Wenn eine Spitzenpolitikerin wie Katrin Göring-Eckardt sich schon vornehmen muss, »mit den Leuten wie mit Erwachsenen« zu reden, in welchem hierarchischen Verhältnis mag sie sich dann wohl zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehen? Oder anderen benachteiligten Gruppen der Gesellschaft? Die Repräsentationslücke genauso wie die Hermetik der politischen Klasse lässt ja unmittelbare Überschreitungen der Gruppengrenzen jenseits ritueller Schul- oder Flüchtlingsheimbesuche kaum zu, weshalb viele gesellschaftliche Teilgruppen – von armen Kindern (mehr als 20 Prozent der Kinder) bis hin zu armen alten Menschen (mehr als 17 Prozent der über 65-Jährigen) und allen partikularen Gruppen daneben und dazwischen die Bevölkerung in Deutschland ausmachen.
Die für die Zukunft der Demokratie wichtigste Gruppe, die der jungen Menschen, möchte ich noch einmal besonders herausgreifen, weil sie von der Politik besonders ignorant behandelt wird. Kinder wählen nicht, Jugendliche auch nicht. Deshalb kommen sie in Reden vor, in denen es um Werte geht, ansonsten stehen sie aber nur dann im Fokus der Politik, wenn sie, wie in der Berliner Silvesternacht oder als »Partyvolk« in der Pandemie , negativ auffallen.
Deshalb hier noch ein paar Bemerkungen zur nachrückenden Generation: Inzwischen hat sich ja herumgesprochen, dass es die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen waren, die durch das Pandemiemanagement am deutlichsten benachteiligt wurden, was zu erheblichen Gesundheitsfolgen und psychischen Problemen geführt hat und weiter führen wird.
Eine interministerielle Arbeitsgruppe hat im Februar 2023 auf der Basis der vorliegenden Studien eine erhöhte psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen festgestellt: [172] Danach fühlen sich 81 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 7 und 17 Jahren »ziemlich« bzw. »äußerst« psychisch belastet, 8 Prozent der Eltern geben eine mittlere oder (sehr) schlechte allgemeine Gesundheit ihrer 3 bis 15-jährigen Kinder an. Hinzu kommt ein Anstieg von psychischen Auffälligkeiten: Der Anteil von diagnostizierten Essstörungen bei Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren hat sich 2021 im Vergleich zu 2019 um 54 Prozent erhöht, Depressionen sind um 18 Prozent (bei 10 bis 14-jährigen Mädchen um 23 Prozent) und Angststörungen um 24 Prozent gestiegen. Diese Befunde gründen auf Versorgungsdaten der DAK und können keine wissenschaftliche Evidenz beanspruchen, aber sie geben Tendenzen an.
Bewegungsmangel, psychische Belastung und anhaltend fehlende Angebote führten zu Problemen mit Übergewicht und Adipositas, vor allem während der Pandemie.
Zudem scheint die empfundene Lebensqualität gesunken: So geben laut der Studie »Corona und Psyche« der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf 31 Prozent an, »dass sich ihr Verhältnis zu Freundinnen und Freunden verschlechtert hat, 59 Prozent empfinden die Schule bzw. das Lernen als anstrengender und 23 Prozent räumen ein, dass sie sich häufiger streiten. Knapp ein Drittel (30 Prozent) der Eltern gaben zudem an, dass Streitigkeiten zwischen ihnen und ihren Kindern häufiger eskalieren.« [173]
Dazu gibt es eine große Zahl von jungen Menschen, die Praktika, Auslandsaufenthalte, Freiwillige Soziale Jahre nicht beginnen konnten. Viele Studierende, gerade in den ersten Semestern, litten darunter, in eine fremde Stadt umgezogen zu sein und keinerlei Sozialkontakte zu haben; viele eigentlich Erwachsene mussten aus finanziellen Gründen wieder in die elterlichen Wohnungen zurückziehen. Usw. usf.
Bemerkenswerterweise hatte die Bildungspolitik beim absehbaren Abklingen der unmittelbaren Pandemie erhebliche Sorgen darüber, dass die Kinder heftige Bildungsrückstände erlitten hätten, und legte ein Programm auf, damit sie diese aufholen könnten. Dass man ihnen beispielsweise kostenlose Freibad- und Kinobesuche, Strandpartys oder Konzerte hätte anbieten können, um sie für entgangene Lebensfreude in für die weitere Entwicklung enorm wichtigen Lebensjahren ein wenig zu entschädigen, darauf kam in der Politik niemand.
Stichwort »Bildungsrückstände«: Deutschland weist ein Schulsystem auf, in dem die Kultusministerkonferenz bis 2025 mindestens 25000 Lehrer zu wenig zählt, nach anderen Prognosen werden es noch erheblich mehr sein. In Nordrhein-Westfalen wird »die Versorgung mit Biologie-Lehrkräften bis 2030/31 nur zu 39 Prozent, in Mathematik zu 37 Prozent, in Chemie zu 26 Prozent, in Physik zu 18 Prozent, in Informatik zu 4,6 Prozent und in Technik nur zu 3,6 Prozent gedeckt, ergab eine Studie im Auftrag der Telekom-Stiftung«. [174]
Angesichts dieser Bildungskatastrophe werden wie üblich »Notmaßnahmen« gefordert, also keinesfalls Grundsätzliches, ein Reset des kompletten verfahrenen Bildungs- und Schulsystems. Und jede und jeder weiß doch, wenn es erst mal so weit heruntergewirtschaftet ist wie jetzt, ist die Reparatur die Dauermaßnahme. Die Opfer sind die Kinder.
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind im Deutschland der Gegenwart eine multipel benachteiligte Gruppe: Sie haben vielfach unter dem Personalmangel in Kitas und Schulen zu leiden, die Gebäude, in die man sie zu Zwecken des Lernens einlädt, sind vielfach marode und in Zuständen, die keine der Standards kennen, die gerade in Deutschland das Errichten oder Renovieren von Bauten so aufwendig und teuer machen. Von der Groteske zu reden, dass es in vielen Schulen kein funktionierendes Wlan gibt und dass seit dem Digitalpakt Zigtausende von Laptops unbenutzt vor sich hin veralten, ist müßig.
Der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer hat Deutschland in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Juni 2023 als »pädagogisches Schwellenland« bezeichnet, und man hat sich ja längst daran gewöhnt, dass der Bildungssektor in die Kategorie der Daseinsvorsorge sortiert wird, die man offenbar vernachlässigen kann. Aus sozialpsychologischer Sicht möchte ich anmerken, dass auch Gebäude und Ausstattungen einen Mitteilungscharakter haben: Sie können sagen, wir freuen uns, dass du da bist, herzlich willkommen! Wir haben alles dafür getan, dass du dich wohlfühlst, die besten Architektinnen und die hochwertigsten Materialien besorgt, denn wir brauchen dich und möchten, dass es dir in unserem Land gut geht! Sie können aber auch sagen: Weißt du, wir haben für dich nicht mehr übrig als diese versifften Klos und diese undichten Fenster. Und auch diese hastig rekrutierten Lehrerinnen und Lehrer, die noch nie eine pädagogische Fakultät von innen gesehen haben. Das reicht für dich, finden wir. Wir haben auch überhaupt keine Lust, uns an best practices aus dem Ausland zu orientieren oder den Erfolg mancher Reformschulen zur Kenntnis zu nehmen. Wir haben an euch nur insoweit Interesse, wie die Wirtschaft nach qualifizierten Arbeitskräften verlangt. Deshalb, liebe Kinder, sollt ihr gut sein, besonders in den MINT -Fächern. Was ihr sonst könnt und vor allem könntet: uns egal. Und was aus euch für Demokratinnen und Demokraten werden, auch.
Man wird sich schwertun, einen Vergleich dafür zu finden, wie niederträchtig ein ähnlich reiches Land seinen Nachwuchs behandelt. Und dass man diesem selben Nachwuchs alle ökologischen und klimatologischen Probleme aufbürdet, deren Bewältigung man selbst in eine Zukunft verschoben hat, in der man mehrheitlich schon nicht mehr da ist, darf man seit dem Verfassungsgerichtsurteil vom April 2021 [175] als rechtswidrig bezeichnen. Aber auch da ist die moralische Verwahrlosung aufseiten der Politik schon recht fortgeschritten.
Immerhin: Als zu Tadelnde kommen die Jugendlichen auch in der Politik noch vor. In der Coronakrise wurden sie, wie gesagt, als partybesessene Superspreader gegeißelt, bekamen Crashkurse im »Stoßlüften« und mussten bei Minusgraden bei geöffneten Fenstern »lernen«. Und wenn sie protestieren, gar zivilen Ungehorsam leisten, erklärt man sie zu »Taliban« (Michael Roth , SPD ), »Klima-RAF « (Alexander Dobrindt, CSU ) und vergleicht sie gar, in kompletter historischer Kenntnislosigkeit, mit politischen Schlägertrupps in der Weimarer Republik (Marco Buschmann , FDP ). Man tadelt sie, weil sie »hart arbeitenden Menschen« den Weg zur Arbeit erschweren oder eine Skulptur zum Grundgesetz der Bundesrepublik mit abwaschbarer Farbe übergießen, obwohl sie doch nur darauf aufmerksam machen, dass die Bundesregierung ihren rechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt. Die Berliner Innensenatorin Iris Spranger weist Autofahrer und Passanten, die Klimaaktivistinnen und -aktivisten treten, schlagen und von der Straße zerren, darauf hin, dass solche Selbstjustiz »leider« geahndet werden müsse.
Nun ja, zieht man die Staustatistik zu Rate, liegt das talibaneske Vergehen der Letzten Generation primär darin, wie oben schon erwähnt, den täglichen 1400 Staus in Deutschland noch einen oder zwei hinzuzufügen. Dass sie weder einen Staatsstreich noch eine Revolution planen, keinen Systemwechsel fordern und auch nicht marodierend durchs Regierungsviertel oder auch nur durch Fußballstadien ziehen, sondern lediglich die Umsetzung geltenden Rechts fordern: egal. Fußballhooligans , die jedes Wochenende Tausende von Polizeikräften beanspruchen, rituell brutalste Schlägereien veranstalten und jedem auf die Nerven gehen, der zufällig vor oder nach dem Spiel öffentliche Verkehrsmittel benutzt, gelten anscheinend als gut integrierte Staatsbürgerinnen und -bürger.
Genauso egal ist, dass die heute junge Generation es sein wird, die »Sondervermögen« dereinst abzutragen haben wird, zusätzlich zu den Staatsschulden, die infolge auch des Pandemiemanagements und der Kriegskosten inzwischen 2,57 Billionen Euro betragen; 2022 sind sie um 71 Milliarden gestiegen. [176] In summa darf man sich auch in Bezug auf diese politisch und gesellschaftlich systematisch benachteiligte Gruppe wundern, dass sie erkennbar nicht demokratiefeindlich und auch keineswegs destruktiv ist. Eine politische Würdigung dieses für die Demokratie erfreulichen Sachverhaltes erfolgt nach meiner Kenntnis nirgends.
Die Trendstudie »Jugend in Deutschland 22/23« trägt denn auch den programmatischen Titel »Die Wohlstandsjahre sind vorbei: Psyche, Finanzen, Verzicht«. Diese im Oktober 2022 erhobene repräsentative Studie mit 14- bis 29-Jährigen zeigt, dass »Lebensqualität, wirtschaftliche Lage, gesellschaftlicher Zusammenhalt und politische Verhältnisse aktuell deutlich schlechter empfunden werden als noch vor sechs Monaten«. [177] Auch die Erwartungen an die Zukunft fallen deutlich negativer aus als noch im Mai desselben Jahres. Die jungen Menschen machen sich am meisten Sorgen wegen der Inflation (71 Prozent), gefolgt vom Krieg (64 Prozent) und vom Klimawandel (55 Prozent). Was aber neben diesem Absinken eines positiven Lebensgefühls besonders auffällt: Ein Viertel der befragten jungen Menschen gibt an, »mit ihrer psychischen Gesundheit unzufrieden zu sein. Bei 16 % macht sich Hilflosigkeit breit, 10 % berichten gar von Suizidgedanken. Diese Werte sind seit der letzten Trendstudie vom Mai 2022 angestiegen. ›Bei einer erschreckend großen Minderheit haben sich die psychischen Sorgen verfestigt und verdichtet, sodass dringende Unterstützung notwendig ist. Es ist nicht zu übersehen: Bei vielen jungen Menschen sind die Kräfte der psychischen Abwehr verbraucht, und die Risikofaktoren mehren sich. Wir werten das als ein dringendes Warnsignal‹, so die Studienautoren Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann .« [178]
Klaus Hurrelmann, der wichtigste Jugendforscher in Deutschland, hatte schon während der Pandemiezeit darauf hingewiesen, dass es etwa ein Drittel besonders verletzliche Personen unter den Jugendlichen gibt, die durch Armut, Bildungsnachteile, Einsamkeit und Hilflosigkeit multipel belastet und – wie auch andere Forschungsgruppen zeigen – für populistische Politikangebote besonders empfänglich sind. [179]
Diese Befunde werden durch eine Reihe weiterer Studien bestätigt, so dass man gerade für die nähere Zukunft befürchten kann, dass eine große Gruppe der nachrückenden Generation der Demokratie regelrecht verloren geht. Welche Folgen das konkret hat – wer sich eher in anomische Zustände zurückzieht, wer sich politisch radikalisiert, wer gar zu Amoktaten oder Selbstschädigung greifen wird –, kann man heute noch nicht sagen. Dass man es hier aber mit einer deutlichen Vernachlässigung der Vorsorgepflicht des Staates zu tun hat, ist evident.
Man kann übrigens in dem vermehrten Sichtbarwerden einer Protestgeneration, überwiegend aus dem genau gegenteilig gelagerten akademisch-bürgerlichen Milieu, eine Spiegelung derselben Vernachlässigung sehen: Beginnend mit der internationalen Bewegung Fridays for Future , ihrem radikaleren Ableger Extinction Rebellion , speziell in Deutschland aber mit den Gruppen Ende Gelände und Letzte Generation zeichnet sich ein erhebliches Potenzial ab, Staat und Politik unter Druck zu setzen. Norbert Elias hat am Beispiel der Freikorps der 1920er Jahre und der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre, die dann bei einem kleinen Teil im Terrorismus kulminiert ist, dargelegt, dass es gerade auch bei nachrückenden Generationen um »Sinn« geht. »Wenn einer beträchtlichen Anzahl jüngerer Menschen […] die Sinnchancen abgedrosselt werden, dann gibt es in einer Gesellschaft eine Notlage, ein explosives Potential, das unter geeigneten Umständen immer von neuem in Bewegungen Ausdruck finden muß, die sich in einen betonten Gegensatz zu den etablierten politischen Institutionen stellen.« [180]
Wenn, wie es im Fall der Erderhitzung und der anderen ökologischen Probleme, evident zu sein scheint, dass sich die Lebens- und Überlebensbedingungen deutlich verändern werden, und die herrschenden Parteien und Akteure ganz offensichtlich die Probleme nicht angemessen adressieren, weil sie erstens noch in einer Weltsicht aus dem 20. Jahrhundert verfangen sind und zweitens von ihrem Lebensalter her nicht so hart von den ökologischen Krisen getroffen sein werden wie die Jüngeren: Dann hat man einen handfesten, der Sache nach radikalen Generationenkonflikt. Und zwar einen, bei dem man eher überrascht sein kann, wie zivilisiert und harmlos die Protestierenden noch agieren. Und bestürzt darüber, wie tölpelhaft und unangemessen die etablierte Politik darauf reagiert, indem sie die Protestierenden kriminalisiert und mit Schimpfbezeichnungen belegt und sie gar als »kriminelle Vereinigung« definiert sehen möchte. Was alles komplett unangemessen ist und hervorragend geeignet, den Generationenkonflikt massiv anzuheizen.
Es ist nur, wie auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, ein rechtliches Gebot, den nachrückenden Generationen die Freiheitschancen nicht zu blockieren, die die Vorgängergenerationen für sich in Anspruch genommen haben und nehmen. Beim gegenwärtigen Klimaprotest kommt als Pointe noch hinzu, dass der eigentliche Rechtsbruch, nämlich das ostentative Nichterfüllen der gesetzlichen Reduktionsziele, aufseiten der Regierung vorgenommen wird, nicht von den Protestierenden. Die praktizieren ein bisschen zivilen Ungehorsam, der kaum Schaden anrichtet. Auch in dieser Hinsicht befindet sich die leitbildlose Politik in einem schlafwandlerischen Zustand, in dem sie sich zu sehen weigert, wie tiefgreifend die »Abdrosselung der Sinnchancen« ausfällt, wenn junge Menschen glauben, dass sie gar keine Zukunft im hergebrachten Sinn mehr zur Verfügung haben werden. Man muss keine prophetische Gabe haben, um zu sehen, dass dieser Konflikt erst am Anfang steht.
Und ein letztes Thema, das insbesondere die Chancengerechtigkeit betrifft, die ein zentrales Element von System- und Demokratiezustimmung ist. Deutschland führt ja international in wenigen Feldern, aber bei der Bildungsungleichheit liegt es traditionell weit vorn. Dass in der Gegenwart dabei ein negativer Spitzenzustand erreicht wird, den sich so kein anderes reiches Land leistet, hat gerade das IFO -Institut gezeigt: Die Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss liegen in Deutschland, der selbsternannten Wissensgesellschaft mit den selbsternannten Exzellenzuniversitäten, zwischen den gesellschaftlichen Gruppen um 60 Prozent auseinander: »Beispielsweise«, so führt die Studie aus, »liegt die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, bei 21,5 %, wenn ein Kind mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel und mit Migrationshintergrund aufwächst. Im Gegensatz dazu liegt sie bei 80,3 %, wenn das Kind mit zwei Elternteilen mit Abitur aus dem obersten Einkommensviertel und ohne Migrationshintergrund aufwächst.« [181]
Heißt: Ein Fünftel der Kinder aus der unteren Gesellschaftsschicht erreicht das Gymnasium, aber vier Fünftel der Kinder aus der oberen Gesellschaftsschicht. Ein gravierenderes Politikversagen ist kaum vorstellbar, und einigermaßen schockierend ist, dass die Bahn weiterhin abschüssig ist: Chancengleichheit in der Bildung, was etwa seit dem Sputnikschock 1957 und dem Ausrufen eines Bildungsnotstands im Westdeutschland der 1960er Jahre ein zentrales Thema der Bildungspolitik ist und eine deutliche Milderung mit der Ära Brandt erfuhr, ist heute nicht im Entferntesten realisiert. Im Gegenteil: Der Sputnikschock lag schon fast vier Jahrzehnte zurück, als der PISA -Schock 2000 zeigte, dass in einer internationalen Schulvergleichsstudie in keinem Land der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss so eng war wie in Deutschland. Und heute? Im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB ) hat der Bildungsforscher Klaus Klemm die Ergebnisse der Schulleistungsstudien, die seither durchgeführt wurden, reanalysiert und kann für die Jahre 2001 bis 2019 keine Fortschritte erkennen.
»In den Grundschulen sieht der Bildungsforscher bei den Leistungsabständen zwischen Kindern aus der Oberschicht und aus einfachen Verhältnissen über die zwei Jahrzehnte hinweg in den Disziplinen Lesen und Mathematik insgesamt ›das Bild einer Stagnation, zum Teil aber auch das einer tendenziellen Verschärfung sozialer Ungleichheit‹. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Naturwissenschaften, bei denen seit 2007 in den Grundschulen eine leichte Abschwächung der sozialen Disparität zu beobachten sei.
Beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen sind die Ergebnisse dagegen nach wie vor alles andere als ermutigend. 2001 hatte ein Grundschüler aus der Oberschicht bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleichen Kompetenzen in Lesen und Textverständnis eine um den Faktor 2,63 höhere Chance, eine Empfehlung für den Gymnasialbesuch zu erhalten, als ein Kind aus einfachen Verhältnissen. ›Dieser Indikator sozialer Benachteiligung hat sich zwischen 2001 und 2016 kontinuierlich verstärkt: von 2,63 auf 3,37‹.« [182]
Immerhin: Mit dem »Startchancen-Programm«, das das Bildungsministerium auflegen will, sollen ab dem Schuljahr 2024/25 etwa 4000 Schulen Geld bekommen, um sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler besonders zu fördern. Damit sollen bessere Ausstattungen und Sozialarbeit an den ausgewählten Schulen bezahlt werden, außerdem soll es individuelle Budgets geben, über deren Verwendung die Schulen selbst entscheiden können. Während ich das schreibe, gibt es schon Kritik am Programm: Erstens ändere das nichts am Lehrermangel, zweitens wisse man nicht, ob es genug Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter gibt, drittens werden nur fünf Prozent der Gelder nach Bedürftigkeit verteilt, 95 Prozent dagegen nach dem »Königsteiner Schlüssel «, der sich nach dem Steueraufkommen und nach der Bevölkerungszahl der Länder richtet. [183] Was man heute schon sicher sagen kann: Das wird nichts Grundsätzliches verändern, es ist nur eine weitere Reparatur an einem marode bleibenden System.
Als Bildungsaufsteiger, der seine schulischen Chancen engagierten Lehrerinnen [184] und Lehrern und der Bildungsoffensive der 1960er und 1970er Jahre zu verdanken hat, finde ich es empörend, wie regressiv die Bundesrepublik in Bezug auf die Bildungsungleichheit ist. Willy Brandts Regierungserklärung 1969, also vor mehr als einem halben Jahrhundert, hatte diese Programmatik: »Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt. […] Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Die Schule der Nation ist die Schule. […] Die Bundesregierung wird sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, noch nicht annähernd erfüllt wurde. Die Bildungsplanung muss entscheidend dazu beitragen, die soziale Demokratie zu verwirklichen.«
Vom amtierenden Bundeskanzler habe ich in Angelegenheiten der Bildung noch nichts vernommen; seine Bildungs- und Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger hat bildungspolitisch die folgende Vision, die sie anlässlich der Vorstellung der OECD -Bildungsvergleichsstudie artikuliert, bei der Deutschland in Sachen Bildungsungleichheit wiederum hinter dem Mittelfeld rangiert: »Deutschland braucht dringend mehr berufliche und akademische Fachkräfte, um im internationalen Wettbewerb vorn dabei zu sein.« [185]
Der Unterschied im politischen Leitbild könnte nicht größer sein. Die Funktion, die Brandt der Schule emphatisch als »Schule der Nation« zuweist, und der rein instrumentelle Zweck, den zu erfüllen die heute zuständige Ministerin als ihre Aufgabe versteht. Im Grunde ist in diesem Unterschied das ganze Problem der heutigen Politik formuliert. Es geht nämlich um anderes als um »internationalen Wettbewerb«.
Es geht bei der Bildung, der schulischen zumal, um eine Bedingung der Möglichkeit der Demokratie , da diese – worauf Brandt hinweist – die Urteilsfähigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger voraussetzt. Insofern ist die Vernachlässigung der Bildungsgerechtigkeit und die Verwahrlosung des Schulsystems nicht nur Ignoranz gegenüber der wichtigsten Bevölkerungsgruppe, die eine Gesellschaft hat, sondern auch demokratievergessen , um nicht zu sagen: demokratiefeindlich.
Und damit kann ich auf das Böckenförde-Paradox zurückkommen: Wer bewohnt dieses Land, und wo findet sich die »moralische Substanz«, die die Voraussetzung des freiheitlichen Staates ist? Dieses Land wird von den unterschiedlichsten Leuten in den unterschiedlichsten Lebenslagen bewohnt, und die allermeisten sind urteilsfähig, vernünftig und realistisch. Was die Bildung und die Schulen angeht, fehlt es an Urteilsfähigkeit, Vernunft und Realismus in der politischen Klasse.
Und es fehlt der lebendigen Demokratie an Vergemeinschaftungsformen. Der Bedeutungs- und Glaubwürdigkeitsverlust der Kirchen, die Diversifizierung der Lebenswelten, die Individualisierung der Biographien und Selbstbilder, die Kommerzialisierung und Finanzialisierung noch der intimsten Emotionen – dies alles führt zu einem Mangel an dem sicheren Gefühl, Teil von etwas zu sein, von dem die anderen auch Teil sind. Institutionen der Vergemeinschaftung über die Grenzen von Klassen, Herkünften, Bildungsabschlüssen hinweg gibt es nicht mehr – mit Ausnahme der Schule. Das meinte Willy Brandt, als er formulierte: Die Schule der Nation ist die Schule. Fast jede und jeder hat eine Schule besucht, und dort kommt man, wie im Sportverein, mit Menschen zusammen, die aus anderen Teilen der Gesellschaft kommen, anders leben, die Welt vielleicht anders sehen. Diese Substanz an Zusammenleben von Verschiedenen gibt es nur noch an der Schule, und ausgerechnet die ist ein von der Politik spektakulär vernachlässigter Kernort der Demokratie .
Nicht nur der Kinder und Jugendlichen wegen, die zweifellos eine bessere Behandlung verdient haben, als die Politik ihr gegenwärtig zuteil werden lässt, bedarf der ganze Komplex von Schule, Bildung, Vergemeinschaftung einer radikalen Aufwertung – die ganze Gesellschaft braucht die Schule als Ort der Demokratie . Und als Schule der Freiheit.