Die Käfer reagieren nicht adäquat

Eine in der Zeitschrift Communications Biology publizierte Studie hat gerade darüber berichtet, dass mehr als 60 waldbewohnende Insektenarten in Deutschland im Bestand zurückgehen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet darüber in einem kurzen Artikel, der folgendermaßen endet: »Die Rückgänge betreffen besonders auch große Arten wie den Feldmaikäfer oder den Goldglänzenden Laufkäfer. Ihr vergleichsweise langsamer Fortpflanzungszyklus erschwert ihnen, auf schnelle Umweltveränderungen adäquat zu reagieren.« [47]

Das liest man so routiniert herunter, weil es unseren Erwartungen inzwischen entspricht – wundern würde man sich ja, wenn die Bestände nicht zurückgingen oder insbesondere die großen Arten zu dem Schluss kommen, jetzt mal beim Rückgang nicht mitzumachen. Nanu, Herr Welzer, das hört sich jetzt aber so an, als könnte das Verhalten der Goldglänzenden Laufkäfer so eine Art bewusster Entscheidung sein. Gut. Aber wie ist es dann mit der Formulierung im Text, dass etwas in des Käfers Biologie ihn hindert, »auf schnelle Umweltveränderungen adäquat zu reagieren«? Heißt das, der Käfer hätte eine Möglichkeit, adäquat zu reagieren, die er nur aus Verstocktheit oder Dummheit nicht nutzt? Und was wäre denn eine adäquate Reaktion aus Sicht des Autors? Man könnte ja genauso gut sagen, der Käfer reagiert voll adäquat: Wo seine Lebensbedingungen eingeschränkt werden, macht er nicht mehr so viele Nachkommen. Und wenn sie schließlich nicht mehr verfügbar sind, die Lebensbedingungen, dann stirbt er aus. Ist das inadäquat? Interessanterweise schreibt der Autor hier den Käfern zu, was seine eigene Gattung offenbar nicht macht: auf schnelle Umweltveränderungen adäquat zu reagieren.

Denn das tut die biologische Art Homo sapiens ganz offenbar nicht, und zwar zum Schaden des Käfers. Und zu ihrem eigenen.

Jared Diamond hat in seinem Buch »Kollaps« [48] anhand zahlreicher historischer Beispiele beschrieben, dass untergehende Kulturen ihre Selbstabschaffung beschleunigten, wenn sie im Angesicht veränderter Umweltbedingungen und schwindender Ressourcen jene Strategien intensivierten, mit denen sie bislang erfolgreich gewesen waren. Degradierte Böden aber laugen noch schneller aus, wenn man sie intensiver bewirtschaftet, genauso wie die Naturzerstörung, die unsere Kultur heute bedroht, intensiviert wird, wenn – wie in der Arktis – Rohstoffe aufgrund der Folgen des Klimawandels zugänglich und ausbeutbar werden. Und der Zeitpunkt, an dem der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist, nochmals hinausgeschoben wird. Statt die Tatsache der Endlichkeit zur Kenntnis zu nehmen, die das schmelzende und eben nicht mehr ewige Eis symbolisiert, nimmt man sie als Gelegenheit, intensiver, geradezu wütender mit dem tradierten Programm weitermachen zu können.

Gerade erfolgreiche Kulturmodelle schaffen sich keine Zonen des Erlernens von Überlebensstrategien . In einer Kultur der manischen Steigerung von allem könnte ein Lernprogramm zum Aufhören, eine Gymnastik mit Endlichkeitsübungen, eine Gegenbewegung zum großen Programm des wütenden Weitermachens eröffnen. Die Anerkennung und eben nicht die Exterritorialisierung von Tod und Endlichkeit wäre die Voraussetzung dafür. In Abwandlung des berühmten Slogans eines Mineralölkonzerns: Es gibt viel zu tun; lassen wir es sein.

Also: Die aktuellen und die kommenden Krisen haben eine gemeinsame Ursache: die wachsende Überlastung des Erdsystems bei ausbleibendem politischen Handeln. Das wird die Bewältigungskapazitäten der Staaten so herausfordern, dass viele von ihnen mehr und mehr in den Modus des reinen Reagierens kommen. Das ist in Deutschland bereits der Fall, und im permanenten Modus des Krisenmanagements unterbleibt die von Zeit zu Zeit notwendige Vergewisserung, was eigentlich das übergeordnete Leitbild und Ziel von Politik ist. Es regieren die Sachzwänge, das »beschleunigte« Planen, Umsetzen, Implementieren, die Alternativlosigkeit – was unterm Strich bedeutet: Es herrschen diejenigen Interessen, die jetzt die größte Chance haben, sich durchzusetzen. Der Horizont wird nicht weiter, er verschwindet. Das Land von gestern wird stetig gestriger.

Die Logik des Misslingens

So heißt ein Buch des Psychologen Dietrich Dörner , das erstmals 1989 erschien. Es beschäftigt sich mit dem Denken in komplexen Situationen und arbeitet heraus, welche Fehler dabei fast standardmäßig auftreten. Bei Geschehnissen wie der Erderhitzung und dem Ukrainekrieg, aber auch beim gerade skizzierten Krisengeflecht hat man es zweifellos mit komplexen Situationen zu tun. Deshalb lohnt es zum besseren Verständnis der Gründe, warum Bewältigungsversuche scheitern, einen Blick auf die Spezifika komplexer Situationen zu werfen. Eine komplexe Situation ist ein System, das aus einer Menge von Variablen besteht, »die durch ein Netzwerk von kausalen Abhängigkeiten miteinander verbunden sind«. [49] Das bedeutet einfacher gesagt, dass man in einem solchen System niemals eine Sache macht, wenn man interveniert, sondern immer mehrere. Dass man nicht einen einzigen Aspekt verändern kann, sondern eine Intervention immer eine Menge anderer Aspekte mit verändert. Das System ist dynamisch, und Veränderungen eines Aspektes erzeugen Nebenfolgen und Fernwirkungen, die erst später wirksam oder auch nur sichtbar werden können.

Deshalb haben komplexe Systeme eine besondere Zeitlichkeit. Wenn zum Beispiel bei einer Havarie in einem Atomkraftwerk (wie in Tschernobyl) technische Eingriffe in einen physikalischen Ablauf gemacht werden, um etwa eine Überhitzung oder einen Druckverlust zu reduzieren, steht der augenblickliche Wert im Vordergrund, der folgerichtig zu regulieren versucht wird. Aus dem Blick gerät dabei schnell, dass der bereits ausgelöste Prozess einer Überhitzung schon Dynamiken in Gang gesetzt hat, die mit der Regulierung des Wertes, der das Problem ausgelöst hat, nicht aufgehalten werden können. Im Gegenteil ist in konkreten Fällen häufig eine »Übersteuerung« der Korrekturversuche zu beobachten: Das technische System scheint nicht zu reagieren, also wird der Versuch mit höherer Intensität wiederholt. »Eine solche Tendenz zur Übersteuerung ist charakteristisch für den Umgang von Menschen mit dynamischen Systemen. Wir gehen nicht von der Entwicklung des Systems, also von den Zeitdifferenzen zwischen aufeinander folgenden Zeitpunkten aus, sondern von dem zum jeweiligen Zeitpunkt feststellbaren Zustand . Man reguliert den Zustand und nicht den Prozess und erreicht damit, dass das Eigenverhalten des Systems und die Steuerungsversuche sich überlagern und die Steuerung überschießend wird.« [50]

Übertragen auf das systemische Geschehen Klimawandel leuchtet sofort ein, was das Problem ist: 2015, auf der Pariser Klimakonferenz , wird das 1,5-Grad-Ziel verbindlich gemacht – das heißt, die unterzeichnenden Staaten einigen sich darauf, Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, den globalen Temperaturanstieg bis zum Jahr 2100 auf 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Trotz mehr oder minder ernsthafter und erfolgreicher Versuche, Emissionen zu reduzieren, liegt man aber schon wenige Jahre später in einigen Regionen über dem Wert von 1,5 Grad, am Ziel wird gleichwohl festgehalten. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle: dass sich dieselben Zehntelgrade Durchschnittserhöhung lokal sehr unterschiedlich zu erheblich höheren Werten ausprägen können, dass das Klimasystem träge ist und die heutigen Klimawandelfolgen auf die Emissionen von vor 30 Jahren zurückgehen, dass die Emissionsmenge absolut nicht sinkt und noch einige mehr. Man versucht also auch hier, den Zustand zu regulieren und nicht den Prozess. Wenn man merkt, dass die Zielwerte gerissen werden, reguliert man nach, verlegt also das Ziel des Kohleausstiegs vor u.Ä.

Das Problem ist, dass der Prozess so ungebremst weiterläuft, dass der Zustand, für den das Ziel formuliert wurde, längst nicht mehr existiert. Ein Beispiel: Zu Beginn der Debatte um den Klimawandel wurde erbittert darum gestritten, was wichtiger wäre: Vermeidung (von noch mehr Emissionen) oder Anpassung (an die Folgen). Man entschied sich – zustandsbezogen – für Vermeidung. Das ist mittlerweile – prozessbezogen – aber unrealistisch, trotzdem wird am ursprünglich vereinbarten Ziel festgehalten. Man investiert ungeheure Energien und Mittel, um das schon unvermeidlich Gewordene zu vermeiden. [51]

Ein weiterer Grund für das Misslingen der Bewältigung komplexer Situationen hängt damit zusammen: dass sich systemische Veränderungen scheinbar langsam aufbauen und zunächst gar nichts Bedrohliches anzeigen. Alles bleibt normal – wie für den berühmten Truthahn, der bis zum Tag vor Thanksgiving sich seines Lebens freut, gut behandelt wird und Futter bekommt, bis …

Wir alle haben das Truthahn-Erlebnis in den Wochen gehabt, die scheinbar vor der Corona-Pandemie lagen: Meldungen aus einer chinesischen Stadt, von der man bis dahin noch nie etwas gehört hatte, Meldungen über weitere Ausbreitungen eines unbekannten Virus in Asien, Meldungen über erstes Auftreten in Europa, Meldungen über einen ersten Fall in Deutschland, Meldungen über mehrere Fälle in Deutschland, Meldungen über gehäuftes Auftreten an einzelnen Orten in Deutschland, und dann – ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Bundeskanzlerin erklärt, was exponentielles Wachstum ist. Die Plötzlichkeit, mit der eine Katastrophe da ist, ist gar keine, man hat nur die Anzeichen nicht zur Kenntnis genommen.

»›Katastrophale Wendungen‹ treten scheinbar plötzlich ein. In Wirklichkeit werden sie vorbereitet. Bestimmte ›im Untergrund‹ verlaufende Entwicklungen belasten die Bedingungen für die gute Weiterentwicklung eines Systems immer mehr, bis es schließlich nicht mehr dagegen ankommen kann und zusammenbricht.« [52] Dafür steht die politische Konjunktur des Begriffs der Überraschung: Der damalige deutsche Außenminister war sehr überrascht, als die Taliban einfach die Macht in Afghanistan übernahmen, alle waren sehr überrascht, als das Ahrtal überflutet wurde, man war überrascht, als Putin die Ukraine überfiel. Die Verantwortlichen werden sehr überrascht sein, wenn die deutsche Automobilindustrie zusammenbricht, das Wasser rationiert werden muss oder Hacker einen landesweiten Blackout verursachen. Oder wenn es einen Dritten Weltkrieg gibt. »Das hätten wir nicht gedacht«, wird man sagen, falls man noch etwas sagen kann. Oder, mit Peter Ustinov : Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt explodiert, wird die Stimme eines Experten sein, der sagt: »Das ist technisch unmöglich!«

Aber der Experte gehört schon zum nächsten Faktor, der dafür sorgt, dass komplexe Entwicklungen nicht bewältigt werden. Der liegt darin, dass man dazu neigt, einen einzigen Aspekt aus dem Gesamtzusammenhang zu isolieren, den man scheinbar handhaben kann. Dörner nennt das eine »Zentralreduktion«. »Experten« sind ja immer Experten für einen spezifischen Sachverhalt, nicht für das Ganze. In der Pandemiebekämpfung waren Epidemiologie und Virologie gefragt, nicht Pädagogik oder Psychologie, obwohl die zu den Neben- und Fernwirkungen der erwogenen Maßnahmen etwas zu sagen gehabt hätten. Im Fall des Klimawandels haben die Naturwissenschaften das Treibhausgas Kohlendioxid ins Zentrum aller Bemühungen der Bewältigung gerückt – weil man meint, dieses Molekül langfristig aus dem wirtschaftlichen Metabolismus verbannen und seine Treibhaus-Wirkung annullieren zu können. Alle Nebenfolgen und Fernwirkungen der Eliminierungsversuche – von Energiepreisen über Landschaftszerstörung und Einschränkungen des Naturschutzes bis zu Strukturwandlungen in der industriellen Landschaft – treten vor der Konzentration auf die eine Strategie zurück. Dabei kann es passieren, dass das anstehende Problem gelöst wird, aber nicht die Probleme, die durch die Lösung erst entstehen.

»Wenn wir, statt uns das komplizierte Geflecht der Abhängigkeiten der Variablen eines Systems klar zu machen, eine Zentralreduktion durchführen, also eine Variable als zentral ansehen, so ist dies in zweierlei Weise ökonomisch: Zum einen spart man auf diese Weise eine ganze Menge weiterer Analysetätigkeit. […] Denn wenn eine Variable im Zentrum des gesamten Geschehens steht, dann braucht man auch nur über diese eine Variable Informationen. Der Rest ist dann ja sowieso abhängig von der Kernvariablen; um den Zustand der anderen Variablen braucht man sich nicht mehr zu kümmern. Auch die Planung von Maßnahmen kann man auf diese eine Zentralvariable beschränken. Die Zentralreduktion ist also an Ökonomie kaum zu übertreffen: sie erlaubt den sparsamsten Umgang mit der kostbaren Ressource ›Nachdenken‹.« [53]

Schließlich spielt wahrgenommener Zeitdruck eine enorm große Rolle dafür, dass die Komplexität der Situation reduziert wird auf jenen Punkt der Unmittelbarkeit, der scheinbar »sofort, unverzüglich« zur Handlung führt, obwohl ein systemischer Überblick ganz andere Punkte des Eingreifens nahelegen würde. Dabei ist in der Gegenwart besonders fatal, dass Geschwindigkeit und Beschleunigung per se hoch bewertet werden und Langsamkeit und Bedacht niedrig. Das ist gerade für die Entscheidungsfindung in komplexen Situationen gefährlich, weil es dann immer vorteilhaft scheint, schnell etwas zu tun, und nachteilig, zu zögern. Die »Überwertigkeit des aktuellen Motivs« reicht in der Regel schon hin, die Situation, in die sich die Gesellschaften unseres Typs hineinmanövriert haben, nicht in Gänze zu erfassen.

Wir finden also »die Tendenz zur Überdosierung von Maßnahmen unter Zeitdruck. Wir finden die Unfähigkeit zum nichtlinearen Denken in Kausalnetzen statt in Kausalketten, also die Unfähigkeit dazu, Neben- und Fernwirkungen des eigenen Verhaltens richtig in Rechnung zu stellen. Wir finden die Unterschätzung exponentieller Abläufe: die Unfähigkeit zu sehen, dass ein exponentiell ablaufender Prozess, wenn er erst einmal begonnen hat, mit einer sehr großen Beschleunigung abläuft. All das sind ›kognitive‹ Fehler, Fehler in der Erkenntnistätigkeit.« [54]

In der Tat. Dörners Befunde sind mehr als dreißig Jahre alt, genauso wie der erste Sachstandsbericht des IPCC , des internationalen Rats der Klimawissenschaften. Die Umweltbewegung ist noch älter, eine dazugehörige Politik ist langsam entstanden und hat in verschiedenen Ländern die parlamentarische Ebene erreicht. Dass man gleichwohl an den entscheidenden Stellen die falsche Richtung einschlägt, hat nicht nur mit Interesse, Macht und Dummheit zu tun, sondern mit blankem Unwissen über basale psychologische Sachverhalte. Erkenntnisse wie die von Dörner, aber etwa auch Irving Janis , [55] Nassim Nicholas Taleb , [56] Daniel Kahneman [57] oder von Karl Weick und Kathleen Sutcliffe [58] sind nicht geheim, sondern zum Teil sogar in internationalen Bestsellern nachzulesen. Warum gehen psychologische Banalitäten wie die, dass man in dreißigstündigen Sitzungen alles Mögliche machen kann, nur nicht vernünftige Entscheidungen treffen, nicht in politisches Entscheidungsmanagement ein? Warum werden die Fehler in der Erkenntnistätigkeit wieder und wieder mit erwartbar katastrophischem Ergebnis repliziert?

Es gibt übrigens noch einen wichtigen Punkt bei Dörner : dass die Handelnden in komplexen Situationen meist nicht identisch mit den Betroffenen der Handlungsfolgen sind. Das gilt für diejenigen, die ihre Häuser in der Finanzmarktkrise verloren haben, die Flüchtlinge an den europäischen Grenzen, die Kinder in der Pandemie, die Toten im Ukrainekrieg, die Opfer der Wasserkonflikte. Deshalb gibt es dieses Vertretungsheldentum in der Kriegspolitik und den Zynismus der europäischen Flüchtlingspolitik. Es ist nicht nur die Überforderung der sogenannten Entscheidungsträger im geschilderten Sinn, ihre Unfähigkeit im Mitbedenken der Neben- und Fernwirkungen ihrer Entscheidungen, sondern auch, dass sie die Probleme selbst nicht haben und unter den damit verbundenen Missständen nicht leiden. [59]