apollo 8 , das ausgerechnet am Heiligabend des Jahres 1968 gemacht wurde, kam die Befürchtung auf, dass dieser blaue Planet doch verletzlich sein könnte; ein paar Jahre zuvor hatten »Silent Spring« von Rachel Carson und später die »Limits to Growth« die Begrenztheit sowohl der Ressourcen wie der Senken des Planeten klar formuliert – und eine Ökologiebewegung entstand. Sie entwickelte sich aber verblüffend gegenläufig zu der immer dynamischeren Ausbreitung des wachstumswirtschaftlichen Kapitalismus über den ganzen Planeten. 1989 fand dieser mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und einer Entfesselung neoliberalen Wirtschaftens gerade auch in den postsowjetischen Ländern einen globalen Breakthrough, der die Zerstörung der Welt so sehr beschleunigte, dass Extremwetterereignisse, Dürren, unlöschbare Waldbrände usw. heute eine Normalität sind.

Abb. 2: Erde, verletzlich. Heiligabend 1968.

Die sich in immer rascherer Folge häufenden Krisen und Katastrophen werden aber wegen unserer funktionalen und emotionalen Bindung an die Idee eines immerwährenden Fortschritts nicht als zwangsläufig und zusammenhängend, sondern immer noch als unerwartete und voneinander unabhängige Ereignisse bezeichnet, weil man sich weigert, die Normalität der Polykrise als Ergebnis der Fortsetzung einer falschen Praxis anzusehen und den Schluss zu ziehen, dass man längst schon der Koyote ist. Noch die Ampel-Koalition , die schon mitten im Desaster regiert, hat sich in perfekter Ironie der Geschichte den Titel »Fortschrittskoalition« gegeben. Man sieht: Um der Religion der Unendlichkeit weiter dienen zu können, muss jedes Faktum der Endlichkeit ignoriert oder besser noch als Blasphemie verfolgt werden. Das Problem des Fortschritts ist, mit Ernst Bloch , dass er nicht fortschreitet.

Übrigens, und das lässt sich an der Geschichte des Todes eindrücklich nachzeichnen, musste die Moderne auch den individuellen Tod, also den leider unabweisbaren Umstand, dass alle Menschen früher oder später sterben, aus dem Bestand der sozialen Tatsachen exkommunizieren und zu einer privaten Angelegenheit machen. Der Historiker Philippe Ariès hat den modernen Tod den »wilden Tod« genannt, weil die Sterbenden mit ihm als ihrer persönlichen Angelegenheit konfrontieren müssen, während der vormoderne Tod für ihn als sozial und kulturell eingebettet, also »gezähmt« erschien.

In jedem Fall muss der Tod so weit wie möglich zum gesellschaftlich Unbewussten gemacht werden, damit die Illusion der Unendlichkeit aufrechterhalten werden kann. Aufhören als eine Praxis, ja als eine Kulturtechnik, die mit unabweisbaren Notwendigkeiten des Überlebens umzugehen lernt, erscheint vor diesem Hintergrund sowohl individuell wie gesellschaftlich undenkbar. [31] Genau deswegen müssen Todkranke und Sterbende, so formulieren es die Todesanzeigen, »bis zuletzt kämpfen«, anstatt ihren Frieden mit der Endlichkeit zu machen.

Und deswegen muss, um es mit Max Weber zu sagen, der »mächtige Kosmos der modernen Wirtschaftsordnung […], der heute den Lebensstil aller einzelnen mit überwältigendem Zwang bestimmt«, aufrechterhalten werden, »bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist«. Auch dieses Zitat ist hundert Jahre alt. Beim Verfassen dieses Buches überkam mich immer dann ein Anflug von Verzweiflung, wenn ich einsehen musste, wie lange wir schon über einen Sachverhalt sprechen und wie gut wir darin sind, ihn zugleich zu ignorieren.

Aus dieser psychologischen Meisterschaft, etwas zugleich zu wissen und nicht für möglich zu halten, resultiert der Glaube des Verkehrsministers, den spätere Generationen für ebenso bizarr halten werden wie jeden anderen historischen Wunderglauben. Wichtig ist aber zu verstehen, dass Irr- und Aberglauben Menschen noch nie davon abgehalten haben, Verhältnisse zu schaffen, die höchst real waren. Der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung im Nationalsozialismus etwa hatte den ganz realen Tod von Millionen Menschen zur Folge, der Glaube an den neuen Menschen in kommunistischen Narrenwelten wie der von Pol Pot desgleichen. Hungerkatastrophen wie jene, die Mao Zedong mit seinem »Großem Sprung nach vorn« herbeiführte, konnten den Glauben an die Richtigkeit seiner Staatstheorie so wenig erschüttern wie das Niedrigwasser im Rhein Wissings Glauben an den Sieg des Wachstums über die dummen Naturverhältnisse.

Was in historischer Perspektive immer wieder verblüfft, ist der Umstand, dass die Offensichtlichkeit des Schwachsinns gar nichts daran ausrichtete, dass die zeitgenössischen Mehrheiten ihm vorbehaltlos huldigten. Wachstum als kulturell und mental verankertes Glaubenssystem bindet die Gläubigen an Wahrnehmungen, Deutungen und Entscheidungen, die aus der Außenperspektive völlig verrückt erscheinen, innerhalb des Glaubenssystems aber als höchst plausibel. Das Problem ist nur, wie vor mehr als hundert Jahren der US -amerikanische Soziologe William Thomas formulierte: Wenn Menschen Situationen für real halten, dann sind diese in ihren Folgen real.

Verkehrsminister Wissing ist ein Mann von gestern, aber er macht heutige Wirklichkeit. Wie alle seine Kolleginnen und Kollegen, die die Erfolgsrezepte der Vergangenheit auf eine Welt zu applizieren versuchen, die dazu nicht mehr passt.

Und es hat sogar den Anschein, dass der Wunsch, die Rezepte mögen immer noch funktionieren, weil sie eben immer funktioniert haben, mit der Offensichtlichkeit ihrer Dysfunktion umso hartnäckiger wird. Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf. Deutschland ist ein Land von gestern, das sich einredet, noch up to date zu sein. Jede Fahrt mit der Deutschen Bahn, jeder Versuch, ein simples Antibiotikum für sein Kind zu bekommen, dementiert das. Die Politik scheitert zunehmend bei dem Versuch, Anspruch und Wirklichkeit in eine annähernde Übereinstimmung zu bringen.

Oder wissenschaftlicher formuliert: Alle Waldbrände und Hitzesommer, alle Dürren und Gletscherschmelzen, alle Extremwetterereignisse und Flutkatastrophen erzeugen bei denjenigen, die an die Fortsetzbarkeit des Wachstumskapitalismus glauben, heftige kognitive Dissonanz . Kognitive Dissonanz ist ein unangenehmes Gefühl, das dann entsteht, wenn die Wirklichkeit sich anders darstellt als die Erwartung, die man an sie gehabt hatte. Der Sozialpsychologe Leon Festinger hat diesen Begriff geprägt, als er sich mit einer Sekte beschäftigte, der der Weltuntergang prophezeit worden war, weshalb ihre Mitglieder alle ihre irdische Habe verkauften und sich auf einem Hügel versammelten, um darauf zu warten, von einem Raumschiff abgeholt zu werden, während der ungläubige Rest der Menschheit untergehe. Bekanntlich ist das nicht passiert, und Festinger wollte wissen, wie nun die Sektenmitglieder mit der Enttäuschung ihrer Erwartung umgehen würden. Würden sie desillusioniert vom Glauben abfallen, ihren Irrtum erkennen und beklagen? Nein, das taten sie nicht. Tatsächlich hatten sie einen Weg, ihre Glaubensüberzeugung mit den gegenläufigen Tatsachen in Einklang zu bringen. Ganz einfach, sagten sie, dies sei eine Prüfung der Festigkeit ihres Glaubens gewesen. [32]

Der Wunderglaube, die ökologischen und klimatologischen Probleme der Welt seien mit dem Erreichen des Ziels der Dekarbonisierung erledigt, trägt dieselben Züge. Und jede Hitzewelle in Spanien, jedes Großfeuer in Brandenburg, jede Flutkatastrophe irgendwo führt zu erneuten Bekenntnissen, dass das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden müsse. Das Ziel, die Katastrophe zu vermeiden, blockiert die Wahrnehmung, dass sie längst da ist (vgl. S. 71). In unserer Welt stabiler Normalitätserwartungen , die in eine Kaskade katastrophischer oder vorsichtiger gesagt: neuer problematischer Geschehnisse hineinläuft, gibt es eine erprobte Form der Dissonanzreduktion: Wir nennen es » Krisen «. Dieser Begriff suggeriert, dass es sich bei dem jeweiligen Geschehnis um die Unterbrechung eines Normalverlaufs handelt und dass das betroffene System nach Bewältigung der » Krise « wieder in den Normalzustand zurückkehrt. Mit Hilfe dieses Begriffs kann man anzuerkennen vermeiden, dass die Welt, in der man sich befindet, in einem Strudel von Veränderung steckt. Wenn man die Vorbeben, die seismischen Zeichen der tektonischen Verschiebung unserer Welt »Krisen« nennt, sagt man sich: Bleibt alles, wie es ist. Wir müssen da nur erst mal durch.

Dabei hilft es wie gesagt sehr, die »Krisenereignisse« als unabhängig voneinander zu sehen: Die Weltfinanzkrise von 2007/2008 mit der anschließenden Weltwirtschaftskrise und Eurokrise war ein distinktes Ereignis, das nach erfolgreicher Bewältigung abgeschlossen ist. Das System tritt in den Normalzustand zurück. Was leider nicht zutreffend ist, denn die Austeritätspolitik insbesondere Deutschlands gegenüber den südeuropäischen Ländern, insbesondere Griechenland, hat zu tiefen Kränkungen geführt, wie sie dann in der Energiepreiskrise infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine wirksam wurden. Man sah wenig Lust etwa in Spanien, Portugal oder Griechenland, den Deutschen bei der Ersatzbeschaffung ihrer fossilen Brennstoffe unter die Arme zu greifen. Und die Finanzkrise ist insofern nicht bewältigt, als das Finanzsystem, wie die Pleiten einiger US -amerikanischer Banken und der Credit Suisse im Frühjahr 2023 zeigen, wohl immer noch fragil ist. Diese Krise liegt gewissermaßen nur auf Wiedervorlage.

Dasselbe gilt für die »Flüchtlingskrise« vom Spätsommer 2015 infolge des Syrienkriegs , die durch entschlossenes Handeln vieler ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer und den professionellen Einsatz der zuständigen Institutionen von Landratsämtern bis zur Polizei, von den Asylbehörden bis zum Roten Kreuz situativ gut bewältigt wurde. In keiner Weise bewältigt wurde sie aber durch die Europäische Union, die auch acht Jahre nach dieser » Krise « und nach zahlreichen humanitären Desastern mit Flüchtlingslagern und menschenrechtlich skandalösen Hilfeverweigerungen etwa an der polnischbelarussischen Grenze sich im Juni 2023 auf eine Verschärfung des Asylrechts geeinigt hat, die die logische Konsequenz inhumanitären Nichthandelns ist. Alle Asylsuchenden sollen künftig an den Außengrenzen der EU in eigens dafür zu errichtenden Lagern geprüft und dort bis zur Entscheidung verbleiben. Politiker wie Jens Spahn und Winfried Kretschmann finden es nicht gut, wenn man die Lager »haftähnlich« nennt. Die Leute können ja schließlich gehen …

Schon vor dieser perfiden Zwischenlösung der »Flüchtlingsfrage« hat die EU mit Warlords in Libyen fadenscheinige Verträge gemacht, um Menschen vor Ort in Lagern niederträchtig aufzubewahren, wo sie gefoltert und vergewaltigt werden. Sie hat auch die skandalumwitterte Grenzschutzorganisation Frontex immer weiter ausgebaut, die unter anderem mit sogenannten Pushbacks und Behinderungen von Rettungseinsätzen für Ertrinkende verhaltensauffällig war. Man hat auch versucht, sich eines Teils des »Problems« zu entledigen, indem man Verträge mit dem für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nicht berühmten türkischen Staatspräsidenten Erdoğan ausgehandelt hat; Konflikte und Pushbacks zwischen Griechenland und der Türkei sind seither an der Tagesordnung. Die britische Regierung, 2015 noch Mitglied in der EU , mittlerweile ausgetreten, schließt völkerrechtswidrige Verträge mit Ruanda, um Geflüchtete dorthin regelrecht zu entsorgen. [33] Und hat vor, das Asylrecht ganz abzuschaffen.

Das alles ist sehr schlimm, wird aber noch schlimmer durch eine Rhetorik, die bei aller offenkundigen Unbekümmertheit um Recht und Humanität immer noch von den »europäischen Werten« spricht, die sie zugleich mit Füßen tritt. Interessant war auch die Empörung auf europäischer Seite, als der amerikanische Präsident Donald Trump ein gigantisches Zaunbauprojekt in Angriff nahm, um Menschen am illegalen Übertritt in die USA zu hindern. Heute ist die EU selbst ein großer Zaunbauer, hängt das aber nicht an die große Glocke.

So schreibt die Politikwissenschaftlerin Elisabeth Vallet : »Der Wandel hin zum Errichten statt zum Einreißen von Mauern vollzog sich in Europa in zwei Phasen, beginnend im Jahr 2015. Damals führte die Krise in Syrien dazu, dass man in der EU der Ansicht war, es gebe auch in Europa eine sogenannte ›Flüchtlingskrise ‹. In den darauffolgenden Jahren setzte sich der Mentalitätswandel fort, sowohl wegen der strategischen Bedrohung durch Russland nach der Krim-Annexion 2014 als auch wegen der Instrumentalisierung der Migrationsbewegungen durch gewisse Nachbarn der EU . Als Ergebnis gibt es in Europa im Jahr 2023 von Finnland bis Griechenland, von der Ukraine bis Calais in Frankreich 17 ummauerte oder umzäunte Grenzgebiete. Während Ende des 20. Jahrhunderts 1,7 Prozent der europäischen Landgrenzen umzäunt waren, sind es heute 15,5 Prozent. 2008 Kilometer Mauern und Zäune durchziehen derzeit den Kontinent.« [34]

Wenn man gleichzeitig in Rechnung stellt, dass die Zahl der Menschen, die infolge von direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels künftig ihre Heimat verlassen müssen, kontinuierlich genauso ansteigt wie die Zahl der Kriegsflüchtlinge und Opfer von Vertreibungen, wird man kaum von einer Krise sprechen können. Wir haben es mit einer säkularen Veränderung zu tun: Immer mehr Menschen können dort nicht überleben, wo sie herkommen, und suchen Rettung und Schutz dort, wo sie überleben könnten. 2050, dem Zieljahr der großen Dekarbonisierung , werden nach Schätzungen der Welthungerhilfe 140 Millionen Menschen allein wegen der Folgen des Klimawandels auf der Flucht sein. Etwa 90 Millionen Menschen galten schon 2021 als gewaltsam vertrieben, die Hälfte von ihnen Kinder und Jugendliche. 2022 ist die Zahl, auch wegen des Ukrainekriegs, auf 110 gestiegen.

Viele Millionen Flüchtlinge weltweit sind sogenannte Binnenflüchtlinge, sie überschreiten keine Landesgrenzen, sondern sind innerhalb ihrer Heimatländer auf der Flucht und heimatlos, gegenwärtig sind das etwa 71 Millionen. [35] Der UN -Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi konstatiert: »Wir beobachten eine veränderte Realität. Vertreibung betrifft aktuell nicht nur viel mehr Menschen, sondern sie ist auch kein kurzfristiges und vorübergehendes Phänomen mehr. Wir brauchen eine grundlegend neue und positivere Haltung gegenüber allen, die flüchten, gepaart mit einem viel entschlosseneren Bestreben, Konflikte zu lösen, die jahrelang andauern und die Ursache dieses immensen Leidens sind.« Grandis Hoffnung ist nachvollziehbar, aber vergeblich. Es gibt weder national noch international tragfähige Konzepte, mit diesem dauerhaften Geschehen umzugehen, geschweige denn seine Ursachen zu bekämpfen. Im Gegenteil: In der »neuen Zeit«, in der Aufrüstung und Militarisierung die neue Staatsräson bilden, werden die Flüchtlingszahlen massiv steigen. Und mit ihnen die Gewalt.

Nächste » Krise «: die Corona-Pandemie . Die kann hier relativ kurz abgehandelt werden. Wie man inzwischen weiß, waren Pandemien dieser Art von der Virologie und Epidemiologie lange vorhergesagt worden. Dass Corona dann als weltweite Pandemie eintrat, war trotzdem wieder mal für alle überraschend und führte zu tiefgreifenden Eingriffen der Staaten in die Verhaltensweisen und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Da auch für die Bewältigung dieses Geschehens keine Blaupause existierte, war die Politik gezwungen, nach dem Verfahren Versuch und Irrtum vorzugehen. Die Pandemie kostete nach Schätzungen weltweit sechs bis acht Millionen Menschen das Leben, die wirtschaftlichen Folgen sind immens, die psychischen – besonders für Kinder und Jugendliche – auch. Die deutsche Politik hat, auch wenn das heute viele Schlauberger anders sehen, in dieser präzedenzlosen Situation weitgehend klug gehandelt. Was sie nicht wissen konnte, konnte sie nämlich nicht wissen. Jens Spahn , der damalige Gesundheitsminister, hat im April 2020 den klugen Satz gesagt: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.«

Auch wenn Epidemien und Pandemien Geschehnisse eigener Art zu sein scheinen, so hat doch die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens mit einer Menge Faktoren zu tun, die nicht im engeren Sinn virologisch sind. Im Zuge der Erschließung von immer mehr Naturräumen zu Zwecken der Rohstoffgewinnung und menschlichen Besiedelung sind die Grenzen zwischen den Habitaten von Menschen und Tieren immer durchlässiger geworden. Die Wahrscheinlichkeit von Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die bei Tieren und Menschen vorkommen und wechselseitig übertragen werden können, ist damit kontinuierlich angestiegen. Vogelgrippe, Schweinegrippe, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und eben auch Covid-19-Infektionen sind Beispiele. Zugleich sorgt die global stetig wachsende Mobilität dafür, dass sich Infektionen schnell und weit ausbreiten und nur schwer unter Kontrolle gebracht werden können.

Pandemien sind allen wissenschaftlichen Einschätzungen zufolge Geschehnisse, die in Zukunft häufiger auftreten werden; ihre Stärke und ihre Dimensionen sind ungewiss. Auch die Coronapandemie ist nicht vorbei. Sie ist nur, wie die Virologen sagen, endemisch geworden. Sie wird künftig, wie die Influenza, immer wieder und in saisonalen Wellen auftreten. Also auch keine Krise , sondern eine Veränderung, die fortwirkt.

Nächste »Krise«: der russische Überfall auf die Ukraine . Der 24. Februar 2022 markierte bekanntlich nur jenen manifesten Punkt, an dem man nicht mehr – wie noch 2008 nach dem Georgienkrieg und 2014 nach der russischen Annexion der Krim – mit dem illusionären Wandel-durch-Handel-Konzept weitermachen konnte, das Deutschland über lange Jahre mit billiger Energie aus Russland versorgt hatte. Dieser Krise läuft – wie in einem Modus von Schuldstolz seit der ausgerufenen Zeitenwende rauf und runter beteuert wird – eine lange Phase des Ignorierens ihrer Anzeichen voraus, und ihre Wirkungen werden äußerst nachhaltig sein.

Wenn es nicht so furchtbar wäre, würde man sagen: Die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern, das war der Auftakt, der nächste imperialistische Angriffskrieg steht bereits unmittelbar bevor. China wird den Versuch machen, Taiwan zu annektieren. Das hat es zuvor schon, unter bemerkenswert geringer internationaler Beachtung oder auch geflissentlicher Nichtbeachtung, mit Hongkong gemacht. Diese äußerst brutale, vertragsbrüchige und völkerrechtswidrige Machtübernahme hat die berühmte Weltöffentlichkeit nicht groß geschert.

In einem bei der UN hinterlegten Vertrag zwischen China und Großbritannien von 1985, der sogenannten Joint Declaration , wurde Hongkong für 50 Jahre der Status einer Sonderverwaltungsregion eingeräumt, mit Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Demonstrationsrecht, Meinungsfreiheit , Rechtstaatlichkeit. »Ein Land, zwei Systeme«, hieß das Leitbild dafür, das aber gut 40 Jahre später einer Realität wich, in der die – vor allem aus Studierenden bestehende – Hongkonger Protestbewegung gegen die von China verhängten Freiheitseinschränkungen mit mehr und mehr Gewalt beantwortet wurde. Bis China ein »Sicherheitsgesetz« beschloss, mit dem so ziemlich alles kriminalisiert wurde, was als chinakritische oder chinafeindliche Handlung interpretiert werden konnte. Die ohnehin chinatreue Präsidentin Carrie Lam wurde im Juli 2022 durch ein von Peking kontrolliertes Wahlgremium mit dem Hardliner John Lee ersetzt. Oppositionelle sitzen heute im Gefängnis, sieben Millionen Menschen haben ihre Freiheit verloren. Die wertebasierte Reaktion des Westens fiel verhalten aus. Man zeigte sich wie üblich »entsetzt«.

Dass der neue Imperialismus , wie ihn gegenwärtig Russland und China praktizieren, eine Ursache in den Folgen des Klimawandels hat, führe ich später noch aus (vgl. S. 83), aber schon hier lässt sich sagen, dass Landnahme als politische Option wahrscheinlicher wird, wenn das nutzbare Land schwindet. Dass autoritär oder diktatorisch regierte Staaten keinerlei ethische oder moralische Probleme damit haben, andere Länder zu überfallen, ist einfach zu verstehen: Sie folgen ja einer partikularen, keiner universalistischen Moral. Ihre Solidarität gilt nur den eigenen Leuten, den Zugehörigen. Dass es andere, Nichtzugehörige gibt, ist ein Teil ihres Systems der Herrschaftssicherung und für dieses sogar zwingend notwendig.

Je weniger nutzbares Land, desto wahrscheinlicher imperialistische Kriege. Auch der Ukrainekrieg ist mithin keine Krise . Unabhängig davon, wie er schließlich ausgehen wird, ist er nur einer von vielen weiteren, die folgen werden. Es war ja verblüffend zu sehen, wie widerspruchslos die Rede von der Zeitenwende und die damit verbundene Remilitarisierung aufgenommen wurde: Ja, nee, is klar, Zeitenwende. Das historische Unglück, neben all den zerstörten Leben der Toten und ihrer Angehörigen, besteht darin, dass wir alle mit der Militarisierung und Aufrüstung und einer neuen Blockbildung einen Entzivilisierungsschub erleben, der für die Kriegsvorbereitung materielle und mentale Kapazitäten von dort abzieht, wo sie eigentlich gebraucht werden. In diesem Sinn übrigens sind Imperialismus und Krieg willkommene Ablenkungen von unlösbar scheinenden Problemen – man hat jetzt Wichtigeres zu tun, als den Klimawandel zu bekämpfen. Ranga Yogeshwar fasst das in das Bild, dass der Dachstuhl brennt, man sich aber um die Zimmer streitet. Richard David Precht beschreibt es als Umarrangieren der Liegestühle auf der Titanic.

Beispiele und Metaphern solcher Art gibt es unzählige; sie alle zeigen, dass es die Wirklichkeit oft schwer hat gegen Überzeugungen. Mehr noch: dass die Bewältigung der Dissonanz darin besteht, nicht die Wirklichkeit anzuerkennen und sich danach zu verhalten, sondern die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu verändern. Dass die Fragen von Erderhitzung und Artensterben am Ende sogar die Frage von Krieg und Frieden gegenstandslos machen, ist kein Trost. Die Energien, die sie beanspruchen, und die Aufmerksamkeitsdefizite, die sie provozieren, führen uns nicht nur von den möglichen Lösungen immer weiter weg, sondern auch von der Bereitschaft, die Probleme lösen zu wollen.

Nächste Krise: Wasser. Wie lange, glauben Sie, wird es noch dauern, bis Sie nicht mehr duschen können, wann Sie wollen? Das kann, der Frühsommer 2023 zeigt es, schneller geschehen, als Sie befürchten. Bereits in den vergangenen Jahren kam es in einzelnen Kommunen in Deutschland zu Forderungen, den Wassernotstand auszurufen, was etwa Verbote nach sich zieht, den Pool zu füllen oder den Rasen zu sprengen. Entsprechende Bilder kennen wir aus Kalifornien, wo manche Hausbesitzer den grauen Rasen mit amerikanischem Pragmatismus dann grün angestrichen haben, aber auch in Europa herrscht nach mehreren Rekordsommern hintereinander katastrophaler Wassermangel. Der Gardasee ist im Mai 2023 nur noch zu 40 bis 50 Prozent gefüllt, in Spanien herrschen bereits im Frühjahr hochsommerliche Temperaturen mit bis zu 40 Grad. Wasser fehlt dort überall, besonders aber im Süden, wo Gemüse für ganz Europa angebaut wird. In Brandenburg ist trotz eines regenreichen Frühjahrs der Grundwasserspiegel noch nicht wieder aufgefüllt. Zustände, wie wir sie vor zehn Jahren in einem Szenario für das Jahr 2040 berechnet haben, herrschen schon jetzt. [36] Es geht alles viel schneller. Das Problem ist nicht lösbar. Wo das Wasser fehlt, fehlt das Wasser.

Deshalb erklärte das Weltwirtschaftsforum schon 2019 Wasserknappheit und seine Auswirkungen als die größte Gefahr des kommenden Jahrzehnts. [37] Während ich dieses Buch schrieb, wurde ein Großteil Europas von einer Winterdürre heimgesucht, die zu ernsten Problemen für die Wasserversorgung von Haushalten, Landwirtschaft und Industrie führt. [38]

Daraus resultieren Konflikte um das Wasser, wie etwa zwischen dem Norden und dem Süden Spaniens. Die Weinbaugebiete auf der Iberischen Halbinsel werden bis 2050 um mindestens ein Viertel schrumpfen; die Olivenernte in Südspanien könnte früheren Studien zufolge bis 2100 um 30 Prozent zurückgehen. [39] Ein Fünftel der spanischen Landfläche ist bereits verödet und kann nicht mehr bewirtschaftet werden. [40] Davon betroffen sind Anbau und Export von Avocado, Oliven, Orangen, Mandarinen, Zitronen, Trauben und Getreide mit Einbußen von bis 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Preise steigen heftig. In Deutschland haben die Landwirte als Reaktion auf die Entwicklung den Anbau von Sonnenblumen mehr als verdoppelt. [41] Obwohl Spanien vertraglich verpflichtet ist, Portugal jährlich 14300 Kubikhektometer aus grenzüberschreitenden Flüssen zu geben, fordern spanische Bauern zunehmend, kein weiteres Wasser zu liefern und kündigen an, Gewalt anzuwenden, um Wassertransfers zu verhindern.

Diese Situation verdankt sich, wie bei allen vergleichbaren Katastrophen, nicht dem Klimawandel allein, sondern geht auch auf ein traditionell schlechtes Wassermanagement zurück. Der WWF nennt den Umgang mit Wasser in Spanien »selbstmörderisch« – vier Millionen Hektar Ackerland werden in Spanien bewässert, so viel wie in Frankreich und Italien zusammen. Undichte Leitungen und schlechte Bewirtschaftung sorgen für Verschwendung, aber ein Abstellen dieser Probleme wird die Wassernot nicht beheben. Fast kann man darauf wetten, wann manifeste Gewalt ausbricht. Dieses Jahr? Nächstes?

Für Italien, aber etwa auch für den Neusiedler See in Österreich, gilt dasselbe. Frankreich verzeichnete im Frühjahr 2023 32 Tage ohne Niederschläge, die längste Periode seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1959. [42] Der Umweltminister, Christophe Béchu , warnte, dass Frankreich in den kommenden Jahren mit bis zu 40 Prozent weniger Wasser auskommen müsse. Dort mussten im vergangenen Sommer viele Atomkraftwerke ihre Stromproduktion einstellen, weil wegen des Niedrigwassers in den Flüssen die Kühlung ausfiel.

In Deutschland drohten, und da zeigt sich die ganze Absurdität der Gegenwart, Lieferrückstände für den Betrieb der Kohlekraftwerke, weil die Frachtschiffe wegen des Niedrigwassers die Kohle nicht transportieren konnten. Die Folgen des Klimawandels sorgen dafür, dass die Kohle nicht mehr zu den Kraftwerken kommt, um dort bestimmungsgemäß CO ₂ zu emittieren, das den Klimawandel treibt.

Man sieht an alldem die unglaubliche Verletzlichkeit der Systeme der Nahrungsmittel- und Energieversorgung. Anders gesagt: Die Systeme sind auf Fülle ausgelegt, nicht auf Mangel. Aber die Zeiten der Fülle sind vorbei. Schon jetzt gibt es viele Konflikte wegen der Wasserkonkurrenz zwischen Land und Stadt auch in Deutschland – etwa zwischen Hamburg und der Nordheide, wo der Grundwasserspiegel teilweise bereits um 1,5 Meter gesunken ist, weil die Großstadt das Wasser abzapft. Dasselbe zwischen Frankfurt und dem Vogelsbergkreis, zwischen dem Landkreis Diepholz und Bremen. Während das Wasser insgesamt zurückgeht, wird mehr Wasser für die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen aufgewendet, 36 Prozent mehr als vor zehn Jahren. [43]

Das wirkt heute hierzulande alles noch harmlos, aber global nehmen auch manifeste Gewaltkonflikte um Wasser zu:

Abb. 3: Wird mehr: Anzahl der Wasserkonflikte weltweit.

Aber Augenblick mal: Wieso habe ich eben ganz selbstverständlich geschrieben: »Nächste Krise : Wasser«? Sie ist doch noch gar nicht da, die Wasserkrise. Zumindest richtig systematisch nicht in der Berichterstattung, systemisch nicht in der Politik. Immerhin hat die Bundesregierung im Frühjahr 2023 eine »nationale Wasserstrategie« verabschiedet, die 80 Maßnahmen von der Aufklärung der Bevölkerung bis hin zur »gewässersensiblen Stadtentwicklung« vorsieht. [44] Das ist lobenswert, aber angesichts der rapiden Entwicklung zu spät.

Infrastrukturmaßnahmen, die die versiegelten Städte wieder zu »Schwammstädten« machen, brauchen sehr viel Zeit, bis sie wirksam werden, und auch hier treten sofort Zielkonflikte zwischen Plänen für den Wohnungsbau, dem Ausbau der Autobahnen und der »Gewässersensibilität« auf, die viele sinnvolle Ideen und Pläne zum Scheitern verurteilen. Mal ganz abgesehen davon, dass hochsubventionierte Industrieansiedlungen wie die in jeder Hinsicht idiotische Autofabrik von Elon Musk im brandenburgischen Grünheide auf die Wassermangelsituation keine Rücksicht nehmen. Man wird also wieder total überrascht sein, wenn die Wasserkrise dann da ist.