10. Gesellschaft in Gefahr

Der Verlust einer gemeinsamen Welt

Abb. 13: Simon Starling: Autoxylopyrocycloboros, 2006. Das Schiff verheizen, um fortzukommen.

Was für eine merkwürdige Situation: Viele Menschen fühlen sich vom Angebot, das ihnen die politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten in Deutschland machen, nicht mehr angesprochen. Zugleich erhöhen die Polykrise und eine unzureichende Daseinsvorsorge den Stress der Bürgerinnen und Bürger und vermitteln ihnen das Gefühl, das zunehmend außer Kontrolle gerät, was ihr Land sein sollte.

Jetzt wird das Erbe von vier Jahrzehnten neoliberaler Fehlsteuerung des Staates als Erosion der materiellen und mentalen Infrastrukturen erkennbar. Wo Polizisten, Ärztinnen, Rettungspersonal oder Zugbegleiterinnen angegriffen werden, wirken die Rituale der Politik nur zynisch. Wenn Kinder keinen ordentlichen Unterricht mehr bekommen, Schwimmbäder und Krankenhäuser schließen und öffentliche Orte verwahrlosen, wächst die Enttäuschung über eine Politik, die ihre Wähler aus dem Blick verliert.

Und als würde sie all das gar nicht zur Kenntnis nehmen, kämpft die real existierende Politik gestrige Positionen gegeneinander aus, ja führt einen verbissenen Wettkampf darum, wer am längsten im vergangenen Jahrhundert bleibt. Simuliert Konzepte in endlos aufeinanderfolgenden Gipfeltreffen und kompensiert die vorhandene Ideenlosigkeit mit einem Überschuss an Moralismus . Das alles wird von einem Mediensystem unterstützt, das sich mehr für den Schauwert von Politik und für sich selbst interessiert als für das Gelingen von Gesellschaft.

Wir sehen die Fahrlässigkeit und Arroganz von wirtschaftlichen, politischen und medialen Eliten, denen die gefährlich groß werdende Distanz zu den Leuten gleichgültig zu sein scheint und die die Fühlung für die soziale Wirklichkeit im Land weitgehend verloren haben. Diese Distanz ist keine Erfindung der AfD , die nimmt nur die Chance wahr, sie zu instrumentralisieren.

Und im Hintergrund dieser Situation vollzieht sich eine radikale Veränderung in den Überlebensbedingungen der menschlichen Lebensform. Das ist die Bühne, auf der das absurde Theater einer Gegenwart aufgeführt wird, die sich vorspielt, es sei noch alles beim Alten. Die Bootsleute verheizen das Boot, das sie zum anderen Ufer bringen soll. Eine perfekte Metapher für die Gegenwart.

Eine demokratische Gesellschaft ist nie gesichert, sie bedarf der beständigen Vitalisierung, sonst gerät sie in Gefahr. Man kann am Erfolg populistischer Politikerinnen und Politiker in den USA , in Italien, in Brasilien, in der Türkei und anderswo leicht sehen, wie Gesellschaften dann ins Rutschen geraten, wenn große Teile der Bevölkerung das Vertrauen in die politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten verlieren. Das Geheimnis des Erfolgs von Leuten wie Donald Trump , wie irrational er auch erscheinen mag, liegt im Anti-Elitismus einerseits und in der Stiftung eines Zugehörigkeitsgefühls andererseits.

Schon Theoretiker wie Theodor W. Adorno oder Ernst Bloch hatten darauf hingewiesen, dass faschistische Agitatoren Erfolge und Bindungskräfte durch das Ansprechen der Gefühle und Zugehörigkeitswünsche hervorbrachten, während ihre kommunistischen Antipoden mit Zahlen und Argumenten zu überzeugen versuchten. Ernst Bloch hat in diesem Sinn einmal gesagt: »Was die Partei [sc. KPD ] vor dem Hitlersieg getan hat, war vollkommen richtig, nur was sie nicht getan hat, das war falsch.« Hannah Arendt hat die Einsamkeit der isolierten und »auf sich selbst und nichts sonst zurückgeworfenen Individuen« als Voraussetzung des Totalitarismus gesehen und von der »Heimatlosigkeit« der Menschen gesprochen, deren Zugehörigkeitsbereitschaft alle Widersprüche und Absurditäten akzeptiert, die von Populisten jeder Couleur in ihrer Version der Wirklichkeit verbreitet werden. Es ist die Zerstörung einer »gemeinsamen Welt« und einer gemeinsamen Wirklichkeit, die die Voraussetzung der Zerstörung von Demokratie bildet. [186]

Selbstverständlich ist das Deutschland der Gegenwart nicht mit den tief gespaltenen Demokratien der USA oder Brasiliens zu vergleichen. Aber es ist auch besser, man nimmt die abschüssigen Entwicklungen rechtzeitig wahr und steuert ihnen gegen, solange dazu noch Raum und Gelegenheit besteht. »Politische Systeme«, hat der langjährige Bundestagspräsident Norbert Lammert unlängst gesagt, »sind nicht unsterblich […] und Demokratien keine sich selbst erhaltenden Systeme.« [187]

Wir sehen, welche Zustimmung Rechtspopulismus und -extremismus in ostdeutschen Ländern, Landkreisen und Gemeinden bereits haben, und wir haben die Entwicklung von manifest demokratiefeindlichen und staatsgefährdenden Gruppierungen von Querdenkern über Reichsbürger bis hin zu rechtsextremen Bundestagsabgeordneten gesehen. Und wir sehen demokratiefeindliche Praktiken in der Bundesregierung und im Parlament selbst. Was bedeutet, dass wir – wie übrigens bei den anderen in diesem Buch geschilderten Problemlagen auch – uns nicht vor einem gefährlichen Prozess befinden, sondern bereits in ihm . Mit Dietrich Dörner ist es bei der Bewältigung auch dieser komplexen Situation eminent wichtig, nicht den Zustand zu regulieren zu versuchen – durch Antisemitismusbeauftragte oder Demokratieförderprogramme –, sondern den Prozess des Verlustes einer gemeinsamen Welt aufzuhalten. Und an die kritische Variable des Problems zu gehen: Das ist der erodierende gesellschaftliche Zusammenhalt, das sind die fehlenden Formen lebendiger demokratischer Vergemeinschaftung.

Der Schaden ist groß: Deutschland blickt im Jahr 2023 auf die Trümmerlandschaft einer neoliberalen Epoche zurück, die unter dem Paradigma der Kosteneffizienz die öffentlichen Infrastrukturen, die Schulen, die Bahn, den sozialen Frieden, das Image der Ordnungspolitik und das Gefühl der Menschen ruiniert hat, in einem Land zu leben, in dem es im Großen und Ganzen gerecht zugeht.

Was hat sie gebracht, diese Epoche? Eine weitgehend geräuschlos verlaufende Umverteilung von unten nach oben, eine Verschiebung von politischen Kämpfen von der materiellen auf die symbolische Ebene und eine komplette transzendentale Obdachlosigkeit, was die Gestaltung der Zukunft angeht. Der Philosoph Michael Sandel hat brillant beschrieben, wie der Neoliberalismus seit der Reagan-Ära die demokratische Kultur insofern im Kern beschädigt hat, als seither nicht mehr der Staat als ordnende Instanz der öffentlichen Angelegenheiten verstanden wird, sondern der Markt und insbesondere der Finanzmarkt diese Rolle übernommen haben. Das hat Sandel zufolge zu einem immer weiter wachsenden Gefühl der »Entmachtung« aufseiten derjenigen geführt, die nicht zu den Eliten zählen und in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten erhebliche Teilhabeverluste haben einstecken müssen. [188]

Eine »konsumorientierte Idee der Freiheit« der Wenigen hat die gemeinwohlorientierte Idee der Freiheit aller abgelöst und damit in gewissem Sinn die Idee der Demokratie selbst entwertet. Anders gesagt: Wenn die Vorstellung, »die da oben« würden sich für den Rest der Gesellschaft nicht mehr ernsthaft interessieren, keine zu schlichte Weltsicht mehr ist, sondern die Wirklichkeit abbildet, gerät die Demokratie ins Rutschen.

Die Übung, das alles wieder in Ordnung zu bringen, wird innerhalb des gegebenen Zustands gar nicht gehen. Man kann vieles, was kaputt gemacht wurde, nicht schnell wieder in tadellose Funktion versetzen, insbesondere wenn es sich um komplexe Infrastruktursysteme handelt. Vieles ist aber auch gar nicht mehr zu retten; man muss, was wegen Überforderung durch die Wirklichkeit nicht mehr funktioniert, einfach schließen und nie wieder aufmachen. Das Beschaffungsamt der Bundeswehr in Koblenz sollte man zu einem Denkmal einer sich selbst lahmlegenden Merkblätter-Autokratie weihen, seine 12000 Beschäftigten in gläsernen Büros bei der Arbeit ausstellen, so ähnlich, wie Volkswagen ein paar Jahre vor dem Untergang der deutschen Autoindustrie die Produktion des Luxuswagens Phaeton in einer gläsernen Manufaktur in Dresden simuliert hat. Ein Fake, wie so vieles andere mittlerweile.