Welches Land wollen wir sein? Oder: Orte des Zusammenhalts

In der Zwischenzeit sortieren wir, was institutionell funktioniert und wie man die Institutionen, die öffentlichen Einrichtungen, die Schulen und Universitäten als zentrale Orte der lebendigen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung aufwerten kann. Damit die Leute, die dort arbeiten, die guten Arbeitsbedingungen haben, die sie brauchen, um die Bürgerinnen und Bürger, auch die künftigen, gut zu behandeln. Und wir schaffen noch ein paar neue Orte, wie wir sie für eine Demokratie im 21. Jahrhundert brauchen.

Ort 1: Schule des Zusammenhalts

Wenn Willy Brandt mit seinem Diktum »Die Schule der Nation ist die Schule« richtig lag, dann gilt das auch andersherum: Die Probleme der Schule sind die Probleme der Nation. Tatsächlich sind die Schulen ja die Orte der Zukunft, nicht nur (und heute schon gar nicht) auf der Ebene der Inhalte, sondern als die der Idee nach klassenlosen Orte der Vergemeinschaftung der jeweils nächsten Generation. Als solche sind sie die letzten ihrer Art: Die Kirchen haben ihre Rolle als schichtübergreifende Vergemeinschaftungsorte mehr und mehr eingebüßt, und das wird weitergehen. Die Zahlen zur Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts (vgl. S. 15) zeigen, dass jenseits von Reden und Gipfeln kaum konkrete Maßnahmen ergriffen werden, ihn zu fördern. Die Förderung von Zusammenhalt geht in einer Kultur, in der immer mehr Kommunikationen ins Digitale verlegt werden, nur analog. Eine vitale Demokratie braucht lebendige Orte, an denen Vergemeinschaftung konkret und klassenlos stattfinden kann. Der einzige Ort, an dem Vergemeinschaftung jenseits von Unterschieden in Religion, Geschlecht, Einkommen, Schicht usw. noch aktiv stattfindet, ist die Schule.

Sie ist, wie gezeigt, in unserer Gegenwartsgesellschaft ein radikal vernachlässigter Ort, könnte aber eine zentrale Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen, wenn man sie anders denkt: Indem man die Schule – wie früher die Kirchen – in das Zentrum der Gemeinden, Bezirke und Stadtteile rückt und ihre Funktion zu der von community centers, Gemeinschaftszentren, erweitert. Dabei bildet die Schule im ursprünglichen Sinn das Zentrum dieses neuen Ortes, aber um sie herum lassen sich die unterschiedlichsten Einrichtungen gruppieren – von der Volkshochschule über das Jugendzentrum, das Reparaturcafé, den öffentlichen Raum mit Aufenthaltsqualität, die Kiezkantine: was auch immer die Funktionsorte nichtkommerzieller Vergemeinschaftung sind. Denn weder existieren heute, abgesehen von Parks und Plätzen, noch öffentliche Orte, an denen man ohne Verzehr- und Kaufzwang einfach nur sein, sich mit anderen treffen, sitzen, abhängen und schauen kann. Noch existieren Orte, die für alle gedacht und gemacht sind, von der Obdachlosen über Jugendliche bis hin zu Erwachsenen ohne besondere Eigenschaften. Um die Schule als Zentrum eines solchen öffentlichen Ortes würden Räume oder Häuser mit vielfältigen Funktionen gegliedert, Sporthallen, Seminarräume, Auditorien – kurz, eine Agora neuen Typs, die multisozial ist, weil sie multifunktional zu nutzen ist. Überdacht.

Wie alle guten Ideen haben diese auch schon andere gehabt, etwa in der Definition der Schule als community hub oder in der Idee der multifunktionalen Gebäude, in denen dieselben Räume für unterschiedliche Gemeinschaftszwecke genutzt werden können. In Tirana etwa hat die Architektengruppe Studioarch4 ein Konzept für ein solches community center entwickelt und umgesetzt. [189] An solchen Beispielen und Erfahrungen kann man ansetzen, wenn man etwas Ähnliches für Deutschland entwickeln will. Interessant wäre unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit und Zentralität zu prüfen, ob sich etwa leerstehende Kaufhäuser für eine entsprechende Nutzungsinnovation eignen, oder auch entweihte Kirchengebäude, wie sie in Deutschland recht zahlreich angeboten werden.

Man bekäme auf diese Weise: erstens ein klassenloses Zentrum der Gesellschaft. Zweitens einen symbolischen Ort für die Definition der demokratischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts als eine lernende Gesellschaft , die erschließen will und muss, wie sie zivilisiert überleben kann. Drittens einen Ort der analogen Vergemeinschaftung, der nicht durch kommerzielle Vorgaben definiert ist. An dem alle teilhaben können und der das notwendige Gefühl konkretisiert, Teil von etwas zu sein, von dem die anderen auch ein Teil sind. Die Schule wird zum zentralen Ort der Demokratie im 21. Jahrhundert.

Ort 2: 80/20

Diese Idee einer Gruppe meiner Studierenden an der Uni Sankt Gallen zur »Zukunft der Solidarität« ist zwar schon einige Jahre alt und noch nicht umgesetzt, aber immer noch gut. [190] Der Ausgangspunkt ist, dass es schon eine ausgesprochen große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern gibt, die sich in irgendeiner Weise ehrenamtlich engagieren. Aber: Man braucht für das ehrenamtliche Engagement Zeit, Geld, soziale Unterstützung, Gelegenheiten. »Solange die Grundproblematik existiert«, schrieb die Arbeitsgruppe, »dass eher Menschen mit höherer Bildung und stärkerer finanziellen Stabilität es sich leisten können, sich stärker für eine Freiwilligentätigkeit zu engagieren, ist von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gefordert, allen Menschen gerechte Chancen zu ermöglichen, etwas Gutes für unsere Gemeinschaft zu tun.« [191]

Die Idee der Studierenden: eine Quote für das soziale Engagement. Mindestens 20 Prozent der Ausbildungs- und Arbeitszeit sollen der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Verfügung stehen, und zwar vom Kindergarten bis zum Ruhestand. »Wir gehen davon aus, dass sich grundsätzlich viel mehr Menschen sinnvoll engagieren möchten, ihnen jedoch die Zeit dazu fehlt oder sie es sich finanziell nicht leisten können. In erster Linie sind sie damit beschäftigt, ihre Existenz langfristig abzusichern und ihre engeren Beziehungen zu pflegen. Um den bisherigen Lebensstandard der Menschen zu halten, wird in unserem Modell bei einem 80-Prozent-Pensum weiterhin der volle Lohn ausbezahlt. Die solidarische Tätigkeit, also die 20 Prozent, werden vom Staat über Steuergelder an den Arbeitgeber als Ausgleich gezahlt. Unternehmen gewinnen hier in zweierlei Hinsicht: Einerseits profitieren sie von staatlichen Subventionen, andererseits ist zu erwarten, dass bei einem 80-Prozent-Pensum die Produktivität nicht ab-, sondern sogar zunehmen wird, weil Arbeitnehmende zufriedener und gesünder sind.«

Im Gegenzug zur gesellschaftlichen Wertschöpfung durch ehrenamtliche Tätigkeit bekommen die Bürgerinnen und Bürger nach diesem Modell ein Grundeinkommen und kostenlosen Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen.

Das soziale Engagement kann so stattfinden, wie es am besten zu den Fähigkeiten, Werten, Lebensentwürfen und Lebensphasen der Einzelnen passt. Angebot und Nachfrage werden über Plattformen und soziale Netzwerke reguliert. Der Charme der 80/20-Idee liegt darin, dass ein Gegenmodell zur individualisierten Wettbewerbskultur entworfen wird, das nichtmonetäres Engagement für andere als ganz selbstverständlichen Teil des Alltags und der Lebenswelt vorsieht. Das dürfte das gesellschaftliche Grundklima genauso verändern, wie es die individuellen Erfahrungsräume erweitert. Vergemeinschaftung findet statt, wenn man als Unternehmensberaterin einen Tag die Woche im Hospiz arbeitet oder als Hausmeister für die Kita. Die Gesellschaft wird durchlässiger, der Zusammenhalt schon dadurch gestärkt, dass man fast zwangsläufig die Welt auch mit den Augen von anderen zu sehen lernt.

80/20 betrifft den gesamten Lebenslauf:
Kindheit

Die Arbeitsgruppe geht davon aus, dass das ehrenamtliche Engagement gleich mit der Einschulung beginnt und neben die konventionellen Lernziele tritt. Dabei ist es vom jeweiligen Engagement abhängig, ob die 20 Prozent auf einen Tag oder verteilt auf die Woche fallen – regelmäßige Besuche im Seniorenheim etwa bedingen eine andere Zeitstruktur als eine Kleidersammelaktion. Die Kinder sollen aber nicht einfach auf die ehrenamtlichen Tätigkeiten losgelassen werden, sondern auch handwerkliche und soziale Fähigkeiten lernen, die ihnen bei der Hilfe helfen. »Das Angebot für Kinder und Jugendliche könnte Kochkurse gegen Lebensmittelverschwendung, Gärtnern, Musikunterricht und vieles mehr beinhalten. Mit dem Alter wachsen dann die Verantwortung und die Komplexität der Aufgaben.«

Lebensmitte

Nach Schulabschluss, Lehre oder Studium wird das 80/20-Konzept in der Arbeitswelt fließend weitergeführt. Die Arbeitgeber sind verpflichtet, ihre Beschäftigten für solidarische Tätigkeiten freizustellen, für ein Fünftel der Arbeitszeit. Der Lohn bleibt auf gleichem Niveau, wodurch der Zugang zu solidarischem Engagement gleich verteilt wird. Auch Mitarbeitende in Unternehmen haben die Wahl, ihre solidarischen Zeiten am Stück oder verteilt auf bestimmte Zeiträume zu nehmen. Dabei gelten die 20 Prozent als Minimum, das die Beschäftiger fördern müssen; natürlich können sie die Quote auch freiwillig erhöhen. »Hohe Flexibilität beim Solidaritäts-Pensum erhöht die Attraktivität der Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt. Auch Leerlaufzeiten bei Mitarbeitern, die sonst im Büro ›abgesessen« worden wären, können auf diese Weise produktiver genutzt werden.« Selbständige bekommen eine Kompensation für ihr ehrenamtliches Engagement. Insgesamt erzeugt das 80/20-System erheblich mehr Flexibilität in der Gestaltung von Arbeits- und Lebenszeit, verflüssigt das bis dato vielfach starre System von Arbeits- und Freizeit und wertet Beziehungs- und Sorgearbeit gegenüber dem bestehenden System stark auf.

Letztes Lebensdrittel

Auch mit dem Eintritt ins Rentenalter wird die solidarische Tätigkeit weitergeführt. Das Ehrenamt wirkt sinnstiftend und gibt dem Alltag Struktur. »Mit dem Auszug der Kinder und dem Eintritt in die Rente stehen ältere Menschen vor der Herausforderung, eine radikale Umstellung von einem fremdbestimmten zu einem selbstbestimmten Alltag zu vollziehen. Viele Strukturen und soziale Kontakte, die das Leben vorher geprägt haben, fallen weg.

Wird solidarische Arbeit auch im Alter gesellschaftlich breit verankert, können die Zugangschancen zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft gerechter verteilt werden und wir können Ältere wieder in die Mitte der Gesellschaft bringen. Sie werden mit fortschreitendem Alter nicht lokal ausgegrenzt und in Altersheimen untergebracht, sondern von Mitgliedern ihrer Gemeinschaft unterstützt, falls der Alltag allein schwierig zu bewältigen wird.«

Besonders an diesem Lebensabschnitt wird deutlich, dass Engagement keine rein altruistische Angelegenheit ist, sondern auch für die Helfenden positive Funktionen hat: Das Gefühl, gebraucht zu werden, wirksam zu sein, in ständigem Austausch mit anderen zu stehen – alles dies sind Aspekte, die als positiv und sinnstiftend erlebt werden. Und: Auch Ärger über andere, wenn etwas nicht funktioniert, gehört zum Lebensgefühl, integriert zu sein und dazuzugehören.

80/20 vereinigt wie die Schule des Zusammenhalts viele sinnvolle Aspekte gleichzeitig in einem Konzept: Erstens ist es ein Moment der Sinngebung, da das soziale Engagement neben die eigentliche Erwerbsarbeit bzw. Ausbildung tritt und deren etwaige Bullshit-Elemente kompensiert – wenn schon der Job mir nichts gibt, freue ich mich umso mehr aufs Ehrenamt. Zweitens ist sie eine effektive Maßnahme gegen Vereinzelung, Atomisierung und Filterblasenexistenz. Drittens ist sie ein Training in Empathie und sozialer Intelligenz und stärkt damit die persönlichen Fähigkeiten. Viertens vermittelt sie das Gefühl von Selbstwirksamkeit und wird als positiv erlebt. Fünftens trägt sie zur gesellschaftlichen Wertschöpfung und Wertschätzung bei. Sechstens verändert sie das gesellschaftliche Klima und damit die individuellen Orientierungen, die in der Wir-Ich-Balance stärker auf das Wir gelegt werden.

Ort 3: Anlasslose Vergemeinschaftung

In dem 2016 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Spielfilm »Ich, Daniel Blake« kämpft ein wegen eines Herzinfarktes arbeitsunfähiger Zimmermann mit den britischen Sozialbehörden. Und verliert. Der Film beschreibt einen Kampf nicht um Geld, sondern um Würde . Und es ist, scheint mir, die Würde, die das neoliberale Regime den Menschen erst nehmen muss, um sie gefügig für all den Quatsch zu machen, den es stattdessen anzubieten hat – Wettbewerb, Aufstieg, Konkurrenz um die größten Mittel zur Zerstörung. Als ihm, Daniel Blake, die Demütigungen auf dem Arbeitsamt zu viel werden, geht er nach draußen und sprüht den folgenden Text als Graffiti an dessen Fassade: »Ich, Daniel Blake, fordere meinen Widerspruchstermin, bevor ich verhungere. Und ändert die Scheißmusik im Telefon!«

Und schon hätten wir – Sie, die Leserinnen und Leser dieses Buches, Daniel Blake und ich – eine überraschende Gemeinsamkeit: Wir alle hatten noch nicht eine Sekunde im Leben Lust darauf, uns die Scheißmusik der entwürdigenden Warteschleifen anzuhören, die es nur deshalb gibt, weil Unternehmen und Verwaltungen aus Gründen der Kosteneffizienz die stetige Absicht hegen, Menschen schlecht zu behandeln. Überhaupt, so zeigt das Beispiel der allgegenwärtigen Warteschleifen, geht der Wunsch nach Kosteneffizienz prinzipiell damit einher, dass Menschen schlecht behandelt werden. Inzwischen dürfen Sie sich als Mensch nicht einmal mehr die Hoffnung machen, nach all der Scheißmusik und all den beschissenen Zwischenansagen (»Wussten Sie schon, dass Sie auch online…«) einen anderen Menschen sprechen zu können, sondern man mutet Ihnen zu, mit einem Bot, also einem Algorithmus zu kommunizieren. Als wären Sie ein kompletter Idiot. Und als wären Sie nicht einmal mehr das, müssen Sie bei Ihrem innigsten Wunsch, dafür zu bezahlen, dass Sie gerade als kompletter Idiot behandelt wurden, erst mal nachweisen, dass Sie »kein Roboter« sind. Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass eine Kultur, die an diesem Punkt angekommen ist, keine Zukunft hat.

Aber zurück zu Daniel Blake, der wie alle Heldinnen und Helden in den Filmen des Sozialisten Ken Loach auf seiner Würde besteht: Wenn es die Voraussetzung der Maximierung von Effizienz zu Zwecken der Steigerung des Mehrwerts ist, den Menschen die Würde zu nehmen, dann muss man sie zuvor möglichst weitgehend vereinsamen, voneinander isolieren. In Zeiten der Digitalisierung von Allem und Jedem gelingt dies in umfassendem Maße, und auch wenn die sogenannten sozialen Netzwerke in totalitären Staaten oft die Instrumente zur Organisation von Protest bilden, sind sie generell doch ein Mittel, die Menschen zu dissoziieren, von Vergemeinschaftung abzuhalten. Und sie algorithmisch in die berühmten Filterblasen einzusperren, in denen sie in perfekter Redundanz permanent gespiegelt bekommen, was sie ohnehin schon denken und glauben.

Es ist übrigens interessant, dass diese unheimliche invasive Herrschaftstechnik der Algorithmisierung des Lebens und der Vereinzelung der Menschen keine Protestbewegung gegen sich erzeugt, obwohl sie in vielerlei Hinsicht lebensfeindlich und entwürdigend ist. Stattdessen wird die Ausstattung der Lebenswelt mit Sensoren und Überwachungstechnologie aller Art unbeschadet von jeder politischen Debatte zu ihrem erstens demokratiefeindlichen und zweitens gesundheitsschädlichen Potenzial flächendeckend exekutiert. [192] Im Unterschied etwa zu kommunalen Planungsvorhaben ohne jede Partizipations- und Widerspruchsmöglichkeit aufseiten der Bürgerschaft. Hierhin gehört etwa das Phänomen, dass man die – wie neuere Studien durchaus nahelegen – Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Funkzellen in den Bereich der Esoterik und Spinnerei abdrängt, um in aller Selbstverständlichkeit und ohne jede öffentliche Begründung in der Mobilfunktechnik permanent aufzurüsten. Neben- und Fernwirkungen tun wieder einmal nichts zur Sache. [193] Im Namen der Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit lassen sich hier wirtschaftliche Chancen unauffällig und gleichsam nebenbei realisieren, ohne dass nach einer Folgenabschätzung auch nur gefragt würde.

Bei aller Durchsetzungsmacht der Tech-Konzerne wäre in einer Demokratie daran zu erinnern, dass es die Gesellschaft ist, die den Gebrauch definiert, den sie von einer Technologie machen möchte. Und nicht die Technologie, die definiert, welchen Gebrauch sie von der Gesellschaft machen möchte. In diesen Formenkreis gehört auch die permanente Belästigung durch Cookies, Updates, Erinnerungen, Hinweise und Werbung, Werbung, Werbung, was das Prinzip der Entwürdigung so alltäglich macht, dass man seine Niedertracht gar nicht mehr bemerkt. Oder denkt, es sei nur ein eigenes, privates Problem, dass einen all das porös macht.

Kurz: Neben- und Fernwirkungen der digitalen Transformation sind zum einen die dauernde Anforderung, sich mit all den vorgeblichen Innovationen, Disruptionen und Angeboten zur Verbesserung von irgendwas zu befassen, also eine dauernde Ablenkung. Und zum anderen die Dissoziation, also die Verhinderung von Vergemeinschaftung. Dabei braucht eine Demokratie neben einer unbegrenzten Menge digitaler »Communities« vor allem eine analoge Form des Zusammenkommens. Das ist die anlasslose Vergemeinschaftung. Sie bedeutet, zwanglos und ohne Angst vor persönlichen Unterschieden zusammenkommen zu können.

Die hat in Vereinen, NGO s, Kirchen, Tafeln, Schwimmbädern usw. konkrete Orte der Ausübung sozialer Aktivitäten, besser: der Einübung des Sozialen. In »Ich, Daniel Blake« gibt es eine sehr berührende Szene, in der die völlig verarmte, alleinerziehende Katie beim Auswählen von Lebensmitteln bei einer Tafel plötzlich eine Dose baked beans öffnet, ihren Inhalt in sich hineinstürzt und sich zu ihrer großen Beschämung dabei bekleckert. Anrührend ist das nicht nur deshalb, weil sie – die Bewohnerin eines reichen europäischen Landes – weinend sagt: »Ich hatte so einen Hunger«, sondern weil alle, die Zeugen dieser eigentlich peinlichen Situation sind, sich sofort um Katie kümmern, ihr Tücher zum Abwischen reichen, Wasser holen und ihr sagen, dass nichts daran schlimm ist. Das ist das lebendige Soziale, und ohne das lohnt erstens das Leben nicht und kommt man zweitens nicht durch das 21. Jahrhundert.

Abb. 14: Anlasslose Vergemeinschaftung: Ohne Angst verschieden sein.

Für das lebendige Soziale muss es Gelegenheitsstrukturen geben – das Gartenfest, das Straßenfest, die Nachbarschaft, die Gemeinschaftsflächen in Mehrfamilienhäusern, die Schwimmbäder, das Theater, das Gemeindezentrum usw. Aber davon muss es mehr geben. Und was es da mehr geben muss, lässt sich ohne weiteres mit der Notwendigkeit in Einklang bringen, nachhaltiger zu leben.

Ein Beispiel: Man kann über die Zukunft der Mobilität so reden, dass alles bleiben wird, wie es ist, außer, dass man die Antriebe der Fahrzeuge verändert: statt fossil auf elektro. Der Energieverbrauch, der Flächenbedarf, der Rohstoffaufwand für die individuelle Mobilität bleibt dabei konstant oder steigt sogar. Die Begegnungsflächen für das lebendige Soziale bleiben weiterhin durch motorisierten Individualverkehr zerschnitten, die Öffentlichkeit ein potenziell gefährlicher Ort, der durch den Autoverkehr bestimmt ist.

Man kann über die Zukunft der Mobilität aber auch so reden, dass man – wie im österreichischen Krumbach – die Fahrerei zu zwanzig Kilometer entfernten Einkaufscentern vermeidet, indem man im Ort einen Lebensmittelladen subventioniert. Das spart Wege, liefert aber zugleich einen sozialen Treffpunkt, einen Ort für anlasslose Vergemeinschaftung. Wenn man das Ganze noch mit einem sehr schönen Konzept für den öffentlichen Nahverkehr verbindet, wie es in Krumbach ebenfalls der Fall ist, schafft man Lebensqualität, indem man Aufwand nicht erhöht, sondern verringert. Um solche Strategien muss es in Zukunft gehen. Was man dafür braucht, ist nicht so sehr technische Intelligenz, sondern soziale. Die hat ihren Wert nicht in sich, sondern findet ihren Maßstab in der Ermöglichung guten Lebens in der Zukunft. Als solche muss sie Teil des Leitbilds der Politik der Gegenwart sein.

Andere Potenziale für die anlasslose Vergemeinschaftung liefern Portale wie nebenan.de, die nicht kommerziell vorhandene lebendige Sozialität organisieren. In diesen Formenkreis gehören etwa auch Gemeinschaftsgärten, Flussschwimmbäder, Markthallen und Wochenmärkte – ein riesiges Spektrum, das aber neu in seiner Bedeutung für eine lebendige Demokratie wahrgenommen und gefördert werden muss. Und auch öffentliche Gelegenheiten für die Verhandlung der Dinge, die das Gemeinwesen betreffen, zum Beispiel Town-Hall-Debatten. Als im Spätsommer 2015 die sogenannte Flüchtlingskrise begann, haben wir die »Initiative Offene Gesellschaft « gegründet, die überall im Land in Theater, in das Audimax der Universität, in die Aula der Schule usw. zu Debatten unter der Frage »Welches Land wollen wir sein?« eingeladen hat. Das Format war simpel: Überall begannen zwei oder drei ortsbekannte Menschen – der Fußballtrainer, die Landrätin, die Schriftstellerin – mit kurzen Statements zu eben dieser Frage, welches Land sie bewohnen wollten, und dann begann der Saal zu diskutieren. Das funktioniert unaufgeregt und sehr inspirierend auch mit vielen hundert Leuten im Auditorium, wie in Frankfurt im Schauspielhaus, in Berlin im Deutschen Theater, in Flensburg im Audimax oder andernorts im Gemeindehaus. Ein anderes Format, das die »Offene Gesellschaft« entwickelt hatte und das überall ohne großen Organisationsaufwand durchgeführt werden konnte, waren große öffentliche Dinner, zu denen jede und jeder eingeladen war. Im ersten Jahr, am 17. Juni 2017, gab es fast 500 solcher öffentlichen Dinner im ganzen Bundesgebiet. Verwandte Formen gibt es etwa mit »Weltreise durch Wohnzimmer e.V.«, Erzählcafés usw.

Alles dies sind Formate der Assoziation jenseits von Kaufzwang, Mitgliedschaft und der berühmten »Vernetzung«: Menschen kommen zusammen aus dem einfachen Grund, dass es gut ist, zusammenzukommen. Politisch gewendet können analoge Vergemeinschaftungen jene moralische Substanz stiften, wie sie Böckenförde im Sinn hatte. Man kann umgekehrt sagen: Je mehr Vergemeinschaftung durch Vereinzelung gefährdet wird, durch die Dissoziation der Menschen im Netz, durch Überwachungskapitalismus und Finanzialisierung aller denkbaren Aktivitäten, desto mehr muss Sorge dafür getragen werden, dass es analoge Orte der lebendigen Begegnung gibt. Dazu gehören übrigens auch Kneipen, Kioske, Schützenfeste. Bier gibt es nur analog, nie digital.

Ort 4: Gute Orte

Die Erosion des Gemeinsamen lässt sich auch daran verdeutlichen, dass unsere Kultur keinen Wert mehr darauf legt, generativ zu planen. Während wir Dombauten im Land haben, die 1000 Jahre alt sind, Parkanlagen, die Hunderte von Jahren überdauert haben, Orte, die es schon im Mittelalter oder in der Antike gab, wird heute nichts für die Dauer geplant, gebaut oder angelegt. Die immer weitere Verkürzung der Produktzyklen in der Warenproduktion hat sich auf die einst langlebigen Güter übertragen. Der Sog der ständigen Optimierung führt neben der steuerlichen Abschreibung dazu, dass hochtechnisierte Gebäude schnell veralten und erneuerungsbedürftig werden. Im Moment sind es gerade die in den 1980er Jahren errichteten Verwaltungseinrichtungen, Rathäuser und Funktionsgebäude, die abgerissen werden, weil sie die Anforderungen an die vielfältigen Standards von heute nicht mehr erfüllen.

Der Wert des Materials und der Energie, die in die Gebäude gesteckt wurden, wird annulliert; Geschichte ist keine Kategorie. In aller Absurdität werden dazu künstliche Altstädte in Frankfurt oder pseudoklassizistische »Townhouse«-Siedlungen in Potsdam errichtet, und immer noch wird eine gigantische Flächenversiegelung für »Feng-Shui«-Siedlungen mit Einfamilienhäusern von der Stange betrieben, in denen in 30 oder 40 Jahren niemand mehr wohnen wird. Und nicht zuletzt werden Siedlungen und Städte immer noch nicht für ein Leben im Klimawandel geplant, der ja zu erheblichen Verschiebungen in der Bewohnbarkeit von Landstrichen und Regionen führen wird. Einfach gesagt: Wenn man es in Kiel noch in 20 Jahren im Sommer gut aushalten können wird, wird das in Stuttgart nicht mehr der Fall sein.

Die neuen Imperative, die der Klimawandel für die Zukunft des Lebens und Arbeitens mit sich bringt, haben zwei Seiten: Zum einen müssen die Gebäude und die Infrastrukturen widerstandsfähiger werden, die Städte hitzetauglicher und wasseraufnehmender. Zum anderen gehört zur Nachhaltigkeit zwingend die Verringerung von Aufwand und damit ein neues Bewusstsein von Zeitlichkeit. Ein Gebäude, sei es eine Scheune oder ein Dom, ist per se nachhaltig, wenn es Hunderte von Jahren genutzt werden kann. Und es wird Hunderte von Jahren nur dann genutzt werden können, wenn die Qualität seiner Materialien und seiner Errichtung genau darauf ausgelegt ist, dass es Hunderte von Jahren genutzt werden soll.

Und damit leuchtet sofort ein, dass das nicht nur funktionale, sondern auch ästhetische Fragen betrifft. Warum gibt es Orte, Plätze, Gebäude, Parks, in denen wir uns noch Hunderte Jahre nach ihrer Planung, also zu einer ganz anderen Zeit, gut fühlen? Warum umgekehrt Plätze, Parks, Gebäude, Wohngebiete, in denen wir uns von Anfang an schlecht fühlen, unbehaust, abgewiesen, »fehl am Platz«? Stellen Sie sich mal auf den Alexanderplatz in Berlin oder vor das Humboldt Forum, das in der Fake-Architektur eines nachgebauten Stadtschlosses beheimatet ist – Sie werden sich nicht gut fühlen. Was Sie daran merken, dass Sie sich nicht setzen, nicht verweilen wollen. Stellen Sie sich dagegen mal in das »Ingenhoven-Tal« in Düsseldorf, das zwischen dem »Dreischeibenhaus« von 1960, dem Schauspielhaus von 1970 und dem neuen »Hainbuchenhaus« von Christoph Ingenhoven entstanden ist. Sie wollen dort nicht gleich wieder weg, sondern bleiben.

Abb. 15: Ein schönes Tal. Düsseldorf, Innenstadt.

Hier ist etwas Menschengerechtes mitten in einer ansonsten nicht besonders schönen Stadt entstanden, unter kluger Einbeziehung dessen, was schon da war und in seiner Qualität auch weitere Generationen überdauern kann. Das nenne ich einen »guten Ort«. Acht Kilometer Hainbuchen auf dem Dach und als Fassade sind gewaltig, deuten aber an, dass man ein Haus in Zeiten des Klimawandels nicht nur nach funktionalen Kriterien anders denken kann, sondern auch nach solchen der Schönheit.

Als ich vor einigen Jahren in der Probstei Sankt Gerold in Vorarlberg war, erklärte mir der Probst Pater Martin, es handele sich um einen guten Ort. Weil es ihn schon seit 800 Jahren gebe, beweise sich das gleichsam von selbst: Schlechtes überdauert solche Zeiträume nicht. Kein Zufall, dass hier Therapien für schwer traumatisierte Kinder angeboten werden, wobei die hauptsächliche therapeutische Arbeit Pferde übernehmen, die den Kindern überhaupt wieder eine Annäherung an eine Welt bahnen, die nicht feindlich ist. Man kann das nicht im Einzelnen beschreiben, man muss vor Ort sein, um zu fühlen, was da gut ist. Gute Orte sind analog.

Ort 5: Ein Leitbild

Ein politisches Leitbild ist kein Gesetzbuch, kein Register von Grundsätzen. Es ist etwas, das mit wenigen Begriffen auskommt und verstanden wird, weil es sich in der gelebten Wirklichkeit spiegelt. Ein Leitbild für die Demokratie im 21. Jahrhundert muss von der Frage ausgehen, welches Land man sein will. Wünschenswerter wäre eine Formulierung, die den unseligen Nationalismus und die letztendlich verhängnisvolle Rede von der »nationalen Souveränität« überschreitet, aber so weit sind wir leider noch nicht.

Und wenn man ein Land sein will, das auf die zivilisatorischen Güter Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit stolz ist und zudem staatliche Daseinsvorsorge gut findet, dann muss die Politik sagen, dass es die Wohlstandsgewinne wie bisher nicht mehr geben wird, sondern ganz im Gegenteil Wohlstandsverluste. Die schon zuvor bestehenden Ungleichheitslagen dürfen dabei nicht vertieft, sondern müssen im Gegenteil – wenn alle weniger haben – gemildert werden. Das gehört zu dem Grundsatz, dass die Gesellschaft insgesamt – im Angesicht von wachsendem Umweltstress und größerer Planungsunsicherheit – resilienter werden muss. Sie braucht mithin resiliente Bürgerinnen und Bürger, also solche, die ihre Gesellschaft für wert halten, für sie einzutreten und etwas für sie zu tun.

Dies bedeutet in diesem Jahrhundert auch: etwas für die Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft und Wirtschaft zu tun, also sich von der Leitkultur der Verschwendung zu verabschieden. Wir brauchen nicht nur eine wertebasierte Außenpolitik, sondern eine wertebasierte Wirtschafts- und Innenpolitik. Nachhaltigkeit ist die einzige Überlebensstrategie, die wir haben (Annette Kehnel). Die Abkehr von der Leitkultur des Wachstums und der Verschwendung ist ein avantgardistisches Programm, bei dem andere Staaten nicht mitgehen werden, aber da wir uns unausweichlich – und spätestens mit dem erwartbaren chinesischen Überfall auf Taiwan – in einem Prozess der De-Globalisierung befinden, kann man das als Nation auch schon mal allein anfangen. Wie der Brexit gezeigt hat, ist die Europäische Union in ihrem Bestand und ihren Verfahren keineswegs gesichert, schon gar nicht, wenn man sie aus aktuellen Scheinnotwendigkeiten um Beitrittsländer erweitert, die die vereinbarten Kriterien als Kriegsfolgengesellschaften gar nicht erfüllen können und für den notwendigen Integrationsprozess einer ohnehin politisch auseinanderdriftenden Europäischen Union kontraproduktiv sind. Man sollte also für die weitere Entwicklung es zwar für wünschenswert halten, aber nicht darauf bauen, dass dieses Bündnis für immer besteht, sondern auch hier Politiken verfolgen, die einen im Konfliktfall nicht daran hindern, eigene Entscheidungen zu treffen. Auch dies kann unter Bedingungen künftig zunehmender Stressoren der Demokratie wichtig sein.

Kontraintuitiv daran ist, dass man bislang eine Entwicklung hin zu größeren politischen Einheiten angestrebt und Fortschritt in der Installierung immer weiterer wechselseitiger Abhängigkeiten gesehen hat. Das mag im Sinn des zivilisatorischen Gesamtprozesses auch weiterhin richtig sein, darf aber nicht dazu führen, dass die sich bildenden Assoziationen auch direkte Abhängigkeiten erzeugen, mithin die Handlungsmöglichkeiten im Krisen- oder Konfliktfall beschränken. Gerade ein erneuerbares Energiesystem bietet ja die Chance, sich aus vielen Abhängigkeiten, die das fossile Zeitalter mit sich gebracht hat, zu befreien (weshalb auch in dieser Hinsicht die heutige Refossilisierung ein Rückschritt ist). Kontraintuitiv ist mithin auch, dass »Energiepartnerschaften« nicht die Lösung, sondern die Fortschreibung einer für das 21. Jahrhundert unpassenden Politik darstellen.

Sofort kommt an dieser Stelle der Einwand, dass man damit ja im internationalen Wettbewerb zurückfalle und nicht mehr konkurrenzfähig sei. Da wäre die Frage, ob man das denn eigentlich will – im Falschen vorne sein und um das Falsche konkurrieren? Wenn man sich schon mal damit abgefunden hat, dass die Zeit der Wohlstandsgewinne vorbei ist, kann man die Qualität des eigenen Wirtschaftens ja auch an anderen Kriterien messen: Wie viel trägt es zur Gerechtigkeit bei? Wie nachhaltig geht es mit vorhandenen Ressourcen um? Wie widerstandsfähig sind unsere Versorgungssysteme? Wie glücklich die in diesem Land lebenden Menschen? Indizes, die das Wohlergehen einer Gesellschaft nicht am BIP messen, gibt es bereits. [194]

Das Wichtigste, was man bei all diesen nur fragmentarischen Betrachtungen über die Möglichkeiten des zivilisierten Überlebens in Freiheit festhalten muss, ist dies: dass wir keinen Bauplan, kein Rezeptwissen, ja nicht einmal eine Theorie dafür haben, wie wir zivilisiert und frei durch das 21. Jahrhundert kommen. Es geht um einen gemeinsamen Lernprozess, in dem es keine Experten gibt. Aber die Gewissheit, dass man viel gemeinschaftliche Kraft, viel soziale und moralische Phantasie und viel Rückhalt im schon Gelungenen braucht, um erfolgreich zu lernen, wie man zurück in eine wünschenswerte Zukunft kommt. Die Bedingung dafür ist die Freiheit, die wir haben. Und das ist wirklich viel.