Das Krisengeflecht

Wenn man die Prozesse, die man sich angewöhnt hat » Krisen « zu nennen, also im Zusammenhang betrachtet, erscheinen sie als Knoten in einem Krisengeflecht, das sich in den nächsten Jahren erweitern wird – schon aus dem simplen Grund, dass sie eigentlich nicht bearbeitet, sondern dilatorisch verwaltet werden. Welche weiteren »Krisen« sind erwartbar? Mehr Kriege, früher oder später eine neue Pandemie, mehr Flüchtlinge, weitere Wandlungen von Demokratien in Autokratien , Cyberangriffe auf Infrastrukturen, Blackouts.

Das sind die Knowns, dazu kommen bekanntlich die Unknowns. Und dann noch die Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir nichts von ihnen wissen. [45] Aber mir reichen schon die Knowns, um ganz gut begründet sagen zu können, dass wir die mit ihnen verbundenen Probleme nicht mit den hergebrachten Strategien der Optimierung und Steigerung lösen können. Da sind wir wieder bei Wissing .

Unser Wirtschafts- und Kulturmodell geht mit der Welt im Modus der Steigerung und Optimierung um. Weil es ein Erfolgsmodell ist, gibt es diese hartnäckige Weigerung, eine überlebenstaugliche Kulturtechnik zu entwickeln, zu erlernen und anzuwenden. Klimawandel und Artensterben und all die mit ihnen verwandten ökologischen Probleme sind Endlichkeitsprobleme. Sie sind keine Krisen . Sie sind in einem strengen Sinn nicht einmal bewältigbar, man kann sie vielleicht aufhalten, verlangsamen, langsam zu heilen versuchen. Solche Strategien sind aber systematisch etwas anderes als Steigerung und Optimierung. Wir müssten also lernen, nicht nur wahrzunehmen, sondern auch wahrzugeben. [46]

Wahrzugeben, dass unser in ökonomischer Hinsicht extrem erfolgreiches Modell an sein Ende gekommen ist. Und mit ihm die Fortsetzung der gewohnten Bewältigungsstrategien. Wenn das Wasser weniger wird, die Wälder brennen und die Arten sterben, helfen die Routinen der gesteigerten Ausbeutung von Ressourcen nicht weiter, im Gegenteil. Odo Marquard hat einmal in Anspielung auf die Feuerbach-Thesen von Karl Marx gesagt, es komme nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen. Je länger man versucht, die Lösungsstrategien, die zu den Problemen von gestern passten, auf die Probleme von heute anzuwenden, desto größer werden sie, die Probleme. Und desto weniger wird man in der Lage sein, zu gestalten, weil man immer mehr nur noch reagieren kann.

Sozialpsychologisch betrachtet geschieht aber das Gegenteil: Gerade dann, wenn eine unangenehme Erkenntnis aufdringlich wird, sich nicht mehr wegwischen lässt, wird das Bedürfnis stärker, sie nicht wahrhaben zu wollen. Die Erkenntnis selbst bekommt den Status von etwas, das man bekämpfen möchte. Sie wird das Objekt von wachsender Aggression.

Abb. 4: Auch die FDP hat eine Utopie.

Wenn wir es in Zeiten von Erderhitzung und Artensterben mit Endlichkeitsproblemen zu tun haben, dann stößt die Anerkennung dessen mit dem Unendlichkeitsglauben unserer Kultur und unseres Wirtschaftsmodells zusammen; das erzeugt, wie schon gesagt, kognitive Dissonanz . Wie für die Sektenmitglieder bei Festinger ist die Reaktion die Intensivierung des Glaubens: Der Markt werde die Probleme schon lösen, man müsse nur das CO ₂ bepreisen und klimaneutrale Produkte herstellen, dann werde die Endlichkeit schon besiegt.

Das Problem: Ein Weitermachen wie bisher, die verbissene Optimierung des Falschen, ist subjektiv naheliegender als die Suche nach Wegen, die man bisher noch nicht gegangen ist. Deshalb scheut die akademische Ökonomik die Entwicklung einer Ökonomie der Endlichkeit wie der Teufel das Weihwasser, deshalb fasst die grüne Politik keinen Gedanken , der irgendetwas mit Innehalten oder Aufhören zu tun hätte, und deshalb machen auch die Individuen ihre rastlose Aufrüstung des Lebens mit Konsumgütern und Smart Watches weiter, als würde mit alldem das unausweichliche Ende vermeidbar.